Sprechen wir über Europa. Félix Brun

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Название Sprechen wir über Europa
Автор произведения Félix Brun
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783039199518



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schillernde Postkarte, die je nach Betrachtungswinkel ihr Aussehen ändert: Im orangen Nichts schwebt oszillierend eine Scholle mit den Umrissen der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Der Titel dieser famosen Sammelaktion: ‹Suissemania›.

      Heiligtum direkte Demokratie

      Eine Manie ist nach dem Pschyrembel eine psychotische Störung der Affektivität, häufig mit Wahnvorstellungen und Katatonie verbunden. Man muss dies alles nicht als Diagnose der hiesigen Malaise lesen. Man muss nicht, aber man kann. Wie auf der Postkarte verliert das Land auch in der Wirklichkeit mehr und mehr jede erkennbare Kontur. Zerrüttet von den globalen Stürmen, sucht das Land Halt in nationalen Monumenten, die mittlerweile auf Miniaturgrösse geschrumpft sind, als Beifang des täglichen Konsums kostenlos abgegeben werden und problemlos in die persönliche Nippessammlung passen. Selbst der Werbespruch auf dem Umschlag scheint die hiesige Umnachtung aufzunehmen: ‹Mit vielen tollen Rätseln!›

      Die Kräfte, die dieses Land im 21. Jahrhundert formen, werden derweil erfolgreich ignoriert. Wie Geister flössen sie den Menschen Angst ein und lähmen sie bis zur Katatonie. Keine der politischen Parteien hat den Mut, sich im Wahlkampf den realen Herausforderungen zu stellen. Dabei liegen sie meterhoch vor den Chalets des gebeutelten Heimatlandes, und es braucht enorme Verdrängungsleistungen, um an ihnen vorbeizusehen.

      Am lautesten ist nach wie vor das Schweigen über das Verhältnis zur Europäischen Union. Die Situation ist einfach auch zu kompliziert: staatsrechtlich, diplomatisch und ökonomisch undurchschaubar und obendrein für jeden Politiker im Wahlkampf eine unerhörte Peinlichkeit. Wie soll er seinen Wählern auch erklären, was sie damals, am 9. Februar 2014, bei jener Abstimmung über die Masseneinwanderung, angerichtet haben? Und dass das Heiligste aller schweizerischen Heiligtümer, so himmelsgleich und gnadenreich, dass selbst die Spieledesigner es nicht gewagt haben, es in Plastik zu giessen, die direkte Demokratie nämlich, für diesen Unfall verantwortlich ist? Den nationalen Karren hat er so tief in den Dreck gefahren, dass keiner weiss, wie er jemals wieder befahrbaren Boden unter die Räder bekommen soll.

      Was auf der Strecke bleibt

      Europa ist auch im Herbst 2015 ein vergifteter Trank, von dem zu kosten sich selbst robuste Naturen nicht trauen. So hält man sich allenthalben an den Trost seiner Halluzinationen, schliesst die Augen und hofft, das Problem möge auf magische Weise von allein verschwinden. Keine erfolgreiche, aber dafür eine verbreitete Methode: Was riecht, wird auf den Balkon gehängt. So verpesten die zum Verlüften aufgehängten Kümmernisse mehr und mehr die Umgebung. Doch wer die Augen verschliesst, mag sich auch die Nase zuhalten, auch wenn ihm dann bald die Hände für eine vernünftige Arbeit fehlen.

      Zu tun gäbe es genug. Die Schweiz hat seit 1990 das niedrigste Wirtschaftswachstum aller OECD-Länder. Ein Umstand, den man hier angeht, indem man Arbeitnehmer drangsaliert, Arbeitszeiten verlängert und Löhne kürzt. Die Linke und die Gewerkschaften, von denen man Protest erwarten könnte, verharren in einer über Generationen angelernten Bravheit, glauben immer noch an den Arbeitsfrieden und den Sozialvertrag und haben noch immer nicht verstanden, dass sie vom Melker zur Kuh geworden sind.

      Die Exportwirtschaft ächzt unter dem starken Franken, aber man deutet die monetäre Folter zum Ertüchtigungsprogramm um, das in der gesundbeterischen Logik der ökonomischen Elite schliesslich dem gesamten Organismus zugutekommen wird. Weil sich höhere Angestellte gern beim Dauerlauf in Schwung halten, reden sie sich ein, auch eine Volkswirtschaft müsse ein wenig an die Grenzen gehen, um zu besseren Zeiten zu rennen. Was bleibt dabei auf der Strecke? Löhne, Steuern, Investitionen in Bildung und Forschung.

      Ein Land unter Druck

      Hoffnung für die Wirtschaft kommt nur aus deutschen Exklaven und den grenznahen Gebieten jenseits des Rheins. Dort hat man sich auf die Verhältnisse eingestellt und neue, innovative Geschäftsmodelle entwickelt. Weil die Schweizer Konsumenten schneller als die Politik begriffen haben, dass man den starken Franken in diesen Zeiten besser hortet als ausgibt, kaufen sie ihre Ware gerne bei ausländischen Lieferanten im Internet. Die fakturieren glücklicherweise in Euro, also viel billiger. Und um gleich noch die Mehrwertsteuer zu sparen, lässt sich der helvetische Shopper das Paket an eine deutsche Adresse schicken. Und so erblüht das deutsche Jestetten, fast ganz von schweizerischem Territorium umgeben, im Zug der florierenden Paketdienste. Getränkehändler und Frisörsalons stellen ihre Postadressen preisbewussten Schweizern zur Verfügung, nehmen die Ware in Empfang, lagern sie treu, bis der Eigentümer sie auslöst. Die Autokolonnen am Wochenende und nach Feierabend nimmt man in Kauf. Schliesslich verdient man ordentlich. In Jestetten. Für die schweizerische Volkswirtschaft bedeutet der Einkaufstourismus im laufenden Jahr einen Schaden von elf Milliarden Franken.

      Ganz zu schweigen vom Geld, das der öffentlichen Hand durch die Schlaumerei entzogen wird. Die demographische Entwicklung wird die Altersvorsorge zusätzlich demontieren, aber darüber hört der Schweizer selten Verlässliches. Sicher ist nur: Die Kantone stöhnen unisono unter Haushaltsdefiziten. Und auch diese Jeremiaden werden so wenig Anlass zum Handeln wie der von der Regierung längst versprochene Energiewandel. Der älteste Atommeiler der Welt steht bekanntlich auf schweizerischem Boden. Das Kernkraftwerk Beznau produziert ebenso zuverlässig Strom wie Störfälle. Internationale Experten schütteln über die Fahrlässigkeit den Kopf. Die Aktien der Trägergesellschaft liegen vollständig in den Händen der Kantone, und die verspüren wenig Lust, für sicheren Strom mehr Geld zu bezahlen. Und so lässt man den Lotter-Reaktor weiter brennen. Und hofft, der Herrgott im Himmel möge der Eidgenossenschaft weiter so gnädig sein wie bisher und das Schlimmste verhindern.

      Niemand sollte glauben, dass sich das Land nicht verändert. Im Gegenteil. Es transformiert sich so schnell wie Ektoplasma aus Hollywood. Die Form, die es sich anzunehmen schickt, ist nicht dem himmlischen Schicksal überantwortet, sondern reagiert, wie jedes Plasma, auf Druck. Und Druck ist reichlich da. Dass sich die Schweiz seit zwanzig Jahren in einem Kulturkampf befindet, bezweifelt niemand mehr. Obwohl es einige Pessimisten gibt, die behaupten, dieser Kampf sei bereits entschieden und seit kurzem vorbei.

      Notorische Lügen

      Die nationale Rechte lässt die Bären tanzen, wo und wann sie will. Was die Schweiz von Ländern wie Frankreich und Österreich unterscheidet, sind die 3,6 Milliarden Privatvermögen, über die der Extremismus hierzulande verfügt. Geld in den Händen eines chemischen Industriellen, Christoph Blocher, der seit Jahr und Tag das Land mit seinen obskuren Ideen inspiriert. Kunstsinnig wie immer, ist er auf seine alten Tage zudem grosszügig geworden. Der Mann besitzt nicht nur Milliarden, er scheint mehr und mehr gewillt, sie auch auszugeben.

      Zum Frühstück spendiert er sich die erste öffentliche Ausstellung seiner privaten Gemäldegalerie in einem respektablen Kunstmuseum, dem Oskar Reinhart Museum in Winterthur, das des Industriellen Sammlung hiesiger Genremaler ausstellen darf und ihn dafür mit dem Glanz des Gönners salbt. Und weil ein rechtsnationaler Sammler mit Sendungsbewusstsein ein paar Selbstporträts veröffentlicht sehen will, kauft sich der Mäzen gleich die passende Publikation dazu. Das Du-Magazin, über Jahrzehnte das Zentralorgan des honorablen, kunstbeflissenen Bürgertums, hat praktischerweise sein Konzept gewechselt. Nun kann jeder, der sechzigtausend Schweizer Franken zu zahlen bereit ist, das Blatt komplett buchen, und niemand stört sich daran, dass eine Zeitung, die einmal bekannt war für die Arbeiten von Werner Bischoff und Hugo Lötscher, eine Woche vor den nationalen Wahlen den politischen Extremismus mit den Weihen der Kunst bemäntelt und rechtfertigt.

      Das bunte Blatt im Hochformat reiht sich damit ein in die neue mediale Front, die von der Zürcher Weltwoche über die Basler Zeitung alle jene verbindet, die bereit sind, ihre journalistischen Standesregeln zu verhökern. Das Geschäftsmodell dieser Parteiorgane sorgt sich längst nicht mehr um Inserate, Abonnenten oder gar Leser. Wie die Defizite gedeckt werden, hat selten jemand gefragt, nie jemand recherchiert. Einer solchen Aufgabe scheinen die schweizerischen Medienhäuser zurzeit nicht gewachsen zu sein. Man begnügt sich mit den notorischen Lügen der Beteiligten.

      Gezählt wird nur noch mit neun Nullen

      Schweizerische