Literarische Ästhetik. Jan Urbich

Читать онлайн.
Название Literarische Ästhetik
Автор произведения Jan Urbich
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846335437



Скачать книгу

mit Literatur ist. Aber zugleich muss sie zeigen, dass man große Potentiale von Literatur – und vielleicht sogar die wichtigsten – ungenutzt lässt, wenn man sich nicht einer Anstrengung aussetzt, die Hegel einmal so treffend die „Arbeit des Begriffs“ (Hegel 1988, S. 43) genannt hat.

      Theodor W. Adorno, einer der bedeutendsten Kunst- und Literaturtheoretiker des 20. Jh., hat in seinem kunstphilosophischem Hauptwerk Ästhetische Theorie das Verhältnis von Kunstwerk und Begriff, ästhetischem Erleben und sprachlichem Verstehen folgendermaßen beschrieben: „Deshalb bedarf Kunst der Philosophie, die sie interpretiert, um zu sagen, was sie nicht sagen kann, während es doch nur von Kunst gesagt werden kann, indem sie es nicht sagt.“ (Adorno 1996, S. 113) Hinter diesen rätselhaften Worten und der verschlungenen Argumentation, die noch an anderen Stellen dieses Buches zur Sprache kommen wird, steht erst einmal der Gedanke, dass Literatur auf ein Verstehen angewiesen ist, dass sich in Sprache artikuliert. Die „ästhetische Erfahrung“ von Literatur drängt darauf, sich in einem diskursiven Verstehen zu vertiefen: die reichen inhaltlichen Verweise, die genauen formensprachlichen Bezüge, das historische und intertextuelle Umfeld – all das und vieles weitere kann nur adäquat wahrgenommen werden, wenn es im Verstehen durch das Medium der Sprache festgehalten und bewusst gemacht wird. Bertolt Brecht hat in einem kleinen Text mit dem Titel Über das Zerpflücken von Gedichten (Brecht 1976, Bd. 19, S. 392f.) den „lebhaften Widerwillen“ des „Laien“ gegen das „Zerpflücken von Gedichten“ kritisiert und dagegen gerade die diskursive Analyse von Lyrik als Weg zu ihrer vertieften ästhetischen Erfahrung beschrieben: „Wer das Gedicht für unnahbar hält, kommt ihm wirklich nicht nahe. In der Anwendung von Kriterien liegt ein Hauptteil des Genusses. Zerpflücke eine Rose, und jedes Blatt ist schön.“ (Ebd., S. 393) Damit macht Bertolt Brecht klar, dass „Erleben“ und „Verstehen“

      [15]

      nicht als ausschließender Gegensatz verstanden werden darf, sondern als ein Ergänzungsverhältnis. Die begriffliche Analyse steht nicht anstelle des Werkes, sondern dient ihrerseits als Medium einer reicheren ästhetischen Erfahrung, zu der sie hinführen soll (vgl. auch Szondi 1978, S. 265f.).

      Diese Zusammenhänge werden in den Kapiteln 9 und 10 einer genaueren Betrachtung unterzogen. Für jetzt gilt es festzuhalten: Was für die konkrete Analyse des Einzelwerkes gilt, trifft auch auf die abstraktere, allgemeinere Analyse der Kunstwerkhaftigkeit von Literatur zu. Wie die Literatur auf ein Verstehen ihrer einzelnen Werke angewiesen ist, so auch auf ein Verstehen ihrer allgemeinen Merkmale: nicht zuletzt deshalb, weil das Problem, was Literatur eigentlich sei, gerade in der Moderne zu einem der wichtigsten Themen von Literatur selbst geworden ist. Mit dieser permanenten Selbstbezüglichkeit hat die Literatur der Moderne ein Merkmal produktiv aufgenommen, das ihr G. W. F. Hegel zu Anfang des 19. Jh. zugeschrieben hat (vgl. Hegel 1997, Bd. I, S. 127 – 144): Sie sei die ästhetisch höchste Form von kulturellem Selbstbewusstsein, also eine Weise, in der sich eine Kultur fundamental zu ihren eigenen Werten und Vorstellungen in ein verstehendes Verhältnis setzt (Kap. 13.3). Die Reflexion über den Literaturbegriff wäre demnach nur eine Verlängerung der reflexiven Tätigkeit, die Literatur selbst ist – und somit nichts Literaturfremdes. So wie in Literatur die Arten und Weisen, wie Menschen in einer bestimmten Kultur ihre Wirklichkeit erfahren, zu Bewusstsein gelangen, würde die Tätigkeit der Literaturtheorie diese innerliterarische Verstehensbewegung auf den Bereich der Literatur selbst erweitern. Sich derart über den „Begriff“ der Literatur in seiner historischen Veränderbarkeit zu verständigen, heißt, sich die wechselnden Vorstellungen bezüglich der Grundstrukturen, Funktionen und Grenzen der literarischen Kommunikation klar zu machen.

      Nur von einem solchen Verständnis aus, das die Geschichte der vorangegangenen Grundverständnisse von Literatur reflektiert und in sich aufgenommen hat, lässt sich sinnvoll darüber reden, welche Fähigkeiten und Möglichkeiten die literarische Rede generell eröffnet und auf welchem Wege diese Potentiale am besten genutzt werden könnten. Es ist also nicht nur im Sinne eines umfassenden wissenschaftlichen Vorgehens, sondern auch im Sinne der ganz gewöhnlichen Leseerfahrung nützlich

      [16]

      und notwendig, sich in die Reflexionsinstrumente des Literaturbegriffs einzuüben. Jedes literarische Werk führt die Geschichte der Einzelwerke, Gattungen, Epochen und Literaturvorstellungen virtuell mit sich und entsteht immer auch aus der Auseinandersetzung mit seinen historischen Vorgaben, die es bestätigt, relativiert, transformiert oder revolutioniert. Somit kommt nur der Leser befriedigend an die Potentiale der singulären, unmittelbaren ästhetischen Erfahrung heran, die sich in ihm einstellen, wenn er sich die Mühe macht, den Hintergrund der Begriffsbildung zu vergegenwärtigen, an dem sich das Werk bis in seine konkretesten und sinnlichsten Details hinein abarbeitet.

Der Begriff der Theorie und die theoretische Form der Literaturerfahrung

      Warum muss dieses Nachdenken über Literatur aber als „Theorie“ stattfinden? Was ist der Vorteil einer „theoretischen“ Erschließung gegenüber einem nichttheoretischen Denken, das es zweifelsohne gibt und das sogar den „Normalfall“ der denkenden Betrachtung darstellt? Um dies zu beantworten, ist es notwendig, sich in aller Kürze darüber zu verständigen, was denn „Theorie“ in diesem Zusammenhang bedeutet und was sie leistet (zum antiken Sinn von „Theorie“ bei Aristoteles informativ Welsch 1996, S. 855 – 859). Dabei ist es sinnvoll, von den unzähligen wissenschaftlichen Zusammenhängen, in denen der Theoriebegriff eine jeweils etwas andere Rolle spielt, abzusehen, und sich stattdessen auf generelle Eigenschaften theoretischer Rede zu konzentrieren.

      Jede Wissenschaft ist dort, wo sie ihre einzelnen Forschungsergebnisse in möglichst umfassender Weise deuten und begreifen will, auf Theoriebildung angewiesen: also darauf, nicht beim Einzelnen stehenzubleiben, sondern Gesetze, Regeln, Zusammenhänge, Bedingungen, Funktionen und Folgen bezüglich ihres Gegenstandsbereiches festzustellen. Umgekehrt lässt sich in keiner Wissenschaft überhaupt irgend etwas beobachten, solange man nicht durch theoretische Arbeit die Beobachtungsinstrumente erzeugt hat: Wissenschaftstheoretiker sprechen dabei von der „Theoriebeladenheit der Beobachtung“ (Carrier 2009,

      [17]

      S. 19; vgl. Breidbach 2005). Die Dinge und Sachverhalte der Lebenswelt, um die wir uns denkend kümmern, führen ihre begrifflichen Erschließungsmöglichkeiten nicht wie wahrnehmbare Tatsachen mit sich: Wir nehmen die verschiedenen Möglichkeiten, bspw. Bäume begrifflich zu beschreiben, nicht in derselben mühelosen Weise wahr, wie wir Bäume selbst in ihrer reinen Wirklichkeitspräsenz ohne jede weitere Anstrengung als körperliche Dinge von bestimmter Form, Größe und Farbe erfahren. Theoretische Arbeit steht also am Anfang und am Ende jedes wissenschaftlichen Arbeitsprozesses. Sie bildet die Klammer um die Gegenstandserkenntnis und macht es möglich, einzelnen Ergebnissen einen übertragbaren Rahmen zu geben: d. h. das Einzelne als Teil eines rationalen Zusammenhangs von Ursachen und Gründen zu begreifen.

      Dabei kann man schematisch vier Erkenntnisinteressen von Theoriebildung unterscheiden (in leichter Abwandlung von Eberhard 1999, S. 16): das phänomenale, das kausale, das rationale und das aktionale. „Phänomenal“ erzeugen Theorien „Hypothesen und Thesen über das Erscheinungsbild des Erkenntnisgegenstandes“ (ebd.). Sie denken darüber nach, auf welche Weise und mit welchen (begrifflichen) Mitteln sich die Eigenart des Gegenstandes am genauesten und angemessensten beschreiben lässt. „Kausal“ stellen Theorien ihren Gegenstand in ein Geflecht äußerer Ursachen und fragen nach seinem Zustandekommen. „Rational“ fragen Theorien nach dem Zusammenhang von Gründen, der ihren Gegenstand so bestimmt hat, das er ist, wie er ist. Und „aktional“ denken Theorien über „Einwirkungsmöglichkeiten“ auf den Gegenstand nach, also darüber, wie man ihn erzeugen, beeinflussen oder verhindern könnte. Schließlich müsste man noch eine fünfte Dimension hinzufügen, die man das „historische“ oder auch das „metatheoretische“ Interesse der Theorie nennen kann. Theorien müssen sich in hohem Maße auch dafür interessieren, in welcher Weise bisherige Theorien ihren Gegenstand erforscht haben. Denn es hat sich gezeigt, dass in größeren zeitlichen Abständen oftmals „wissenschaftliche Revolutionen“ stattfinden, die deutlich machen, dass selbst in den Naturwissenschaften die grundlegendsten und anerkanntesten Theorien eines Gegenstandsbereiches