Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua. Roger Schöntag

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durch die Beispiele deutlich werden, lehnt er sich an die Erweiterung von Gumperz an.82 Fishman versucht auch dahingehend eine weitere Differenzierung von mehrsprachigen Sprachgemeinschaften vorzunehmen, indem er eine Matrix entwirft, die folgende Fälle von koexistierenden Varietäten und Sprachen aufweist: 1) both diglossia and bilingualism, 2) diglossia without bilingualism 3) bilingualism without diglossia, 4) neither diglossia, nor bilingualism (Fishman 1967:30). Der erste Fall wird dabei u.a. an der Konstellation Spanisch und Guaraní in Paraguay exemplifiziert, insofern fast das ganze Land zweisprachig ist, aber die beiden Idiome funktional verschieden sind. Das prestigereiche Spanisch sei dabei für die Landbevölkerung Bildungssprache, während die Guaraní-Sprecher, die vom Land in die hispanophone Stadt gezogen sind, ihr ursprüngliche Sprache weiterhin zur in-group-Kommunikation verwenden (cf. Fishman 1967:31).83 Das zweite Szenario wäre beispielsweise die Situation in weiten Teilen Europas vor dem 1. Weltkrieg, als die H-Varietät der Elite das Französische war (cf. Fishman 1967:33). Zur Konstellation von ‚Bilingualismus ohne Diglossie‘ nennt Ferguson kein Beispiel, beschreibt allgemein historische Situationen wie die der modernen Industriegesellschaften, in denen durch Zuwanderung verschiedene Arten von Zweisprachigkeit auftreten, die aber bald zugunsten der Mehrheitssprache aufgegeben wird, so daß hier eher ein Transitionsstadium vorläge (cf. Fishman 1967:35). Die letzte Konstellation beschreibt den seltenen Fall einer isolierten Sprachgemeinschaft (ohne Sprachkontakt), welche im Lichte einer historischen Betrachtung meist nicht Bestand haben kann (cf. Fishman 1967:36–37).

      Es bleibt diesbezüglich festzuhalten, daß das Schema von Ferguson bei der Anwendung auf zahlreiche Situationen verschiedener Sprachgemeinschaften, aktuelle wie historische, gewisser Differenzierungen bedarf, da die Konstellationen in ihrer Charakteristik zum Teil erheblich voneinander abweichen. Dennoch ist auch zu konstatieren, daß die Matrix von Fishman zum einen eine „Verwässerung“ des ursprünglichen Diglossiebegriffs nach sich zieht und zum anderen seine Unterscheidung nicht ganz widerspruchsfrei ist.84

      Auch Kloss (1976:315–316) greift die wichtig gewordene Unterscheidung von Diglossie vs. Bilingualismus auf, und versucht dabei die Aporie zwischen der Auffassung von Ferguson und Fishman dahingehend zu lösen, daß er von ‚Binnendiglossie‘ (engl. in-diglossia) und ‚Außendiglossie‘ (engl. out-diglossia) spricht, indem er unter ersterer die Diglossie von verwandten Varietäten versteht und unter letzterer, die von unverwandten. Zudem weist er auf den Fall der Triglossie hin, wobei er einwendet, daß hier wiederum wie in der Konstellation in Luxembourg in der Regel verschiedene Diglossie-Situationen zugrundeliegen würden, denn zwischen Letzeburgisch und Schriftdeutsch bestehe ein binnendiglossisches Verhältnis, zwischen Letzeburgisch und Französisch hingegen ein außendiglossisches (Kloss 1976:322).

      Der Begriff ‚Diglossie‘, durch den ein wichtiger soziolinguistischer Aspekt in die Forschung zu bilingualen Gesellschaften eingebracht wurde, hat im Folgenden Eingang in weitere Betrachtungen und Modelle gefunden, auf die hier nicht im Einzelnen eingegangen werden kann (cf. dazu Kremnitz 1996:249–254), die aber allgemein die Notwendigkeit unterstreichen, den Kerngedanken ‚Funktionsdifferenzierung‘ zu beachten, was auch für die in vorliegender Betrachtung zu behandelnden Sprachkonstellationen wichtig ist.

      Generell sei in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß bei einer Erweiterung und Modifizierung des ursprünglichen Konzeptes von Ferguson die Gefahr besteht, den Grundgedanken durch ein Zuviel an Nuancierungen zu schwächen und es womöglich ratsamer ist, auf die einzelne Nuancen dann in den konkreten Anwendungsfällen einzugehen, ohne unbedingt jeden anders gearteten Kasus zum Modell zu erheben.

      Eng verknüpft mit dem Bereich der Mehrsprachigkeit und der Diglossie ist ein weiteres wichtiges Konzept der Soziolinguistik, nämlich das der ‚Domäne‘. Die Tatsache, daß bestimmte Varietäten oder Sprachen in je unterschiedlichen Bereichen des täglichen Lebens angewendet werden, war schon länger eine Grunderkenntnis der Mehrsprachigkeitsforschung, bis sie schließlich von Fishman (1964) mit dem Begriff domain belegt wurde.

      That languages (or language variants) sometimes replace each other, among some speakers, particularly in certain types or domains of language behavior, under some conditions of intergroup contact, has long aroused curiosity and comment. (Fishman 1964:32)

      Dabei beruft sich Fishman (1964:37, FN 11) auf verschiedene ältere Vorarbeiten bekannter Kollegen der amerikanischen Forschung zu variation und sociolinguistics (z.B. Haugen, Weinreich), aber auch auf eine vergleichsweise sehr frühe Untersuchung von Schmidt-Rohr (1932), der in seinem Kapitel zur Mehrsprachigkeit Überlegungen zum wechselnden Gebrauch von (deutscher) Hochsprache und dazugehörigem oder fremdem Dialekt anstellt. In der darauffolgenden Tabelle, in der er u.a. auf die Sprachsituationen in der Schweiz, Südtirol und Belgien abhebt, gibt er dann folgende Bereiche der Sprachverwendung an, wobei der Schule eine besondere Stellung zukommt:85 Familie, Spielplatz, Straße, Schule, Kirche, Literatur, Zeitung, Heer, Gericht, Verwaltung.86

      Dies gemahnt deutlich an die im Gefolge von Fishman (1965:72–75)87 schließlich bei Cooper (1969:196) kanonisch geworden Domänen home (family), neighbourhood, church, school, work sphere.88

      In diesem Verständnis, d.h. der Abhängigkeit der Wahl einer bestimmten Varietät oder Sprache von Faktoren, die sich letztlich auf Situationen, Themen und Orte der Sprachverwendung gründen, ist auch folgende Definition im Handbuch Soziolinguistik zu sehen, die die aktuelle Forschungsauffassung adäquat widergibt:

      Domänen (engl. domains) des Sprachgebrauchs oder der Sprachwahl sind definiert als abstrakte Konstrukte, die durch zueinander passende Orte, Rollenbeziehungen und Themen bestimmt sind […]; sie bestimmen die Wahl einer Sprache oder einer Variante in einer mehrsprachigen Sprachgemeinschaft mit. Beispiele für Domänen sind Familie, Nachbarschaft, Arbeitsplatz, Kirche und staatliche Verwaltung. Art und Anzahl der Domänen können je nach Sprachgemeinschaft und Kultur variieren. (Werlen 1996:335)

      Neben der weitgehend unumstrittenen Kerndefinition sei hier die Aufmerksamkeit vor allem auf die letzte Bemerkung zur möglichen Variation der Domänen gerichtet. Es erscheint grundlegend, daß zur adäquaten Beschreibung des Gebrauchs einer Sprache der jeweilige gesellschaftliche Kontext richtig erfaßt wird, d.h. daß a priori der Frage nachzugehen ist, welche Bereiche innerhalb einer Gesellschaft dominant und konstitutiv sind. Dabei werden Adaptionen der immer wieder genannten Grunddomänen nötig sein, und zwar im Hinblick sowohl auf aktuelle, als auch historische Konstellationen sowie solchen, die nicht den hier zugrundegelegten westlichen Gesellschaftsformen entsprechen.

      Dementsprechend könnte eine Zusammenstellung von Domänen der Sprachverwendung für moderne europäische Industriegesellschaften und ihren Entsprechungen folgendermaßen aussehen: Familie, Nachbarschaft bzw. Freundes- und Bekanntenkreis, Arbeitsplatz, Kirche bzw. religiöse Gemeinschaft, Schule, Universität bzw. Ausbildungsstätte, Militär, (staatliche) Verwaltung, Freizeit.89

      Wichtige Grundlagen der Soziolinguistik, die auch Auswirkungen auf die Varietätenlinguistik und ihre Betrachtungsweise hatten, wurden durch die Studien von Labov (z.B. 1966, 1972, 2010) geschaffen. Labov, ein Schüler Weinreichs (1953), ergänzte dessen eher theoretische Analysen zur Mehrsprachigkeitsforschung sowie die traditionelle Dialektologie europäischer Provenienz um außersprachliche, soziale Faktoren, denen er eine besondere Stellung beimaß.

      But linguistic theory can no more ignore the social behavior of speakers of a language than chemical theory can ignore the observed properties of the elements. (Labov 1972:259)

      Was die Abhängigkeit von soziokulturellen Variablen anbelangt, so stützt sich Labov auf die Arbeiten Bernsteins,90 der ab Ende der 1950er Jahre die social class als maßgeblichen Faktor in die Forschung einbringt, ohne daß er allerdings dessen sozialen Determinismus zu übernimmt.91

      Labov wendete sich mit dem von ihm vorsichtig formulierten social behaviour als Parameter explizit gegen die bis dahin vor allem (aber nicht nur) in der amerikanischen Forschung vorherrschende Tendenz, linguistische Theorien und Modelle auf reine Introspektion des Wissenschaftlers zu gründen.92

      Er betrieb demgemäß Feldstudien, wie auch schon europäische Linguisten, allerdings mit dem Fokus auf dem Sprachbenutzer