Sprechen wir über Europa. Félix Brun

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Название Sprechen wir über Europa
Автор произведения Félix Brun
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783039199518



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gerade erst begonnen. Den Sturm auf die Chefredaktion der Neuen Zürcher Zeitung konnte eine mutige Redaktion gerade noch verhindern. Bei der Neubesetzung der Feuilletonleitung ist ihr das leider nicht mehr gelungen. Der rechte Verwaltungsrat hat aus der vorigen Niederlage gelernt und im letzteren Fall den Arbeitsvertrag wohl zuerst unterschrieben – und dann erst über die Personalie informiert. Was vom neuen Kulturchef zu erwarten ist, bleibt abzuwarten. Ein Schuft, der an seiner Haltung zweifelt, nur weil sein letzter Arbeitsort eine Publikation mit einschlägig faschistischer Vergangenheit ist. In diesem Familienstück der Reaktionäre hiess der Chefredakteur früher ‹Hauptschriftleiter›, die Financiers hofierten Hitler und versorgten den Faschismus mit Barschaft. Heutzutage kommt das Geld von einem Privatbankier, der sein Institut unter dem Druck der amerikanischen Steuerbehörden verscherbeln musste. Aber auch danach blieb offensichtlich genug Geld und Einfluss übrig, um seinen journalistischen Zögling in eine der einflussreichsten Positionen der deutschsprachigen Publizistik zu hieven. Qualifikationen? Unnötig. Internationale Erfahrung? Das wäre in diesen Tagen geradezu unerwünscht.

      Aber es gibt ja noch die Konkurrenz auf der anderen Seite der Sihl. Leider scheint auch mancher Redaktor des Tages-Anzeiger mittlerweile von den ewigen Budgetkürzungen zermürbt. Anders kann man es sich nicht erklären, dass der dortige Kulturchef in dasselbe Horn wie jener Schriftsteller bläst, der neulich in der NZZ zur Schliessung von Theatern aufgerufen hat und obendrein die nicht ganz von der Hand zu weisende Behauptung aufstellte, Dichter von seiner Sorte gebe es zu viele – ein Mann, der am Schweizerischen Literaturinstitut den Nachwuchs ausbildet. Solche spektakulären Pointen kann man bei der NZZ noch verlässlich dem neoliberalen Schema und ihrem Duktus zuordnen.

      Beim Tages-Anzeiger scheinen sie bisweilen nur noch verwirrt zu sein. Das ist allerdings kein Wunder in einem Haus, das fünfzig Prozent des Geschäfts nicht mehr mit Journalismus, sondern mit Adresshandel und einem Internetauktionshaus verdient. Noch weniger erstaunlich ist es, wenn man weiss, dass in diesem Mischkonzern in den letzten Jahren eine gute Milliarde von den Redaktionen zu den Aktionären verschoben wurde. Hierzulande zählt man nur noch mit neun Nullen. Für manches Rückgrat in den Redaktionsstuben ist das nicht ohne Folgen geblieben.

      Ein Volk von Zwergen

      Hoffnung brächte eigentlich das gebührenfinanzierte Staatsfernsehen. Doch was man dort von Kritik hält, zeigt sich in der Art und Weise, wie man mit Intellektuellen umspringt. Ein kritischer Film über die Schweiz, verantwortet vom Schriftsteller Robert Menasse und dem Übersetzer Stefan Zweifel, wurde kurzerhand aus dem Programm gekippt. Und auch hier fanden die Verantwortlichen, als sie sich nach Tagen zum ersten Mal vernehmen liessen, nur die Fadenscheinigkeit der mangelnden Qualität und also die bekannte Rückzugsposition aller Feiglinge als Rechtfertigung für die Zensur. Vertrauen kann ein Schweizer Bürger heute eigentlich nur noch auf die Justiz. Allerdings nicht auf die schweizerische, sondern auf die amerikanische. Sie sorgt regelmässig dafür, dass die Eidgenossenschaft den Kontakt zu den zivilisatorischen Nationen nicht ganz verliert. Ohne die Staatsanwälte aus Übersee hätten die Banken das Gold der ermordeten Juden bis heute nicht zurückbezahlt. Die internationalen Steuerhinterzieher würden sich immer noch auf das Bankgeheimnis verlassen können. Und korrupte Sportfunktionäre könnten weiterhin unbehelligt von Zürich aus die Jugend der Welt an den Mammon verkaufen. Da nimmt man als Bürger die peinlichen Wildwest-Szenen aus den Strassen Zürichs, die im Sommer um die Welt gingen, gerne in Kauf. Ein Volk von Zwergen will man hierzulande sein und bleiben. Darauf besteht man durch alle sieben Böden und bis ins hinterste Tal. Und man zeigt sich jetzt immer erstaunter, dass man vom Ausland plötzlich auch als Zwerg behandelt wird. Die Schweiz hat immer weniger zu sagen. Die Verhandlungen über das europäisch-amerikanische Freihandelsabkommen finden selbstverständlich ohne die Schweiz statt. Die neuen Bestimmungen in allen wirtschaftlichen Bereichen werden die Schweiz in einer Weise verändern, die die Torturen der letzten Jahre als lockere Dehnungsübungen aussehen lassen werden. Als Schweizer hat man dazu kein Wort zu sagen, aber wir werden natürlich nachvollziehen müssen. Der einzige Trost liegt im Umstand, dass man sich auch daran mittlerweile gewöhnt hat. Ein guter Teil der eidgenössischen Verwaltung ist damit beschäftigt, Gesetze nachzuvollziehen, die nicht in Bern, sondern in Brüssel oder New York erlassen wurden.

      Böses Erwachen

      Als Schweizer hat man in der globalisierten Welt nichts mehr zu sagen. Gefühle der Ohnmacht werden gerne mit grossen Worten kompensiert. Und wenn grosse Worte nicht mehr reichen, nimmt man eben unanständige. Der Populismus wird immer frecher, die Anwürfe immer primitiver. Im Schweizer Fernsehen muss sich ein Moderator zur besten Sendezeit auf eine Weise antisemitisch angehen lassen, die in keinem anderen Land möglich wäre, vielleicht mit Ausnahme Irans. Die Empörung darüber hält sich in sehr engen Grenzen. Genauso wenige stört es, wenn die grösste Partei der Schweiz mit Nazisymbolen Werbung macht. Die Einzige, die ihr Fett abbekommt, ist die Schriftstellerin, die darauf hingewiesen hat, dass die Ziffernfolge ‹88›, die in diesem Wahlclip einer Bundesratspartei präsentiert wird, unter Nazis als Chiffre für ‹Heil Hitler› steht. Sie muss sich von den Parteiideologen in ihren Kampfschriften anpöbeln lassen und erhält Morddrohungen, wie sie viele kennen, die hierzulande kritische Fragen stellen.

      Man darf sich deswegen nicht beklagen. Andere zahlen einen noch höheren Preis. Etwa jener jüdische Mitbürger, der in Zürich am helllichten Tage von einem braunen Mob angegangen wurde. Zusammenhänge? Man wird doch nicht so paranoid sein! Suissemania: Der Wahnsinn, die Katatonie, die psychotische Störung können nicht ewig herrschen. Die Vernunft hierzulande ist nicht tot, sie schläft einfach sehr, sehr tief. Es wäre an der Zeit, sich zu regen und den Monstern zu trotzen, die ihre Ruhe gebiert. Sonst wartet am Ende einer langen Nacht ein böses Erwachen und als Trost nur die Nippessammlung, das Kloster Einsiedeln, die Schlacht am Morgarten und das Schellen-Ursli-Haus im schönen Graubünden, jedes davon durchschnittlich drei Zentimeter gross, aus ordinärem Plastik und selbstverständlich made in China.»

      Bärfuss, Lukas. Die Schweiz ist des Wahnsinns. Ein Warnruf. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.10.2015.

      Peter von Matt (*1937)

      Der Mensch ist das lebenslange Studienobjekt des Germanisten Peter von Matt. Zu Gewalt ist der Mensch fähig, aber auch zu Liebe und Versöhnung. In seiner Rede am 1. August 2009 auf dem Rütli verweist Peter von Matt auf die Gewalttätigkeit von Wilhelm Tell, aber auch auf den Rütlischwur und die Verbrüderung. Schillers Tell ist ein einsamer Mensch, glücklich scheint er nicht zu sein. Ist die Schweiz in der Verbindung mit Europa vielleicht auch glücklicher als alleine?

      «Der Mensch ist das geschichtenerzählende Tier»,104 sagt der Germanist Peter von Matt. Das Wort, die Sprache, die Literatur: Sie sind, was den Menschen ausmachen. Das Wort kann «gewaltlos und ohne Falsch»105 sein, aber auch gewalttätig, die Gewalt suchend106 und bewusst falsch, fake. Das ist der Ursprung jeder Geschichte: dass Menschen sie hören, dass sich die Menschen mit dieser Geschichte auseinandersetzen, dass sie sie beurteilen als eine gute oder schlechte, als eine wahre oder falsche Geschichte. In Geschichten geben Menschen Auskunft über Menschen und über ihr Verhalten.

      Darin gründet die Liebe Peter von Matts zu den Menschen, zu den Existenzen. Über Tschechow schreibt er einmal: «Seine Botschaft ist sein Blick, seine Lehre die Einzigartigkeit jeder Figur.»107 Wer liest, dem bieten sich Einsichten in die Vielfalt der menschlichen Existenz. Und so einzigartig die Figuren in der Literatur auch sind, mal grundböse, mal liebend, mal offen, mal verschlossen – sie zu definieren, fällt einem schwer. Die Literatur hat nicht moralisch zu sein, sie hat aufzuzeichnen, sie hat die Beziehungen zwischen den Menschen wiederzugeben, sie hat den Menschen zu zeigen, wie er ist oder wie er sein könnte. Das moralische Urteil fällt ganz alleine auf den Leser zurück. Er selbst darf entscheiden, wer sich im Buch moralisch richtig verhält und wer nicht.

      Zwei wesentliche Eigenschaften zeichnen den Menschen aus: Erstens ist er gewalttätig. Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte der Gewalt. Die Literatur kann uns hier etwas lehren, sie kann uns Einsichten