Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua. Roger Schöntag

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Ansätze sprachlicher Elaboriertheit in bestimmten Kontexten auftreten. In Anlehnung an die bei Krefeld (1988:749–750) beschriebene „Vorausbaustufe“ und die bei Kloss (1987:304) für die deutschen Varietäten beschriebenen Phasen muß man das Lateinische dieser Epoche entsprechend der Art der auftretenden Schriftlichkeit zwischen zunächst Vorausbau und dann erster Ausbauphase situieren.

      4.1.1.2 Altlatein

      Der Beginn der zweite Periode, die des Altlateins (240 v. Chr-80 v. Chr.), wird durch die Konfrontation mit der auf literarischem Gebiet bis dahin dominierenden griechischen Kultur markiert, und zwar insofern für das „Epochenjahr“ (Albrecht 2012 I:45) 240 v. Chr. anläßlich der ludi Romani die erste Aufführung eines Dramas in lateinischer Sprache nachgewiesen ist, welches auf einer griechischen Vorlage beruhte, die durch den ersten namentlich bekannten lateinischen Dichter Livius (Livius Andronicus, 3./2. Jh. v. Chr.) umgearbeitet wurde.

      Vermutlich als griechischer Kriegsgefangener im Zuge des Krieges gegen Tarent nach Rom verschleppt, wirkte Livius zunächst als grammaticus, hatte somit im Haus seines Herrn die Aufgabe, die griechischen Literatur zu übersetzen und zu erläutern (interpretari) sowie vorzutragen (praelegere). Als Dichter schuf er unter anderem eine lateinische Adaption der homerischen Odyssee (Odusia), das wohl erste römische Epos, wobei er die griechischen Hexameter in das Versmaß des Saturnier übertrug, dazu Tragödien – vor allem Cothurnatae, aber auch Palliatae – (z.B. Danae, Equos Troianus, Achilles, Aegisthus) und zumindest eine Komödie (Gladiolus) sowie ein nicht erhaltenes carmen (207 v. Chr.) zu Ehren der Iuno Regina.

      Hervorzuheben ist in diesem Kontext, daß die Aufführung des Theaterstückes (fabula) in lateinischer Sprache auf eine staatliche Anordnung eines römischen Magistrats (Ädil) zurückgeht. Hintergrund ist die Tatsache, daß Rom als aufstrebende Herrschaftsmacht nach dem Gewinn des 1. Punischen Krieges (264–241 v. Chr.) und der Einrichtung der ersten Provinzen (Sicilia, 241 v. Chr; Corsica et Sardinia, 238 v. Chr.) als neuer politischer Machtfaktor beargwöhnt wurde und man den Römern vor allem von Seiten der hellenistischen Staatenwelt kulturelle Rückständigkeit vorwarf (cf. Baier 2010:7–11).177

      Diesen Vorwurf zu entkräften war Teil einer Staatspolitik, die damit auch gleichzeitig sprachpolitische Implikationen hatte. Modell und Maßstab mußte dabei das Griechische sein, zum einen um die Gleichwertigkeit nachzuweisen, zum anderen weil keine andere Sprache in diesem Kulturraum ein vergleichbares Spektrum an literarischen Gattungen und Diskurstraditionen bot und damit auch die entsprechende sprachliche Elaboriertheit bzw. den hohen Grad an Ausbau.

      Die römische Literatur ist demgemäß von der griechischen inspiriert, wobei – wie Baier (2010:8) hervorhebt – die römische Originalität jedoch nicht der modernen Vorstellung einer absoluten Neuschöpfung verpflichtet ist, sondern unter dem Leitgedanken einer interpretatio Romana funktioniert. Hierbei gelten die Prinzipien der imitatio (‚Nachahmung‘) und aemulatio (‚wettbewerbsmäßige Nacheiferung‘), d.h. der zugrundeliegende Gedanke besteht darin, es dem Vorbild gleichzutun bzw. es eventuell sogar zu übertreffen.178

      Übersetzungen bzw. mehr oder weniger freie Übertragungen spielen zu Beginn der Verschriftlichungsphase bzw. in der literarischen Frühphase einer Sprache ganz typischerweise eine wichtige Rolle, geht es doch meist darum, die in einer Modellsprache bereits abgefaßten Texte mit etablierten Diskurstraditionen zu übernehmen und den eigenen sprachlichen Ausbau mit Hilfe eben dieser Prestige-Sprache voranzutreiben, wobei dies sowohl bewußt im Sinne einer Sprachpolitik geschehen kann als auch eher unbewußt mangels Alternativen bzw. vor dem Hintergrund des in diesem Kulturraum einzig funktionierenden und anerkannten Modells.

      Man vergleiche dazu beispielsweise auch ähnliche Prozesse bei der Herausbildung von literarischen Diskurstraditionen in den romanischen Sprachen. Man spricht auch von „vertikaler“ Übersetzung, im Mittelalter und der Frühen Neuzeit als descensus verstanden, d.h. vom Lateinischen (und später Griechischen) in die jeweiligen Volkssprachen. In Bezug auf das Italienische spricht man von volgarizzamento, d.h. die Übersetzung bzw. Übertragung lateinischer Texte (wissenschaftliche, sakrale, literarische) in die italienische Volkssprache (volgare), im Spanischen von romanceamiento, d.h. von einer Übersetzung ins romance (hispánico) und im Französischen von vulgarisation (cf. Giovanardi 2006:2198–2199; Endruschat/Schäfer-Prieß/Schöntag 2006:1416–1419; Albrecht/Plack 2018:43).

      In diesem Sinne der oben angesprochenen imitatio ist auch die Nachdichtung der Römer in Bezug auf die griechische Tragödie zu werten und die Charakterisierung Ciceros („non verba sed vim“, Ac. post. I, 10) ein schönes Dokument für diesen Prozeß sowie der reflektierten Selbstwahrnehmung.

      Als weitere frühe Vertreter der lateinischen Literatur sind der Dichter Naevius (Gnaeus Naevius, 3. Jh.-nach 204 v. Chr.), dessen Werk – Komödien (z.B. Tarentilla, Hariolus), Tragödien (z.B. Lycurgus), Praetextae (Clastidium/Marcellus, Romulus/Lupus) und ein Epos (Bellum Poenicum) – allerdings nur in wenigen Fragmenten überliefert ist, sowie die Komödiendichter Plautus (Titus Maccius Plautus, ca. 250–184 v. Chr.) und Terenz (Publius Terentius Afer, ca. 195/185–159 v. Chr.) zu nennen. Von beiden letzteren sind zahlreiche Theaterstücke erhalten (von Plautus 21: z.B. Aulularia, Bacchides, Stichus, Mercator, Amphitruo, Miles Gloriosus (tragicocomoedia), Asinaria, Menaechmi; von Terenz 6: Hecyra, Andria, Adelphoi, Phormio, Eunuchus, Heautontimorumenos), die zudem eine wichtige Quelle des zeitgenössischen Lateins darstellen, da sie gattungsbedingt auch viele Elemente eines niedrigen Registers enthalten und sie somit im Spiegel einer fingierten Mündlichkeit vorsichtige Rückschlüsse auf die mutmaßlich gesprochenen Varietäten der Zeit zulassen. Während Plautus und Terenz die römische Komödie in griechischem Gewand pflegten, die Palliata (fabula palliata), transponierten ihre Epigonen Titinius179 (2. Jh. v. Chr.) und Afranius (Lucius Afranius, 2./1. Jh. v. Chr.) die Handlung ins römische Milieu und schufen die Togata (fabula togata) (cf. Poccetti/Poli/Santini 2005:309–310; Baier 2010:47–54).

      Prägend für die frühe lateinische Literatur und damit auch wichtige Protagonisten im Prozeß des Sprachausbaus sind Ennius (Quintus Ennius, 239–169 v. Chr.),180 der, fragmentarisch überliefert, zwanzig Tragödien (z.B. Eumenides, Achilles, Andromacha aechmalotis, Iphigenia, Medea exul), Satiren (Saturae), zwei Prätextae (Sabinae, Ambracia) und ein Geschichtsepos (Annales) hinterlassen hat, sowie Cato d.Ä. (Marcus Porcius Cato Censorius, 234–149 v. Chr.), bekannt als prägender Staatsmann, Historiker (Origines) und Verfasser einer Abhandlung zur Landwirtschaft (De agri cultura) (Baier 2010:40–43, 119).

      Insbesondere Cato ist hierzu als wegweisend zu betrachten, insofern er als Begründer der römischen Prosaliteratur gilt und bereits zahlreiche Textgattungen bedient, und zwar neben der Rhetorik und Geschichtsschreibung eine Reihe weiterer fachwissenschaftlicher Subdisziplinen erstmals auf Latein behandelt (cf. Fuhrmann 1999:100–102).

      In die altlateinische Periode fallen auch noch einige Inschriften, die normalerweise im Zuge der ersten schriftlichen Zeugnisse genannt werden (cf. z.B. Meiser 2010:5, § 4), die aber aufgrund ihrer Sprachlichkeit nicht mehr zum Frühlatein zu rechnen sind, so z.B. der Senatus Consultum de Bacchanalibus (Bronzetafel, 186 v. Chr.), der im Zuge des sog. Bacchanalienskandals entstand.

      Betrachtet man nun die sprachliche Situation in Rom und auf der italienischen Halbinsel in dieser Epoche, so ist ein tiefgreifender Wandel festzustellen. Zu Beginn der altlateinischen Zeit war die Eroberung bis zur Grenze des Po zwar abgeschlossen, doch eine tiefgreifende Romanisierung und damit einhergehende Latinisierung setzte erst in den folgenden Jahrhunderten ein. Aus dem Stadtstaat Rom wird dabei kein Flächenstaat, aber eine polis mit einem ausgedehnten Territorium, welches zunächst Italien und seine Inseln umfaßt, bis zu Beginn des 1. Jh. v. Chr. dann schließlich auch weitere Mittelmeerregionen in Ost und West vereinnahmt (Gallia Cisalpina, 222–197 v. Chr.; Hispania citerior, Hispania ulterior, 197 v. Chr; Macedonia, Illyricum, 168 v. Chr.; Achaia, Asia Minor, 146 v. Chr.; Gallia Narbonensis, 121 v. Chr.). Diese politische Expansion bleibt nicht