Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua. Roger Schöntag

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trotz einiger nicht von der Hand zu weisender Vorteile (z.B. Zentrum vs. Peripherie) der graphischen Umsetzung bei Berruto (1987) soll die Darstellung bei Koch/Oesterreicher (2011) als Vorbild dienen. Nicht berücksichtigt werden soll hingen die vierte Dimension – zumindest nicht als eigene Ebene, da es berechtigte Zweifel gibt, ob die an sich wertvolle Konzeption des Nähe-Distanz-Kontinuums Teil des Diasystems sein sollte (cf. supra). Hinzu kommt die dort getroffene Unterscheidung von universaler und einzelsprachlicher Ebene, die anhand der gelieferten empirischer Daten kaum aufrecht zu erhalten ist.104 Die in die Nähe-Distanz-Dimension bei Koch/Oesterreicher inkorporierte Unterscheidung von Söll (1974) in Bezug auf Konzeption vs. Medium soll ebenfalls einen Platz in einem neuen Gesamtmodell erhalten, jedoch außerhalb der eigentlichen Varietätendimensionen. Dabei soll berücksichtigt werden, daß dem Medium, also der Frage nach der medialen Realisierung, mehr Gewicht beigemessen werden sollte (cf. Hunnius 2012:38–41; Massicot 2015:190–191), und die gesprochene Sprache eben nicht kategorisch von der ihr zugehörigen medialen Umsetzung zu trennen ist.

      Vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Verquickung sozio- und varietätenlinguistischer Ansätze soll das hier neu konzipierte bzw. modifizierte Modell des Varietätenraumes die Frage der Selektion einer Varietät mitberücksichtigen. Trotz des Einbezugs dieses Aspektes sei betont, daß dabei nicht die Darstellung eines ganzheitlichen Kommunikationsmodelles (mit Rückkopplung Sprecher, Hörer, etc.) anvisiert wird, sondern lediglich die Sprechsituation eine adäquate Einbettung finden soll.

      Damit soll einerseits der bekannten, grundlegenden Fragestellung der Soziolinguistik von Fishman (1965), nämlich, wer spricht welche Sprache mit wem und wann (who speaks what language to whom and when,) Rechnung getragen werden und zum anderen die schon bei Halliday (1978) konstatierte Wahlmöglichkeit des Sprechers aus verschiedenen Varietäten berücksichtigt werden.105 Diese Wahl wiederum ist abhängig vom situationellen Kommunikationskontext. Wie wichtig dieser situationelle Kontext ist, darauf verweist bereits Malinowski, bevor jener im Zuge des pragmatic turn größere Geltung gewinnt.106

      Der bei Malinowski noch im Sinne eines determinierenden Faktors für die Semantik einer Äußerung verstandene situationelle Kontext wird bei Halliday erweitert und zu einem allgemeinen context of situation, der, wie er sehr treffend beschreibt, verantwortlich ist für die Selektion des jeweiligen Sprachregisters.

      All language functions in contexts of situation, and is relatable to those contexts. The question is not what peculiarities of vocabulary, or grammar or pronunciation, can be directly accounted for by reference to the situation. It is which kinds of situational factor determine which kinds of selection in the linguistic system. (Halliday 1978:32)

      Die Wahl einer Varietät – und in der Regel verfügt jeder Sprecher über mehrere Varietäten – so sei postuliert, hängt von der spezifischen Situation ab, und das gilt eben nicht nur für die diaphasische Dimension (bzw. registers bei Halliday), die Nabrings (1981:140) auch treffend diasituative Dimension nennt, sondern eben in Bezug auf alle Varietäten, und im Falle einer Mehrsprachigkeit auch in Bezug auf die Wahl der adäquaten Sprache in einer bestimmten Kommunikationssituation. Auch wenn vielleicht nicht so intendiert, so suggeriert doch ein Modell, wie das von Koch/Oesterreicher (2011) oder auch Berruto (1987), daß die Situation nur in der Diaphasik zum Tragen kommt und dies entspricht wohl nicht der Kommunikationsrealität. Halliday macht das etwas polemisch deutlich, wenn er die Situation zur conditio sine qua non einer Kommunikation erhebt.

      We do not in fact, first decide what we want to say, independently of the setting, and then dress it up in a garb that is appropriate to it in the context, as some writers on language and language events seem to assume. (Halliday 1978:33)

      Daraus folgt, daß der Situation eine weitaus prominentere Stellung innerhalb eines Modells gebührt als bisher verwirklicht und als der a priori determinierende Faktor anzusehen ist. Dieser Tatsache sei in folgendem Modell zu ‚Diasystem und Sprechsituation‘ Rechnung getragen:

      Abb. 2: Diasystem und Sprechsituation

      Den determinierenden Faktoren der Sprach- und Varietätenwahl liegen u.a. die Erkenntnisse von Nabrings (1981:140–144) zugrunde, die – allerdings allein für die diasituative Dimension – folgende Parameter festgelegt hat: Gesprächspartner, Medium, Ort der Kommunikation, Thema. Dies sind eindeutig Faktoren, die nicht auf einer Stufe mit den im Modell Koch/Oesterreicher (2011:13) aufgelisteten Kommunikationsbedingungen stehen können, die ja nach deren Konzept „nur“ den Grad der Nähe bzw. Distanz beeinflussen, sondern einen prominenteren Status einnehmen sollten.107 Wie wichtig der oder die Gesprächspartner bei einer Kommunikation im Allgemeinen und in Bezug auf die Wahl der adäquaten Varietät sind, wird schon bei Behagel deutlich.108 Aus den Ausführungen Behagels geht aber auch der wie bei Nabrings und auch sonst nicht selten als sous-entendu verstandene Sprecher bzw. Produzent der Äußerung als wichtiger Determinant der Kommunikation hervor. Dies bestätigt auch – um hier einmal den größtmöglichsten zeitlichen Sprung machen – die Untersuchung von Massicot (2014), die als wichtige Faktoren neben dem Thema und dem Medium die Sprecheridentität aufführt. Die Tatsache, daß auch das Kommunikationsziel ein beeinflussender Faktor bei der Wahl der Varietät sein kann, läßt sich aus den bekannten Kommunikationsmodellen bei Bühler (1934:28) und Jakobson (1979:88) ableiten. Dies sei dahingehend interpretiert, daß nicht allein das Gegenüber ausschlaggebendes Kriterium ist, sondern unter Umständen eben auch relevant für das, was der Sprecher erreichen möchte, welche Varietät die dafür angemessene ist.

      Determinierend sind außerdem die gewählte oder vorgegebene Diskurstradition sowie der soziale und situative Kommunikationskontext (cf. field, tenor, mode) im Sinne Hallidays (cf. Martin/Williams 2004:121) (v. supra).109 Diese Parameter beeinflussen alle Selektionsvorgänge entscheidend mit.

      Die erste Selektion, die dann getroffen wird, und zwar aufgrund der determinierenden Faktoren der Sprechsituation, ist die bezüglich des Mediums. Damit soll hervorgehoben werden, daß das Medium hier nicht irgendein Teilaspekt des Diasystems ist, sondern diesem sozusagen vorgeschaltet, denn zuerst wählt der Sprecher das Medium (code phonique oder code graphique), sofern es nicht durch eine Kommunikationssituation vorgegeben ist, dann die Sprache und die Varietät. Die Versprachlichung der konzeptionellen Nähe bzw. Distanz, ist dabei als sekundär einzustufen, d.h. sie erfolgt unter den Bedingungen der Kommunikationssituation. Eine diamesische Ebene überlagert sozusagen alle weiteren Varietätendimensionen, insofern es sowohl bezüglich des Standards eine mündliche und schriftliche (medial und konzpetionell) Ebene gibt als auch bezüglich aller weiteren Non-Standard-Ebenen, also der Dialekte, Situolekte, Soziolekte etc. (z.B. mündlich vs. schriftlicher Dialektgebrauch).

      In Kommunikationssituationen, die mehr oder weniger das Medium vorgeben, also z.B. bei einem Telefongespräch, einem Vortrag oder ein Bewerbungsschreiben, liegt hier natürlich keine Wahl mehr im eigentliche Sinne vor, doch es bleibt zunächst die Situation (z.B. Wunsch/Pflicht, jmd. zurückzurufen, einen Vortrag zu halten; Notwendigkeit sich zu bewerben), die das Medium determiniert und womöglich auch die Varietät (z.B. das Stilregister für ein Bewerbungsschreiben qua Diskurstradition).

      Falls es sich nun um eine Kommunikationssituation handelt, bei der nicht bereits eine Sprache bereits a priori feststeht, und in der der Sprecher über mehrere Sprachen verfügt – und dies muß nicht nur im Sinne eines bilingualen Sprechers zu verstehen sein –, aus denen er wählen kann (L1, L2, L3 – Lx), unabhängig von der Kompetenz in der jeweiligen Sprache, dann wäre diese Selektion vom Sprecher vor der Frage nach einer bestimmten Varietät einer Sprache zu treffen. Erst im Folgenden stellt sich für ihn die Wahl, sofern seine Kompetenz in der bestimmten Sprache dies überhaupt zuläßt, ob er sich im unmarkierten Standard verständigt oder sich für eine wie auch immer markierte Varietät entscheidet. Dies kann jedoch durch Medium oder Diskurstradition auch bereits vorgegeben sein (z.B. in der Schriftsprache eher kein Dialekt, je nach Textsorte ein bestimmtes Stilregister).110

      Die determinierende Sprechsituation ist dabei immer die gleiche, also die Ausgangssituation (cf. determinierende Faktoren), denn die im Modell dargestellten