Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua. Roger Schöntag

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in diesem Modell oder neutraler formuliert die Referenzvarietät.40 Wie Dufter (2018:67–69) zu Recht festestellt ist es nicht unproblematisch, die üblicherweise als diatopisch ,neutral/unmarkiert‘, diastratisch ,höhere Gesellschaftsschicht‘, diaphasisch ‚höheres Register‘ verstandene variété zéro (ibid. 2018:67) eindeutig zu verorten, zumal wenn es sich um nicht-standardisierte Sprachen – das sind die meisten der Welt – oder plurizentrische Sprachen handelt.

      Weitere Probleme des Modells ergeben sich vor allem im Bereich der konkreten Anwendung wie am empirischen Teil von Koch/Oesterreicher (2011) selbst deutlich wird.

      So beginnt das Kapitel zur Italienischen Nähesprache im weiteren Sinne, in welchem diastratische und diaphasische Merkmale zusammen untersucht werden, mit einer Apologetik:

      Dass wir diese Mittelzone im folgenden Abschnitt zusammenfassen, heißt nicht, dass wir den bedeutsamen Unterschied zwischen der diastratischen und der diaphasischen Varietätendimension verwischen wollen. (Koch/Oesterreicher 2011:208)

      Dies mag theoretisch glaubhaft und begründet sein, aber die weiteren Ausführungen zu den einzelnen Stilregistern (Diaphasik) und den einzelnen schichtengebundenen Varietäten (Diastratik) zeigen, genauso wie die angesprochenen einzelnen Merkmale, daß die Unterscheidung tatsächlich nicht ohne weiteres aufrechtzuerhalten ist. Exemplifizieren läßt sich das an der Behandlung des italiano popolare, welches sie als eine genuin diastratische Varietät (ibid. 2011:208) bezeichnen, und zwar im Gegensatz zum français populaire, welches strikt diaphasisch wäre. Dann sind sie jedoch gezwungen zu konstatieren, daß es generell im Italienischen keine lautlichen Merkmale gibt, die „genuin diastratisch oder diaphasisch markiert“ (ibid. 2011:2009) wären. Im Bereich der Morphosyntax wiederum gäbe es wiederum „praktisch keine morphosyntaktischen Erscheinungen, die genuin diaphasisch niedrig markiert sind“ (ibid. 2011:210). Zwischenresümee wäre dann, daß in der Lautung aus diastratischer und diaphasischer Perspektive keine Merkmale vorhanden sind (nur sekundäre aus der Diatopik) und in der Morphosyntax nur diastratische, also solche des italiano popolare. Was die Lexik anbelangt, so ist die Diastratik hier im Prinzip auf Gruppensprachen beschränkt (gerghi) (ibid. 2011:211), es sind also keine bzw. kaum Merkmale festzustellen, die dem italiano popolare im Sinne einer schichtenspezifischen Sprache zuzurechnen wären. Aus ihrer eigenen Argumentation, nach der ja prinzipiell Phänomene von der diastratischen Dimension in die diaphasische aufrücken können, wäre an dieser Stelle doch eigentlich die Schlußfolgerung nötig, daß das italiano popolare im Italienischen, offensichtlich auch auf der diaphasischen Ebene funktioniert.41 Zudem wird offensichtlich, daß beide Dimensionen, zumindest für das Italienische, kaum zu trennen sind, sonst gäbe es zahlreichere und salientere Unterscheidungsmerkmale. Weiterhin wird ebenfalls deutlich, daß innerhalb der Diastratik – von Gruppensprachen abgesehen – keine weiteren Schichten des Substandards faßbar sind und in der Diaphasik die verwendeten Begrifflichkeiten kaum zuzuordnen sind, wie sie selbst eingestehen.42

      Was die Italienische Nähesprache im engeren Sinne anbelangt, d.h. die Dimension der unmarkierten Mündlichkeit, so konzentrieren sich die herausgefilterten Merkmale im Wesentlichen auf die Morphosyntax (ibid. 2011:213). Gerade bei so manchem der hier aufgelisteten sprachlichen Charakteristika stellt sich jedoch unweigerlich die bereits von zahlreichen Kritikern angesprochene Frage, ob dies nicht doch eher eine Frage des Registers ist. Betrachtet man beispielsweise das System der Demonstrativa, in dem zwischen dem dreistufigen im Schriftlichen und dem zweistufigen im Mündlichen unterschieden wird, so ist zumindest zu bezweifeln, ob das Modell der präskriptiven Norm in konzeptionell und medial schriftlichen Texten noch durchgehalten wird. Über aller Differenzierung schwebt zudem im Italienischen immer die Frage nach der diatopischen Prägung, was eine Einordnung in die Dimensionen der Diastratik/Diaphasik und erst recht in die vierte der Unmarkiertheit erheblich erschwert. Koch/Oesterreicher (2011:213–214) gestehen für die Nähesprache im engeren Sinne ein, daß aufgrund der diatopischen Implikationen für das Italienische hier keine Aussage für den lautlichen Bereich getroffen werden kann, woran sich jedoch unweigerlich die Frage anschließt, wieso dies dann ohne weiteres für andere Bereiche möglich sei.

      Damit soll nicht etwa das Modell per se in Frage gestellt werden, sondern lediglich, daß unterschiedliche Sprachen unterschiedliche Varietätenräume haben, die je auf eine andere Art und Weise funktionieren. Es hat wohl durchaus seine Berechtigung, daß Söll einst seine begrifflichen Unterscheidungen am Französischen entwickelte, da in dieser Sprache der Abstand zwischen gesprochener und geschriebener Sprache enorm groß ist. Dies ist auf die starke Normierungsphase, die das Französische durchlief, zurückzuführen und die noch immer starke Präsenz einer präskriptiven Norm, die wohl auch dazu beitrug, daß sich ein dezidiertes Bewußtsein für Stilregister herausgebildet hat.43 Zudem hat sich das Französische – zumindest in Frankreich – zu einer Sprache mit sehr schwacher diatopischer Ausprägung entwickelt.44 Mit anderen Worten: Wenn eine Sprache in das Koch/Oesterreicher-Modell paßt, dann am ehesten das Französische. Die Konsequenz, die sich daraus ergibt, ist vor allem, daß man das Coseriu-Koch/Oesterreicher-Modell flexibler handhabt und nicht der Versuchung erliegt, alle „Leerstellen“ mit sprachlichen Merkmalen und Kategorien auffüllen zu müssen.

      Das Problem der „Enge“ des Modells, und zwar schon des ursprünglichen bei Coseriu, wird genau an der besprochenen Schnittstelle zwischen Diaphasik und Diastratik virulent, wie sich in der umfangreichen Forschung zu varietätenlinguistischen Fragestellungen auf der Basis des Diasystems zeigt.45 Problematisch erscheint vor allem die Frage, wie die diastratische Ebene in modernen Gesellschaften zu verstehen ist, in denen es keine ausgeprägten Schichten mehr gibt, bei denen durch ein entsprechendes Standes- oder Klassenbewußstein auch die Art der sprachlichen Äußerung eben an diese Gesellschaftsschicht (lat. stratum) gebunden ist. Andererseits sind die (post)modernen Gesellschaften nach wie vor in verschiedene Gruppen gegliedert, aber zum Teil eben in anderer Form, wobei stärker als zu früheren Zeiten ein Individuum oft an vielen verschiedenen sozialen (und sprachlichen) Gruppen partizipiert. Letztlich hat es sich in weiten Teilen der Forschung eingebürgert den Begriff ‚diastratisch‘ sowohl für bestimmte an Schichten gebundene Varietäten zu verwenden, als auch im Sinne von Gruppen-, Sonder- und Fachsprachen.46 Das mag unter Umständen vertretbar sein, wenn man eine Gesellschaftsschicht im Sinne einer großen Gruppe interpretiert, aber wirklich schlüssig ist diese Vermengung von Ebenen nicht. Hinzu kommt, daß innerhalb von einzelnen Gruppensprachen – zu bestimmen nach Parametern wie Alter, Geschlecht, Beruf etc. – wiederum eine große Heterogenität festzustellen ist.47

      Der Versuch, diese im Zuge weiterer Forschung vermehrt in den Fokus geratenen Bereiche gruppensprachlich bedingter Kommunikation zu klassifizieren, mündete vor allem in der Romanistik in eine Explosion der dia-Begrifflichkeiten. Eine erste Erweiterung erfuhr dabei das Coseriu’sche Dreierschema durch die Auseinandersetzung mit der metalexikographischen Forschung (cf. Hausmann 1977, 1989) und wurde bis hin zu einer extremen Ausprägung bei Schmidt-Radefeldt (1999)48 oder Thun (2000) betrieben. Die Blickweise schwankt letztendlich zwischen einer Gleichberechtigung aller neu konzipierten dia-Ebenen und der Unterordnung aller neuen unter das Dach der Diastratik. In beiden Fälle stößt das zunächst kompakte Modell – das ja auch schon von Anfang an umstritten war – an die Grenzen seiner Belastbarkeit.49

      Vergessen wird dabei oft, daß die Qualität der einzelnen Varietäten bzw. Ebenen im Modell sehr heterogen ist und letztlich nur die diatopische Ebene den Anspruch erheben kann, ein vollwertiges in sich geschlossenes Sprachsystem zu sein, wie bereits Coseriu konstatierte (cf. Coseriu 1988:51).

      In allen anderen Fällen stellt sich die unweigerlich die Frage: wieviel Variation ist nötig, um von einer Varietät sprechen zu können? Oder anders ausgedrückt: wieviele sprachliche Merkmale, im Sinne der Abweichung von einer Norm, sind nötig,50 damit man sinnvollerweise annehmen kann, daß hierbei eine eigene Varietät vorliegt?51

      Die Frage läßt sich nicht so ohne weiteres beantworten, auch deshalb nicht, weil es nicht nur auf die Anzahl der Charakteristika ankommt, die konstitutiv für eine Varietät sein sollen, sondern auch auf die Verankerung einer solchen im Sprecherbewußtsein.52 Unter Umständen reicht ein einziges Merkmal im Sinne eines Schibboleths, wie beispielsweise ein uvularer Vibrant oder Frikativ [ʀ, ʁ], bereits aus, um einen Italophonen regiolektal