Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua. Roger Schöntag

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allem seine Untersuchung zur Aussprache des r-Lautes in New York, dessen verschiedenen Varianten (in unterschiedlicher lautlicher Umgebung) Rückschlüsse auf die soziale Stratifikation zuließen, da die verschiedenen Aussprachevarianten an einen je unterschiedlichen Grad von Prestige geknüpft sind (Labov 1966:63–89). Mit diesem Schwerpunkt auf einzelnen Sprachphänomenen, in Korrelation mit der gesellschaftlichen Verankerung der Sprecher,93 begründete er die Variationslinguistik amerikanischer Prägung, die im Folgenden maßgeblichen Einfluß auf die europäische Sozio- und Varietätenlinguistik nahm.

      In der Tradition Labovs stehen auch große Teile der germanistischen Forschung, aus der heraus letztendlich wichtige Impulse zur Soziolinguistik und Varietätenlinguistik entstanden, die dann auch für die romanistische Perspektive, insbesondere die varietätenlinguistische, d.h. vor allem in Bezug auf die Erweiterung und Präzisierung des Diasystems von Bedeutung sind (cf. z.B. Hammarström 1967; Nabrings 1981).

      Zum Abschluß des selektiven Überblicks zu einigen wichtigen Positionen und Grundkonzepten der Soziolinguistik, und zwar vor allem solchen, die in Zusammenhang mit denen der Varietätenlinguistik stehen und die im Folgenden von Belang sein werden,94 sei auf die Arbeiten von Berruto (z.B. 1987, 2003, 2008) verwiesen.95 Hier schließt sich der Kreis insofern, als Berruto unter dem label der sociolinguistica innovative Erklärungsansätze zur Strukturierung des Varietätenraumes bietet. Berruto (1987:21) entwirft ein Modell des Varietätenraumes, das zwar einerseits nur die Architektur des Italienischen abbilden soll (l’italiano contemporaneo), andererseits implizit doch einen allgemeinverbindlicheren Anspruch erhebt. Im Gegensatz zu Coseriu bzw. Koch/Oesterreicher ordnet er dabei die verschiedenen Dimensionen nicht übereinander an, sondern stellt die unmarkierte Standardvarietät (italiano standard/neo-standard) ins Zentrum seines Schaubildes, welche von diametralen Achsen der anderen Varietäten (diastratico, diafasico, diamesico) durchkreuzt wird. Dabei wird die diatopische Dimension völlig ausgeklammert,96 hinzu kommt jedoch die diamesische nach Mioni, die bei Koch/Oesterreicher als unmarkierte Mündlichkeit/Schriftlichkeit inkorporiert ist (cf. supra). Über den Status der Diamesik ist sich Berruto jedoch selbst unsicher:

      Il riconoscimento dell’autonomia della dimensione diamesica non è del tutto chiarito in sede teorica. Indubbiamente, uso scritto e uso parlato rappresentano due grandi classi di situazioni d’impiego della lingua: e questo è un buon argomento per ritenere la diamesìa una sottocategoria della diafasìa. D’altra parte, è anche vero che l’opposizione scritto-parlato taglia trasversalmente la diafasìa e le altre dimensioni, e non è riconducibile completamente all’opposizione formale-informale. (Berruto 1987:22)

      Im Gegensatz zu dieser Aussage stellt Berruto (1987:21) jedoch die diamesische Dimension in seiner Graphik als autonome Achse innerhalb der Architektur der Sprache dar. In einem späteren Modell (cf. Berruto 2008:11) verwirklicht er dann seine offensichtliche Präferenz zur Sicht der Diamesik als Teilmenge der Diaphasik, allerdings unter Beibehaltung seines alten Schaubildes (cf. Berruto 2008:12).97

      Ohne die Gesamtkonzeption der Gliederung des Varietätenraumes bei Berruto en detail besprechen zu können, sei aber hervorgehoben, daß die Idee einer zentralen Position des Standards etwas für sich hat, weil die Standardvarietät tatsächlich auch die Referenzvarietät für alle anderen Varietäten darstellt und damit auch im Bewußtsein der Sprecher eine zentrale Stellung einnimmt. Wichtig in diesem Zusammenhang ist bei Berruto (1987:22) auch der Hinweis, daß der Standard nicht im centro geometrico des Modells zu lokalisieren sei, sondern leicht in Richtung des „quadrante scritto, formale, alto“ verschoben ist.98 Ein grundlegendes Problem bei Berruto ist die als a parte konzipierte Diatopik, was zwar der schon bei Coseriu festgestellten Tatsache Rechnung trägt, daß allein der Dialekt ein komplett eigenständiges Sprachsystem ist (v. supra), während die anderen Varietäten sich nur durch ein gewisses Maß an markierten Elementen vom Standard unterscheiden (cf. Krefeld 2020:241), aber dadurch fehlt die bei Coseriu und Koch/Oesterreicher hervorgehobene wichtige Interdependenz der diatopischen Ebene mit der diastratischen und diaphasischen (und diamesischen).99 Dies vermittelt gerade für das Italienische, das im Gegensatz zum Französischen sehr stark durch die Variation im Raum geprägt ist, trotz der impliziten Berücksichtigung (cf. italiano regionale popolare), ein schiefes Bild.100 Merkwürdig erscheint auch die Zuordnung der Technik- und Wissenschaftssprache (italiano technico-scientifico) sowie der Verwaltungssprache (italiano burocratico) zur diaphasischen Ebene, die in anderen Modellen meist als Gruppensprachen und nicht als reines Stilregister gesehen werden. Unabhängig von der Frage der Adäquatheit des Achsenmodelles fehlt hierbei weitgehend – und das kann man mutatis mutandis durchaus analog zum Modell Koch/Oesterreicher sehen – eine dezidierte Ausarbeitung (bei Berruto wäre das zunächst nur für das Italienische zu leisten) der einzelnen Varietäten, ihrer Bezeichnungen und ihrer Merkmale sowie deren Zuordnung. Daß Berruto (1987:26) unter impliziter Berufung auf das sogenannte Ockhamʼsche Rasiermesser (entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem), welches er lapidar als allgemeines saggio principio vorstellt (cf. auch Kap. 6.1.5), seine neun Beispielvarietäten auf nur vier oder fünf reduzieren möchte,101 ist gerade in diesem Falle wohl kaum im Sinne des Ökonomieprinzips des großen Scholastikers, sondern hier bestünde sehr wohl eine gewisse necessitas, Entitäten und Erklärungen folgen zu lassen.102

      Eine weitere bedenkenswerte Neuerung bei Berruto ist seine im Zuge der Rezeption der Modelle von Fishman, Ferguson und Kloss konzipierte Erweiterung der verschiedenen Formen von Mehrsprachigkeit und deren Interaktion in verschiedenen Sprachgemeinschaften. Auch hier bezieht sich Berruto in erster Linie auf die Situation in Italien und entwirft eine Matrix mit folgenden Kategorien: bilinguismo sociale, diglossia, dilalia, bidialettismo (Berruto 2003:206). Um diese Konzepte voneinander abzugrenzen, legt er 13 Faktoren zugrunde, die ihm als Kriterien dienen, um zu bestimmen, wie eine spezifische Art von Zusammenspiel von mehreren Dialekten oder Sprachen in einer Gesellschaft funktional miteinander interagieren (Berruto 2003:205). Diese Faktoren bestehen im Wesentlichen aus Merkmalen, die er aus den Arbeiten jener drei oben genannten Forscher übernimmt und dann versucht weiter zu differenzieren (z.B. Prestige, Abstand- und Ausbausprachen, Kontinuum zwischen Varietäten, Standardisierung, literarische Tradition, etc.). Neu sind dabei die Begriffe ‚Dilalie‘ und ‚Bidialektismus‘ (bzw. ‚Polydialektismus‘), die ein Kontinuum an Kategorien zum sozialen Bilingualismus und zur Diglossie schaffen sollen.103

      Im Prinzip liegt hier eine abgeschwächte Diglossie-Situation vor, insofern zwar eine grundsätzliche Funktionsteilung vorliegt, die L-variety hier jedoch mit ausreichend Prestige behaftet ist, so daß sie ebenfalls in zahlreichen Kommunikationssituationen vertreten ist. Als Beispiel führt er das Plattdeutsche oder Bairische in Bezug auf das Hochdeutsche an sowie pauschal die Situationen der Romania. Letztlich handelt es sich dabei um nichts anderes als eine Konstellation von einem Dialekt mit Prestige (in seinem Verbreitungsgebiet) vs. Hochsprache. Angesicht der Tatsache, daß es einerseits auch zahlreiche Konstellationen gibt, in denen der Dialekt dezidiert als abwertend betrachtet wird – und hier irrt m.E. Erachtens Berruto z.B. in Bezug auf die Situation in Frankreich (Stichwort: patois) – und andererseits es Forscher gibt, die eine Konstellation Basilekt vs. Hochsprache als Diglossie bezeichnen (und damit diesen Begriff aushöhlen), scheint die Idee einer begrifflichen Fassung einer solchen Situation nicht verkehrt. Unglücklich hingegen erscheint der bidialettismo bzw. polidialettismo, insofern er nach Berrutos (2003:209, FN 98) eigenen Angaben nichts anderes ist als standard-with-dialect, also die Tatsache, daß Sprecher neben dem Standard über verschiedene varietà regionali e sociali verfügen. Hier wäre es womöglich geschickter, diese Kategorie dezidiert auf solche Fälle einzuengen, in denen tatsächlich zwei (oder mehrere) diatopische Varietäten zur Verfügung stehen – vorstellbar z.B. in Südtirol mit einer südbairische Varietät und einem dem Trentinischen nahestehenden Regiolekt.

      Die in den letzten beiden Kapiteln angestellten Überlegungen zu einigen wichtigen Begrifflichkeiten, Konzepten und Modellen der Varietäten- und Soziolinguistik hatten zum Ziel, einige begriffliche Grundlagen für vorliegende Untersuchung zu erörtern und einen kurzen Überblick über den aktuellen Forschungsstand zu liefern.

      3.1.3 Entwurf eines Beschreibungsrahmens des Varietätenraums

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