Sprechen wir über Europa. Félix Brun

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Название Sprechen wir über Europa
Автор произведения Félix Brun
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783039199518



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statt uns mit uns selbst auseinanderzusetzen, nur noch der Arbeit und dem Konsum widmen, ist verheerend, sie ist tödlich. Als Lukas Bärfuss in einer Brandrede in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die heutigen Zustände in der Schweiz anprangert, wird er in Schweizer Medien aufs Heftigste persönlich angegriffen.

      «Wie ist er denn, der Mensch?»,32 lässt der Schriftsteller Lukas Bärfuss eine seiner Figuren einmal fragen. Vielfältig ist er, soviel steht fest. Wer nur schon zwei oder drei Bücher des Autors gelesen hat, der wird diese Erkenntnis nicht mehr bestreiten. Echt sind sie, die Figuren in seinen Geschichten, sie tauchen auf und verschwinden wieder, alles eigentlich Nichtsnutze und doch imstande, unser Weltbild gehörig aus den Angeln zu heben, Parzival und David die einen, Eva und Alice die anderen. Es sind gewöhnliche Leute. Aus allen möglichen Schichten kommen sie und formen sich unter den Fingern dieses Autors zu wuchtigen Gestalten, sind plötzlich Philosoph, dann Mörder, dann wieder einfach nur leidenschaftlich Liebende. Es wird einander nachgestellt, Schwierigkeiten treten auf, Neid, Eifersucht, Missgunst, Rache, es wird intrigiert, der Jähzorn bricht von Zeit zu Zeit aus diesen Menschen, dann fluchen sie, und die derben Wörter stehen so irritierend im kunstvollen Text. Die Figuren verirren sich und finden sich meist wieder, als seelische Wracks, Gewalttäter, kleine Möchtegerndiktatoren oder Beziehungstyrannen, verelendet – wie etwa Parzival – auf der ewigen Suche nach dem heiligen Gral. Diese Menschen brauchen keine Kostüme, sie rauchen in einer miefigen Wohnung eine letzte Zigarette und lassen sich von Herrn Dr. Gustav Strom, dem Sterbehelfer, ins Jenseits befördern. Einfach so. So einfach.

      Was nützt uns das, die Vielfalt des Menschen in der Literatur, mal vom Lesegenuss abgesehen? Zunächst einmal: nichts. Das sagt auch der Autor: Literatur bringt nichts. In seinem Buch Koala stellt der Erzähler seinen Ehrgeiz an den Pranger und sagt, er habe zwar stets täglich sein Soll erledigt und habe sich nur schlafen gelegt, «damit ich wieder frisch war für das nächste Tagwerk»,33 doch genützt habe es letztlich nichts: «Was ich damit schuf, war Abfall, ein grosser Haufen Vergeblichkeit, eine Beschäftigung um der Beschäftigung willen.» «Es wird nicht helfen», schreibt der Autor konsterniert, «nicht dir, nicht deinen Kindern, nicht der Welt.»34 Literatur, das Lesen: vergeudete Zeit, sagt Lukas Bärfuss. «In der Zeit, die sie jetzt gerade mit Lesen vergeuden, nimmt das Elend der Welt zu, während sie nicht das Geringste dagegen tun.»35 Literatur hilft nicht. Und doch hat Bärfuss bis heute nicht mit dem Schreiben aufgehört. Vielleicht sollten wir also statt nach ihrem Nutzen eher fragen, was Literatur ist oder was sie sein kann?

      Literatur, so der Autor an anderer Stelle, ist Gestaltung, ist Malerei, ist Veranschaulichung, sie ist also eine Form der Kunst. «Worte definieren Bilder / und Bilder definieren Werte.»36 Werte, ein konservatives Wort. Ein gesellschaftlicher Wert hat sich über lange Zeit herausgebildet, er besitzt eine gewisse Konstanz. Doch gibt es einen Wert, der sich gerade durch seine stete Veränderung als Wert auszeichnet. Vielfalt. Vielfältig ist das menschliche Leben, und es ist ständiger Veränderung unterworfen. Lukas Bärfuss, ein Schweizer, ein Berner, ein Berner Oberländer, wird immer wieder an die Vielfalt, an «den Reichtum der deutschen Sprache»37 erinnert: «Über mein Idiom / wann immer ich das Bernbiet verlasse / machen sich die Leute lustig.»38 Man fühlt sich an Friedrich Dürrenmatt erinnert. Als Schweizer fühlt man sich im Hochdeutschen streng beobachtet. Man quittiert es mit Humor, mehr noch, man nimmt es als Kompliment. Wir reden anders als ihr, und trotzdem haben wir etwas zu sagen. Der Wert der verschiedenen Dialekte, der Wert des freien Wortes: eine schweizerische, aber auch eine europäische Möglichkeit. Man kann sich verbinden, trotz der Vielzahl von Sprachen und Idiomen. Man spricht eine gemeinsame Sprache, trotz unterschiedlicher Dialekte, ja sogar trotz unterschiedlicher Sprachen. Man spricht, zum Beispiel, die Sprache der Aufklärung: Wer sich verbindet «mit den anderen / Mit den Fremden / […] beginnt zu denken».39 Wo die Sprache auf Vielfalt hinweist, da ist das «Faktische» abgeschafft, da kann ein «Entwurf der Möglichkeiten»40 ausgestaltet werden. Und damit wird, mit den Worten Lukas Bärfuss’, nichts Geringeres als die Aufklärung – eine genuin europäische Errungenschaft – selbst gerettet.41 Man muss versuchen, sich zu verstehen, muss Fragen stellen und Fragen beantworten, so findet man trotz unterschiedlicher Sprache zu einem gegenseitigen Verständnis. Wo Fragen sind, da wird nachgedacht. Der Ausgang dieses Nachdenkens ist ungewiss, er ist beliebig, vielfältig.

      Sprache, Literatur: ein Ort der Verbundenheit mit der Komplexität dieser Welt, ein Möglichkeitsort. Wo Geschichten sind, da ist Kommunikation, da wird etwas vermittelt, wo etwas vermittelt und nicht einseitig behauptet wird, da gibt es auch Differenzen. «Ohne […] Konflikte gibt es keine Literatur»,42 sagt Bärfuss. Die Frage ist also, ob Konflikte möglich sind oder nicht. Totalitäre, mittlerweile auch populistische Gesellschaften lassen den Konflikt nicht zu: «Der Feind ist der Feind. Das Volk ist das Volk. Die Schande ist eine Schande.»43 In demokratischen Gesellschaften hingegen ist der Konflikt konstitutiv, überlebensnotwendig. Wo Differenzen offen ausgesprochen werden können, wo die Rede frei ist, da öffnet sich für den Schriftsteller Lukas Bärfuss ein Raum für Wahrheit. «Wahrheit», so Bärfuss, «braucht Dialektik, sie braucht Kritik.»44 Wahrheit ist eine Erfahrung, keine Offenbarung, sie wird ausgehandelt, ist nicht in Stein gemeisselt. «In allen Himmeln / In allen Zeiten / gab es nicht zwei gleiche Schneekristalle / Jeder ist einzigartig.»45 Jeder ist einzigartig. Und Bärfuss meint damit natürlich den Menschen. Als Redner an einer Maturitätsfeier – hier zitiert aus Stil und Moral – erklärte er einmal: «Die Matura ist vielleicht nichts Besonderes Aber Sie Sie sind etwas Besonderes Jede und Jeder von ihnen ist einzigartig […] Sie können sich darauf verlassen Sie sind einzigartig Punkt.»46

      Der Mensch also ist einzigartig in seiner Vielfältigkeit. Und so sind es auch die von Lukas Bärfuss geschaffenen Figuren. Alle seine Figuren: einzigartig. Ihr Denken, Fühlen, Handeln: einzigartig. Als der Sterbehelfer Gustav das einmal genau so sagt zu einem Kunden: «Everyone is unique», da quittiert dies sein Gegenüber zwar mit einem müden «Yeah, blablablabla, Doctor, blabla»,47 doch diese Reaktion ist gerade der Beweis seiner Einzigartigkeit, dafür, dass er eine eigene Meinung hat und es ihm möglich ist, diese Meinung auch mitzuteilen, den Konflikt auszutragen. In der Möglichkeit des Konflikts werden die Figuren in Lukas Bärfuss’ Texten zu Menschen.

      In einer freiheitlichen Gesellschaft einzigartiger Menschen entwickeln sich unendlich viele Konflikte. Mit ihnen klarzukommen, dazu braucht es eine grosse Offenheit. Ist jeder Mensch einzigartig, fehlt die Möglichkeit der Gleichschaltung und damit der Boden für Totalitarismen. Vielleicht aber, und das ist die grosse Herausforderung, sind hier die Gemeinschaft und ihr Zusammenhalt in Gefahr. Gemeinschaften stehen auch für das «Begehren […], aus vielen Körpern einen Körper, aus vielen Geistern einen Geist formen zu wollen».48 Und wer sich von diesem Gedanken der Einheit entfernen möchte, der muss einen Preis bezahlen, «den Preis, sich endgültig getrennt zu wissen und alleine».49 Ist das nicht die grösste Gefahr im heutigen Europa? Die Vereinsamung, die völlige Isoliertheit? Ist es nicht diese Einsamkeit, welche die Menschen in die Arme der populistischen Parteien treibt, die ihnen wieder eine Identität als Heimat versprechen, eine Gemeinschaft, ein Volksgefüge, eine Definition von Nation?

      Ein Denkfehler. Nicht die Einzigartigkeit der Menschen macht sie einsam, sondern ihr Unvermögen, ihr Unwissen darüber, wie mit dieser Einzigartigkeit umzugehen ist, inwiefern sie für sie ein Gewinn sein kann. «Der Zeitgenosse», so Bärfuss kritisch, «hat gelernt, seinen Alltag pragmatisch anzugehen. Das heisst in seinem Fall: darauf zu achten, als wirtschaftliches Subjekt zu bestehen.»50 Die Anpassung, die Leere, das Lauwarme, die Gemütlichkeit: Immer wieder streben die Figuren in Bärfuss’ Texten danach. Dem widerspenstigen Tony werden mittels eines chirurgischen Eingriffs des Autors im Stück Zwanzigtausend Seiten kurzerhand alle schlechten Seiten wegoperiert. «Wir konnten die Seiten, die Tony belastet haben, entfernen und durch solche ersetzen, mit denen er sein Leben erfolgreich gestalten kann»,51 erklärt die Therapeutin der Leserin, dem Leser jetzt nüchtern. Der Makel gilt nicht mehr als Spezialität, sondern als störendes Geschwür. Der Rückzug in sich selbst wird bei Bärfuss zu einem Credo, niemand möchte mehr anecken, niemand dem anderen zur Last fallen. Die Jugend und mit ihr das Aufbegehren, das Rebellieren wird zu einer «Provokation».52 Kritische Stimmen werden rar, sie werden zu Ikonen,