Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua. Roger Schöntag

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zur in dieser Kommunikationssituation adäquaten Art des Sprechens trifft.111

      Wichtig erscheint im Folgenden noch einmal zu betonen, daß die Situation, in der sich ein Sprecher befindet – und dies soll bei obigem Modell deutlich werden – nicht nur die Wahl des Stilregisters, also die diaphasische Ebene determiniert, sondern im gleichen Maße die Frage bestimmt, ob ein Dialekt oder Soziolekt etc. in der nämlichen Situation adäquat ist oder eben nicht. Ändert sich die Sprechsituation insgesamt oder auch nur einzelne Komponenten dieser Situation, so wird unter Umständen wieder aufs Neue nachjustiert.

      Die Anordnung der determinierenden Faktoren für die Varietätenwahl in obigem Modell ist nicht zufällig, sondern folgt der Rangfolge einer postulierten Dominanz, d.h. der wichtigste Faktor ist der der Situation (formell vs. informell, offiziell vs. privat, etc.), gefolgt vom Gesprächspartner (mit Parametern wie bekannt vs. unbekannt, Dialektsprecher vs. Standardsprecher, etc.) und dem Ort der Kommunikation (in Abgrenzung zur Situation rein regional zur verstehen). In nicht so eindeutiger Hierarchisierung stehen folgen schließlich noch die Faktoren Thema (des Gesprächs), der Sprecher selbst (individuelle Disposition) und das Kommunikationsziel. Die Faktoren sind dabei in Bezug auf ihre Prominenz in einer bestimmten Kommunikationssituation als interagierend und interdependent anzusehen.

      Was nun die Erfassung des Varietätenraumes mit Hilfe des Diasystems anbelangt, so muß man wohl mit bestimmten Aporien leben. Dazu gehört zum einen die, aufgrund der in der sprachlichen Realität engen Verquickung dieser beiden Aspekte, oft unscharfe oder gar unmögliche Trennung von diaphasischer und diastratischer Dimension112 sowie die Frage, welche Bereiche unter die Diastratik fallen, da ja letztendlich fast alle sprachliche Variation an größere oder kleinere soziale Gruppen gebunden ist (schichtenspezifisches Sprechen, altersspezifisches, berufsspezifisches, etc.). Die diatopische Ebene bleibt zudem eine besondere, da es sich hierbei um historisch gewachsene (Regional-)Sprachen handelt, die einst, in Epochen vor der Herausbildung und Verbreitung einer nationalen Standardsprache, in sich geschlossene vollständige Sprachsysteme bildeten113 (mit entsprechender Variationsbreite auf allen Dia-Ebenen) und für alle Sprecher, bzw. noch lange für viele, das einzige Kommunikationsidiom darstellten. So kann auch heute noch die diatopische Ebene für manche Sprecher die Basis der mündlichen Verständigung bilden und ist situationsbedingt nicht zwingend auf gleiche Weise auszublenden bzw. abrufbar wie Varietäten der Diastratik oder der Diaphasik.

      Für vorliegendes Modell wurde aus diesen Gründen neben der unstrittigen diatopischen Ebene, weiterhin die Unterscheidung von diastratischer und diaphasischer Ebene beibehalten, allerdings mit der Einschränkung, daß anstelle von ‚diastratisch‘ hier der Begriff ‚diasozial‘ bevorzugt wird.114 Dies sei damit begründet, daß aufgrund seiner etymologischen Herleitung sowie aufgrund seiner häufigen Verwendung im Kontext mit schichtenspezifischem Sprechen dieser Terminus eine zu geringe Extension suggeriert, insofern das in den modernen Gesellschaften – und nicht nur dort – dominierende gruppenspezifische Sprechen hier als sekundäres und nicht primäres Verständnis konnotiert wird. Mit ‚diasozial‘ ist demnach also ganz allgemein und neutral das an eine spezifische soziale Gruppe gebundene Sprechen gemeint – und dies kann natürlich auch ein schichtenspezifisches sein. Deshalb soll im weiteren der Begriff ‚diastratisch‘ rein auf die Varietäten in Abhängigkeit von sozialen Schichten und Klassen appliziert werden. Für das gruppenspezifische Sprechen hingegen sei in Anlehnung an die homogene griechische Prägung der anderen Begriffe ‚diakoinonisch‘ (zu griech. κοινωνία ‚Gesellschaft, Gemeinschaft‘ bzw. κοινός ‚Teilnehmer, Genosse‘) vorgeschlagen. Beide Begriffe sollen demnach Teilbereiche der diasozialen Dimensionen konstituieren. Alternativ müsste man zur Verdeutlichung von ‚diastratisch im weiteren Sinne‘ (also schichten- und gruppenspezifisch) und ‚diastratisch im engeren Sinne‘ (also nur schichtenspezifisch) sprechen, wobei dann trotzdem eine terminologische Lücke für die rein gruppensprachlichen Varietäten bliebe.

      Die grundsätzliche Frage, ob es legitim ist, über das Coseriu’sche Dreier-Schema hinaus weitere dia-Dimensionen anzunehmen, sei dahingehend salomonisch beantwortet, daß dies davon abhängt, ob man weitere Varietäten identifizieren kann. Das Problem sei also auf die bereits gestellte Problematik (v. supra), wieviel Variation ist nötig, um von einer Varietät zu sprechen, verlagert. Das extreme Beispiel einer Proliferation von dia-Ebenen war das Modell von Schmidt-Radefeldt, der quasi 1:1 die metalexikographische dia-Kategorisierung (wie z.B. bei Hausmann 1979) auf die Beschreibung des Varietätenraumes übertragen hat. Wo ist hier also eine Grenze zu ziehen bzw. gibt es eine?

      Das Grundkriterium ist dabei m.E. nicht die Frage nach der Anzahl der sprachlichen Varianten, die nötig sind, um eine eigenständige Varietät zu postulieren, sondern, ob es eine soziale Gruppe gibt, der eine oder mehrere Varianten klar attribuiert werden kann.

      Es sei also definiert, daß man von einer Varietät sprechen kann (und nicht nur allgemein von sprachlicher Variation), wenn ein oder mehrere zusammenhängende, spezifische (markierte) Varianten eindeutig und stabil (über einer längeren Zeitraum) einer bestimmten abgrenzbaren sozialen Gruppe von Sprechern zuzuordnen sind oder eindeutig und stabil in einer bestimmten Sprechsituation zum Tragen kommen. Eine Varietät ist dabei immer als ein Teilsystem einer bestimmten Sprache zu verstehen, die durch einen mehrdimensionalen Varietätenraum konstituiert ist.115

      In diesem Sinne ist es zwar nach wie vor der Normalfall, daß eine bestimmte Anzahl von spezifischen sprachlichen Varianten eine Varietät ausmacht, im äußersten Fall kann aber eben auch ein Merkmal konstitutiv sein.116 So wäre dies der Fall der r-Ausprache in den Untersuchungen Labovs (1966), wo allein durch diese Abweichung von der Norm eine soziale Gruppe identifiziert werden kann (hier diastratisch bzw. diasozial zu verstehen) oder die norditalienischen Aussprache des r-Lautes (uvular), die eine diatopische Zuordnung erlaubt. Aus diesem Grunde sind Bezeichnungen wie ‚diafrequent‘ oder ‚diaplanerisch‘ unpassend, da hier zwar auf eine bestimmte Art der Variation innerhalb einer Sprache abgehoben wird, aber die Tatsache, daß bestimmte Lexeme, die allgemein häufiger oder seltener gebraucht werden, oder eben solche, die durch bestimmte Normierungsversuche in die Sprache gelangen, nicht einer bestimmten sozialen Gruppe zugeordnet werden können.117 Auf diese Weise kann auch die Existenz einer diatechnischen, diasexuellen sowie diagenerationellen Ebene begründet werden, d.h. als Varietäten einer bestimmten sozialen Gruppe. Dabei ist zu beachten, daß alle drei Ebenen prinzipiell auch als Subebenen der diastratischen bzw. diasozialen (genauer: diakoinonischen) Ebene gesehen werden könnten. Aber gerade der Bereich der Fachsprachen nimmt sowohl in der sprachlichen Realität der heutigen Gesellschaft als auch in der sprachwissenschaftlichen Forschung einen sehr breiten Raum ein, so daß eine eigene Ebene durchaus vertretbar erscheint.118 Die beiden weiteren Ebenen (diasexuell und diagenerationell) sind hingegen womöglich nicht in jeder Sprachgemeinschaft klar abgrenzbar oder identifizierbar; sofern dies jedoch möglich ist und ausreichend Merkmale ermittelbar sind, sind sie als eigenständige Varietätenebenen etablierbar.

      Schließlich soll in vorliegendem Modell auch der Erkenntnis der vorherigen beiden Kapitel zur Genese und Interaktion sozio- und varietätenlinguistischer Ansätze Rechnung getragen werden, und zwar dahingehend, daß die aus der anglistischen (variationslinguistischen) und germanistischen (soziolinguistischen) Tradition stammenden Begrifflichkeiten der Lekte konsequenter als bisher, den dia-Begrifflichkeiten gegenübergestellt werden.119

      Löffler (11985, ²1994:86) entwickelt dazu ein diversifiziertes Modell, in dem er „Großbereiche des Sprechens“ (Lekte) annimt, die sich überlagern, und zwar in Form von Mediolekten (nach Medium), Funktiolekten (nach Funktion), Dialekte (nach arealer Verteilung), Soziolekten (nach sozialer Gruppe), Sexolekten/Genderlekten (nach Geschlecht), Situolekten (nach Situation/Interaktionstyp) und Idiolekten (nach Individuum). Das Modell macht zweifellos die Vielfalt der Arten des Sprechens deutlich, über die ein Individuum verfügen kann, jedoch fehlt eine gewisse Systematik.120

      Auf der Ebene der Diatopik, gibt es nun neben dem traditionellen Dialekt-Begriff, der im Verständnis Coserius zunächst vor allem primäre Dialekte bezeichnet und terminologischer Ausgangspunkt aller weiteren Lekte ist, den sehr nützlichen Begriff des Regiolektes. Hiermit wird üblicherweise auf die bei Coseriu als tertiärer Dialekt