Название | Sprechen wir über Europa |
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Автор произведения | Félix Brun |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783039199518 |
Europäer ist der Schweizer Peter von Matt durch die Literatur geworden. Die Schweizer Literatur ist seit ewig mit Europa verbunden, ist von Matt überzeugt, sie besitzt eine «doppelte Staatsbürgerschaft»,142 sie ist immer einerseits schweizerisch, andererseits aber auch europäisch, da sie sich an den grossen Sprachräumen des Deutschen, des Französischen und des Italienischen orientiert. Weiter weist von Matt darauf hin, dass die Schweiz für Napoleon «offensichtlich eine europäische Angelegenheit»143 war. Für Peter von Matt gibt es daher immer eine enge Verflechtung der Schweiz mit Europa, deren Beziehung reziprok ist: Die Schweiz kann Europa ein Wegweiser zu mehr Demokratie und Föderalismus sein, Europa wiederum hilft mit, die Schweiz als kleinen Staat zu beschützen und ihr ihre Neutralität zu lassen.
Auch wenn Tell beim Rütlischwur durch seine Abwesenheit glänzt, so ist das Stück von Friedrich Schiller doch Teil des europäischen «Raums der Inspiration».144 Wo die Politik versucht, Wilhelm Tell zum Eidgenossen zu machen, da macht ihn die Literatur zum Europäer. Die Literaten Europas, «die schaffenden Geister»,145 kommunizieren miteinander, sie überschreiten Grenzen und lassen ihre Helden dieselben Grenzen überschreiten. «Don Quijote reitet über alle Grenzen» heisst das dann bei Peter von Matt. Es gibt offensichtlich keine Nationalliteratur; alle Literatur ist für ihn grenzüberschreitend. Alles Nationalisierende ist zu verwerfen, alle Versuche, ein Volk als etwas Homogenes darzustellen, verlieren ihre Gültigkeit, der «Stacheldraht an den Grenzen der Staaten»146 wird belanglos, die Gewalt muss verworfen werfen und mit ihr die Vereinfachung. Was zählt, ist die Liebe, ist die Verbindung, ist die Diskussion, und «wenn es eine europäische Identität gibt, dann wurzelt sie hier, im gemeinsamen Raum der Inspiration».147
In der Literatur findet der Germanist Peter von Matt zu den Menschen. Sie leben in Räumen, nicht in Nationalstaaten. Sie wurzeln in der Vergangenheit, prägen einander und sind durch andere Menschen diejenigen geworden, die sie heute sind. 2007, zwei Jahre vor der Rede Peter von Matts auf der Rütliwiese, konnte die Schweizerische Volkspartei (SVP) unter Christoph Blocher bei den Parlamentswahlen grosse Erfolge verbuchen. Im Dezember dann folgte ein schwerer Rückschlag: Christoph Blocher wurde als Bundesrat abgewählt. Er eckte offenbar zu sehr an, mit seiner kompromisslosen Art zu politisieren. Wer «sich zum Häuptling aufwerfen will», sagt Peter von Matt zwei Jahre später in seiner 1.-August-Rede auf dem Rütli, der werde «eines Tages auf dem dafür vorgesehenen Körperteil» landen. Doch Blocher bleibt im Hintergrund weiterhin wichtig.
Der 1. August 2009 ist ein strahlend schöner Tag. Die Menschen strömen auf die mythisch aufgeladene Rütliwiese. Nicht weit von der schweizerischsten aller Wiesen brettert halb Europa durch den Seelisbergtunnel. Peter von Matt blickt in seinem Referat zum Schweizer Nationalfeiertag – wie es seiner Art zu denken und zu sprechen entspricht – hinter die Kulissen und entdeckt Neues. «Es ist schön hier», mit diesen Worten begrüsst der Redner die versammelte Festgemeinde. Das Rütli aber verweise nicht nur auf Wilhelm Tell und den Tyrannenmord, sondern auch auf das Stanser Verkommnis – das Übereinkommen der Acht Orte, mit dem der Konflikt beigelegt wurde – und damit auf den Kompromiss. Der Rütlischwur sei nicht nur eine Geschichte des nationalen Zusammenhalts, sondern auch der Verbundenheit der Schweiz mit Europa. «Die Schweiz ist unsere Heimat, aber die Heimat der Schweiz ist Europa», sagt Peter von Matt in einem mittlerweile berühmt gewordenen Satz auf dem Rütli. Die Neue Zürcher Zeitung macht ihn denn in ihrem Kommentar zur «würdigen und gehaltvollen Feier» auf dem Rütli auch zum Titel des gesamten Textes und weist darauf hin, dass von Matt auf dem Rütli vom Frieden gesprochen habe, davon, dass wir «als erste Menschen» erleben könnten, dass «die europäischen Grossmächte seit einem halben Jahrhundert keinen Krieg mehr gegeneinander führten».148
Europa ist ein Kontinent der Gewalt, doch hat es diese Gewalt hinter sich lassen können. Damit dies auch weiterhin so bleibt, muss man sich als Schweizerin, als Schweizer engagieren: für das Verbindende, nicht für das Trennende, für die Aufklärung, nicht für die Vereinfachung, für den Kuss, nicht für die Intrige.
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