Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua. Roger Schöntag

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(wenn auch nicht ausschließlich)53 – oder eine jede noch so geringe diatopisch markierte Veränderung vom entdialektalisierten Pariser Becken erweist sich bereits als äußerst auffällig.54 Hingegen sind Merkmale, wie sie Endruschat/Schmidt-Radefeldt (2008:222–226) unter dianormativ oder diaplanerisch aufführen, nicht als eigentliche Varietät zu verstehen, sondern Teil der Sprachpolitik oder eines historischen Normierungsprozesses und das, was sie unter diaevaluative Varietät subsumieren, Teil eines Stilregisters, genauso wie unter Umständen Elemente der als diafrequent bezeichneten Dimension.55

      Es sei hier tabellarisch noch einmal die Vielfalt der heutzutage existierenden dia-Begriffe zusammengestellt und dabei gleichzeitig die Frage gestellt, wie sinnvoll diese dia-Proliferation sein kann?

Coseriu (1958) Koch/Oesterreicher (1990) Hausmann (1979, 1989) Schmidt-Radefeldt (1999) Thun (2000)
diatopisch diatopisch diatopisch diatopisch diatopisch
diastratisch diastratisch diastratisch diastratisch diastratisch
diaphasisch diaphasisch diaphasisch diasexuell diasexuell
Nähe-Distanz (diamesisch) diamedial diagenerationell diagenerationell
diaevaluativ diaphasisch diaphasisch
diatextuell diamedial dialingual
diakonnotativ diakonzeptionell diatopisch-kinetisch
dianormativ diatechnisch diareferentiell
diaintegrativ diasituativ
diatechnisch diatextuell
diafrequent diaevaluativ
diachronisch diafrequentativ
diaintegrativ
dianormativ
diaplanerisch

      Abb. 1: Übersicht zu den dia-Begriffen

      Für eine Beurteilung der hier dargestellten Begrifflichkeiten, auch im Hinblick auf die geplante Analyse in vorliegender Arbeit stellt sich zunächst die Frage cui bono?

      Wenn Hausmann (1979, 1989) anknüpfend an die zu dieser Zeit bereits bestehenden Termini weitere prägt,56 um im Sinne einer lexikographischen Beschreibung die Struktur des in Wörterbüchern dargestellten Lexikons besser zu erfassen zu können, so ist das legitim und sinnvoll, wobei jedoch nicht vergessen werden darf, daß es sich dabei um einen anderen Beschreibungsrahmen als den von Coseriu intendierten handelt (cf. dazu auch explizit Schöntag 1998/2009:164).57 Das gleiche gilt mutatis mutandis für eine Beschreibung im Zuge der sprachgeographischen Erfassung von Unterschieden, wie sie Thun (2000:4–5) in seiner pluridimensionalen Dialektologie vornimmt.58 Problematisch wird es nur, wenn wie bei Endruschat/Schmidt-Radefeldt (2008) man einerseits weitgehend im ursprünglichen Varietätenmodell von Coseriu bleibt, also auf die Erfassung der Heterogenität der historischen Einzelsprache an sich abzielt, aber dann den Beschreibungsapparat womöglich überdehnt und damit auch den Unterschied von Varianz (bzw. Varianten) und Varietät verwischt.

      3.1.2 Soziolinguistische Perspektive

      Das Verhältnis von Soziolinguistik und Varietätenlinguistik wird oft als inklusives verstanden, insofern die Betrachtung der Varietäten als Teil einer weiteren Perspektive allgemeiner gesellschaftlicher und individueller Faktoren, die die Art des Sprechens mitbestimmen, gesehen wird. Mitunter werden beide Begriffe auch unterschiedslos verwendet, um die gleiche Disziplin zu bezeichnen, aber in der neueren Forschung werden sie meist als zwei getrennte eigenständige Teilbereiche der Sprachwissenschaft mit unterschiedlichen Schwerpunkten, aber großem Überschneidungsbereich, wahrgenommen (cf. Sinner 2014:9–11).59 Das Verhältnis von Soziolinguistik und Varietäten- sowie Variationslinguistik ist vorwiegend an die Forschungstradition einzelner Fächer und Länder gebunden. Während in der deutschsprachigen romanistischen Wissenschaft, in der Nachfolge Coserius, die Varietätenlinguistik einen betont eigenständigen und prominenten Charakter aufweist, ist in germanistischer Tradition die Differenzierung oft nicht so eindeutig vorgenommen bzw. tendenziell die Varietätenlinguistik (hauptsächlich Dialektologie) oft in die Soziolinguistik inkorporiert (cf. z.B. bei Veith 2002).60

      Für vorliegende Untersuchung sind insbesondere diese Schnittstellen und Perspektivenwechsel von Interesse, denn gerade in der Entstehungsphase oben diskutierter Varietätenmodelle waren Erkenntnisse aus Untersuchungen von Belang, die traditionell der Soziolinguistik zugerechnet wurden.

      Begrifflichkeiten, die später auch indirekt im Varietätenmodell von Coseriu und Koch/Oesterreicher, aber vor allem im Konzept der Diskurstraditionen eine große Rolle spielen, sind die von Kloss (1952/1978) im Rahmen seiner Betrachtung zur Entwicklung neuer germanischen Kultursprachen geprägten, von denen im vorliegenden Zusammenhang der des ‚sprachlichen Ausbaus‘ als wichtigster Terminus zur Beschreibung einer bestimmten Art von Funktions-, Anwendungs- und Prestigewandel einer Sprache herausragt. Im Zuge seines Versuchs, ‚Sprache‘ und ‚Dialekt‘ voneinander abzugrenzen, führt er anhand von Einzelbeispielen die Begriffe ‚Ausbausprache‘ und ‚Abstandsprache‘ ein: