Sprechen wir über Europa. Félix Brun

Читать онлайн.
Название Sprechen wir über Europa
Автор произведения Félix Brun
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783039199518



Скачать книгу

des Westfälischen Friedens und der Französischen Revolution hin zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 und damit der neuartigen Einbindung des Individuums in das Völkerrecht die Idee der Gleichheit immer weitere Verbreitung fand, sind in den USA moralische und religiöse Argumentationen stets wichtig geblieben. Sind in Europa und in Gret Hallers Verständnis die Menschenrechte universal gültig und haben damit auch «Terroristen Menschenrechte»,18 so ist in den USA bis heute die Unterscheidung in Freunde und Feinde des Landes wichtig, was beispielsweise in der Verwendung des Begriffs der «Achse des Bösen» sichtbar wird. Terroristen besitzen in den USA kaum oder gar keine Rechte, sie werden als Bedrohung der Gemeinschaft explizit vom Recht ausgeschlossen, etwa indem sie als «illegale Kombattanten» auf Guantánamo festgehalten werden.19 Die sich als Gemeinschaft verstehende Gesellschaft in den USA setzt klare Grenzen: Es wird definiert, wer zu dieser Gemeinschaft gehören darf und wer nicht. Gret Haller sieht diese Unterscheidung auch in einem gewissen Widerspruch zu einem europäischen Gesellschaftsentwurf. Nach europäischem Rechtsverständnis werden Recht und Moral getrennt gesehen. Betrachtet man den Menschen universal als gleichen Menschen unter Menschen, so darf niemandem mit einer moralischen Begründung ein fundamentales Recht abgesprochen werden. Alle Menschen haben die gleichen Menschenrechte, auch wenn sie schwere Verbrechen begangen haben. Alle Menschen besitzen als Menschen eine Würde – es ist die universal gültige Menschenwürde. Mit Gret Haller wird sichtbar, warum der oben erwähnte transatlantische Unterschied für das Europa des 21. Jahrhunderts so entscheidend ist: Wird die Würde nämlich «nicht mehr dem einzelnen Menschen zugeschrieben, sondern einer Gruppe von Menschen als Kollektiv, dann geraten die Menschenrechte in Gefahr, weil der Universalismus der Menschenwürde verlorengeht».20

      Unter dem Begriff Staatlichkeit beziehungsweise Res publica findet Gret Haller in der Menschenrechtsfrage eine starke europäische Gegenposition zu den USA. Res publica ist für sie «die einzige Garantin von Individualismus und Universalismus und von Menschenwürde».21 Über ihre eigene Universalität wird Staatlichkeit allen Menschen zugänglich, auch wenn diese weiterhin über verschiedene «Wir-Identitäten» verfügen. Staatlichkeit oder eben Res publica stützt sich für Gret Haller «nicht auf ein Wir-Gefühl, sondern sie bindet die verschiedenen Wir-Identitäten ein».22 Staatlichkeit verlangt von einem Menschen nichts anderes als dessen Existenz, allein durch sie wird Zugehörigkeit möglich. Damit ist Staatlichkeit auch nicht an die Grenzen eines Nationalstaats gebunden. Die Entwicklung der Europäischen Union zeigt diesen Schritt deutlich auf: Man verlässt den nationalstaatlichen Rahmen und bewegt sich einerseits hin zu etwas Grösserem, Überstaatlichem, der Union. Andererseits ist aber auch eine Entwicklung in kleinere Einheiten möglich und sichtbar, die Bewegung weg vom Nationalstaat hin zu Regionen oder Bezirken. Staatlichkeit ist also mehrschichtig und losgelöst vom Nationalstaat, und, was noch wichtiger ist: Weil sich Staatlichkeit auf das Individuum abstützt, dient sie der Vielfalt, nicht der Vereinheitlichung. In Sarajevo, diesem «Ort in Europa, wo sich kulturelle Vielfalt und Toleranz unbeschadet staatspolitischer Geschehnisse immer wieder hat halten können»,23 beobachtet Gret Haller das Aufeinandertreffen der europäischen Idee von Staatlichkeit mit der amerikanischen Idee der Gemeinschaft und bemerkt, wie diese beiden Vorstellungen nicht miteinander vereinbar sind. Was Gret Haller in Bosnien als Erstes verlangte, war die Ausformulierung einer staatspolitischen Identität und damit die Bereitschaft aller Bewohnerinnen und Bewohner in Bosnien und Herzegowina, sich, ungeachtet der ethnischen Verschiedenheit, staatspolitisch zu engagieren. Das Abkommen von Dayton, welches die Grundlage bildete für den Wiederaufbau nach dem Krieg, wies jedoch in die umgekehrte Richtung. Das stark von US-amerikanischer Seite geprägte Abkommen festigte die alten ethnischen Grenzen in Bosnien und Herzegowina auch im Staatsaufbau und liess so einer übergeordneten staatspolitischen Identität wenig Platz. Für Gret Haller haben die USA im Abkommen von Dayton «die Möglichkeit eines europäisch verstandenen staatsbürgerlichen Bemühens der Citoyens und Citoyennes um das multiethnische Zusammenleben»24 verkannt.

      Was Gret Haller früh schon beschrieben hat – die Einbindung der Menschen in den USA in ein Zugehörigkeitsgefühl, die Einteilung in Mitglieder der Gemeinschaft und Ausgeschlossene, die Verbindung des Rechts mit der Moral –, dies alles tritt heute deutlich zutage. Und so gewinnt auch die Gegenthese Gret Hallers immer mehr an Bedeutung, dass nämlich Europa als Gegensatz zu den USA ein Ort der Inklusion sei, ein Ort der Pluralität, die Wiege der Souveränitätsteilung und der universalen Denkweise. In dieser Gegenthese wird Europa zu einem «Ort der Freiheit». Und mitten in Europa liegt – die Schweiz.

      Für Gret Haller ist die Schweiz durch und durch europäisch. Die Schweiz als Ort der Staatlichkeit: Hier führt die direkte Demokratie zu staatspolitischem Denken und Handeln. Die Schweiz als Ort der Kooperation: Vier verschiedene Sprachgemeinschaften müssen eine gemeinsame Politik betreiben. Die Schweiz als die Verwirklichung eines «politischen Willens», als Ort der Souveränitätsteilung auch: Die Kantone gaben Souveränität an den Bundesstaat ab, im Wissen darum, dass die Willensnation nur überleben kann, wenn ihre regionale Souveränität geteilt und damit das «Wir-Gefühl» in einen rechtsstaatlichen Rahmen gebracht wird. Nationale und regionale Identitäten sollen auch in der Europäischen Union weiterhin nebeneinander möglich sein. Um dies zu verwirklichen, sieht Gret Haller nur einen Weg: «Sucht man nach einer Möglichkeit, Kleinräumigkeit im Rahmen einer staatspolitischen Dimension mitzuberücksichtigen, so bietet sich die föderative Organisation des Nationalstaates an»,25 sagte sie schon 2005 in einem Referat. Zur Frage, ob sich die EU an der Schweiz orientieren kann, äusserte sie sich 2018 differenziert: «Die historische Entwicklung der Schweiz kann Fragestellungen illustrieren helfen, welche die Union und ihre Zukunftsperspektiven heute durchaus betreffen.»26 Die schweizerische Auseinandersetzung mit dem Anderen, die Auseinandersetzung des Berners mit den anderen drei Landessprachen, die Auseinandersetzung des katholischen Tessiners mit dem zwinglianischen Zürcher – vielleicht eine Auseinandersetzung des Bauers von Corippo mit dem CEO der Zürcher Goldküste – macht die Eigenheit zur Stärke. Es gibt für Gret Haller «keinen anderen Kontinent auf diesem Planeten, der seine Geschichte, seine Stärke und seine Kreativität so stark aus Polaritäten ableitet, das heisst aus der Auseinandersetzung mit dem Anderem und dem Verändertwerden durch dieses Andere»,27 als Europa. Die Schweiz ist europäisch. Und Gret Haller ist es auch.

      Ihr neuestes Buch, Europa als Ort der Freiheit, schmücken Sterne auf blauem Hintergrund. Europa habe heute zwei Aufgaben zu bewältigen, sagt Gret Haller: Erstens müsse die «Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit» verteidigt und zweitens die «politische Individualisierung und Zukunftsorientierung auf die europäische Ebene»28 gehoben werden. Gret Haller versteht Europa, versteht die Europäische Union als Prozess. Der einzelne Europäer muss sich an seine Rolle als Staatsbürger erst gewöhnen, an seine Rechte, aber auch an seine Verantwortung. Solange Europa weiterhin an der politischen Individualisierung arbeitet, Menschen also nicht als Mitglieder einer Gemeinschaft, sondern als politische Individuen zu organisieren versucht, solange wird sich auch der Prozess der Demokratisierung der Europäischen Union fortsetzen. Auch in der Schweiz habe sich die direkte Demokratie schliesslich nur langsam ausgebildet, so Gret Haller.29 Es gebe in der Europäischen Union zwar noch viel zu tun, sagt sie, doch könne man bereits Fortschritte sehen.

      Es lohnt sich, die beiden hier abgedruckten Kapitel, «Die politische Dimension der Union» und «Die Geburt des Europabürgers», genauer zu studieren. Wichtig ist in erster Linie die Unterscheidung der «Freiheit vom Staat» von der «Freiheit zum Staat». Unter der «Freiheit vom Staat» versteht Gret Haller die gängigen staatlichen Freiheitsgarantien westlicher Demokratien, etwa die Meinungsfreiheit oder die Religionsfreiheit. Diese «Freiheit von der Europäischen Union» sei in der EU bereits weit entwickelt. Mehr Arbeit brauche es hingegen noch bei der «Freiheit zum Staat», im vorliegenden Falle also bei der «Freiheit zur Europäischen Union», worunter Gret Haller natürlich die offene Gestaltung der Union durch eine demokratische Mitwirkung der Individuen versteht. Auch hier gebe es aber bereits Fortschritte, wie etwa der erfolgreiche demokratische Widerstand gegen die Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada zeige. In diesem Widerstand habe man «eine neue Form von Staatlichkeit auf der europäischen Ebene» erleben können. Eine weitere grosse europäische Errungenschaft seien «die vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes – freier Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital», wobei für