Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua. Roger Schöntag

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in Europa das Baskische, aber für eine verhältnismäßig isoliert dastehende indogermanische Sprache wie Albanisch liegt der Fall kaum minder eindeutig. Baskisch oder Albanisch würden auch als Sprachen bezeichnet werden, wenn in ihnen keine einzige gedruckte oder geschriebene Zeile vorläge. Wir können solche Idiome, die lediglich um ihres Abstandes von allen auch den nächstverwandten anderen Idiomen willen als Sprachen gelten, auch kurzweg als „Abstandsprachen“ bezeichnen.

      Wenn hingegen das Slowakische vom Tschechischen, das Weißruthenische vom Russischen, das Katalanische vom Okzitanischen, vielleicht sogar das Letzeburgische vom Deutschen als besondere Sprache unterschieden werden, so liegt der Grund nicht in ihrer linguistischen Sonderstellung, sondern in ihrer soziologischen Verselbständigung, also insbesondere in dem Umfange und Grade ihres Ausbaus zur Kultursprache, so daß man hier auch kurzweg von „Ausbausprachen“ reden kann. (Kloss 1952:17)

      In dieser eher impliziten Definition wird auch noch ein anderer Begriff quasi en passant in seinem weiteren Gebrauch in der Linguistik festgeschrieben, nämlich der des ‚Idioms‘, den Kloss zur neutralen Bezeichnung verwendet, solange noch nicht geklärt ist, ob es sich um einen Dialekt oder eine Sprache handelt, und den man heutzutage nützlicherweise als vorklassifikatorischen Terminus auf verschiedene Arten von Varietäten anwenden kann.61

      Was den Ausbau von Sprachen betrifft, so trägt Kloss (1952:24–25) wichtige Parameter zusammen, anhand derer man einschätzen kann, wie weit der Ausbaugrad einer bestimmten Sprache oder eines Dialektes (Ausbaudialekt) fortgeschritten ist.62 Der Ausbaugrad selbst wiederum wird in eine Vorphase und fünf weitere Phasen untergliedert, je nachdem wie weit der Anwendungsbereich einer Sprache ist, gemessen hauptsächlich an der Möglichkeit, verschiedene Textsorten zu bedienen und damit einhergehend, wie lexikalisch, morphologisch und syntaktisch elaboriert die Sprache ist (Kloss 1978:52).

      Die zunächst auf sechs Merkmale festgesetzten Parameter zur Beurteilung des Ausbaugrades kondensiert er später (cf. Kloss 1987:304) auf vier und entwickelt zudem eine Matrix der Entwicklungsstufen (cf. Kloss 1978:48–49) anhand einer Feingliederung der Sachprosa, die als wichtigster Indikator für den Ausbau anzusehen ist.

      Die Ausbau-Kriterien stützen sich dabei auf folgende regelmäßige Anwendungsbereiche des untersuchten Idioms: 1) in Zeitungen, 2) in übersetzten religiösen und weltanschaulichen Schlüsseltexten, 3) in nichtdichterischen Zusprachetexten (Vortragstexte), 4) in Belletristik, Forscherprosa, Gebrauchsprosa (Inserate, Inschriften, Tagebücher, Notizzettel, etc.). Dichtung und andere „hohe“ Literatur gehören als Gradmesser natürlich ebenfalls dazu, sind aber bei Kloss nicht in gleicher Weise in den Vordergrund gerückt, zum einen weil diese bis dato, vor allem von Seiten der Literaturwissenschaft als die einzigen Faktoren für die Einschätzung als Kultursprache angesehen wurden, und zum anderen weil er dezidiert den Wert der Sachprosa über den der Literatur strictu sensu als Indikator stellt.63 Die Sachprosa selbst wiederum splittet er in drei graduell abgestufte Bereiche, nämlich volkstümliche Prosa (V), gehobene Prosa (G) und Forscherprosa (F), sowie in drei themenbezogene Bereiche, gegliedert nach eigenbezogene Themen (E), kulturkundlichen (K) und solchen der Naturwissenschaft und Technologie (N), woraus sich oben erwähnte Matrix als Bemessungsgrundlage ergibt.

      Unabhängigkeit von der Tatsache, daß ein Parameter wie „Ausbreitung in Rundfunk und Fernsehen“ der Aktualisierung in Bezug auf die zahlreichen neuen Kommunikationsformen bedürfte und insgesamt sowohl die Bestimmung als auch die Korrelation der einzelnen Kriterien nicht immer unproblematisch sein dürften,64 bleibt das Gesamtkonzept ein äußerst wichtiges Instrument zur Bestimmung von Funktions- und Anwendungsbereichen von Sprachen und deren Positionierung in der Gesellschaft. Dies ist nicht zuletzt daran ersichtlich, daß die Frage nach dem Ausbaugrad einer Sprache wesentlicher Bestandteil des Konzeptes ‚Diskurstradition‘ ist bzw. nach heutigem Verständnis einzelne Diskurstraditionen maßgeblich zum Ausbau einer Sprache beitragen (z.B. Gebrauchsprosa, Belletristik, etc.).65

      Der Ausbau einer Sprache korreliert zudem mit dem Prozeß der Standardisierung einer Sprache, wobei „Ausbau und Standardisierung […] weder identisch noch disjunkt“ sind (Ammon 2004:183), denn einerseits haben zwar ausgebaute Varietäten in der Regel auch die Funktion eines Standards, andererseits sind Standardvarietäten bzw. Standardsprachen nicht immer im gleichen Ausbaugrad zu situieren (z.B. Ladinisch vs. Englisch).66

      Mit der Standardisierung wiederum in Zusammenhang steht die auf Kloss (1969) zurückgehende Unterscheidung von Korpusausbau und Statusausbau, wobei Status auf die Stellung einer Sprache in der zugehörigen Sprachgemeinschaft referiert, während Korpus auf Struktur und Wortschatz abhebt (cf. Ammon 1991:280).

      Der heutzutage in diesem Zusammenhang häufig gebrauchte Terminus Modernisierung wird oft mit unklarer Referenz verwendet, insofern meistens damit – weniger präzise – der Korpusausbau gemeint wird, dies nicht selten aber auch auf den Ausbau als solchen zielt, oder auch Statusfragen damit verknüpft werden, z.B. innerhalb des Bereiches der Fachsprachen oder jene im Verhältnis zur Gemeinsprache (cf. Ammon 1998:222; Ammon 2004:183).

      Eine weitere Ergänzung der Kloss’schen Terminologie liefern Koch/Oesterreicher (1994:594), indem sie den Prozeß einer allmählichen Einschränkung des Anwendungsbereiches von bereits voll ausgebauten Nationalsprachen wie dem Niederländischen oder Ungarischen thematisieren, die in der Wissenschaftsprosa zunehmend bzw. fast ausschließlich auf das Englische rekurrieren. Diese rückwärtsgerichtete Entwicklung definiert Oesterreicher im Folgenden als Rückbau einer Sprache, der letztlich auch bis zum Sprachtod reichen kann (cf. Oesterreicher 2004:32 bzw. 2005:100), wobei die Gefahr insbesondere bei bisher erst teilausgebauten Sprachen besteht, worunter er Sprachen versteht, die die letzte Stufe des Ausbaus bei Kloss (1978:52) nicht erreicht haben (5. Phase: Verwendung in Verwaltung, Medien, Forscherprosa).67

      Ein weiteres wichtiges Konzept in der Soziolinguistik, welches auf Kloss zurückgeht, ist das der Dachsprache. Den Terminus selbst hat Kloss nicht direkt geprägt, denn ihn interessierten zunächst die Ausnahmefälle, nämlich die Dachlosen Außenmundarten, wie ein Kapitel in der Zweitauflage seiner Monographie auch explizit heißt (Kloss 1978:5). In der ersten Fassung von 1952 trifft er noch die grundlegende Unterscheidung zwischen gehegten und wilden Mundarten, wobei erstere als Bezugsrahmen eine ihr verwandte Kultursprache besitzen, während letztere unter einem „fremden“ Dach existieren.

      Da ist zunächst die Unterscheidung zwischen gehegten und wilden Mundarten. Normalerweise wird eine Mundart gesprochen von einer Bevölkerung, die als Schriftsprache die der Mundart linguistisch zugeordnete Kultursprache gebraucht. […] In all diesen Fällen entwickelt sich die Mundart gleichsam im Gehege der ihr linguistisch zugeordneten Schriftsprache. […]

      Die Lage einer wilden Mundart ist grundlegend anders. Ihr Sprecher gebraucht eine Schriftsprache, die mit der Mundart linguistisch wenig oder gar nicht verwandt ist. […] Alle solche wilden Mundarten, welche dem hegenden Einfluß der nächstverwandten Kultursprache entzogen sind, pflegen im Laufe der Zeit ein besonderes Gepräge anzunehmen, das von dem der ihr zugehörigen Schriftsprache und der von ihr gehegten Mundarten abweicht. (Kloss 1952:21–22)

      Diese dichotomischen Begriffe zur Verdeutlichung der Tatsache, daß die Entwicklung einer Varietät in einem sprachsoziologisch anderen Kontext mit einer anderen Schriftsprache als Referenz anders verläuft als unter „normalen“ Umständen, unter denen verschiedene diatoptische Varietäten als Bezugspunkt eine ausgebaute Standardvarietät gleichen Ursprungs haben, finden in der weiteren Forschung keine Forstsetzung, sondern gerade die nur in der zugehörigen Fußnote als alternativ Benennungen zu „wild“ und „gehegt“ vorgeschlagenen.68

      Den eigentlichen Begriff ‚Dachsprache‘ hat dann Goebl mit Verweis auf die ursprüngliche Metaphorik bei Kloss in einer Untersuchung zur normannischen scripta eingeführt,69 zunächst auf Französisch als toiture (Goebl 1975:154), dann auch auf Deutsch – Ironie der Forschungsgeschichte, wieder „nur“ in einer Fußnote (Goebl 1975:154, FN 20).70

      Weiterhin im Rahmen dieses Bild des Daches verankert, wurde im Folgenden durch den Begriff der ‚Überdachung‘ bei Goossens (1971:20) noch die Prozeßhaftigkeit bei der Bildung eines Daches hervorgehoben, wie es im Zuge der Entwicklung und des Ausbaus von Varietäten