Sprechen wir über Europa. Félix Brun

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Название Sprechen wir über Europa
Автор произведения Félix Brun
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783039199518



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Prozesse in der Schweiz: «Die wirklichen Abläufe geschehen» bei uns eben «gletscherhaft langsam in der Tiefe», so Peter von Matt. Unser politisches System fördert offenbar den Ausgleich, dominierende Parteien und Politiker werden früher oder später abgestraft, Kompromisse sind möglich, die vernünftige Mehrheit setzt sich – im Gegensatz zu den «Anhängern des Machtkultus», wie es Paul Seippel nennt – durch. Die vielgestaltige Schweiz bewegt sich stärker, als von aussen wahrgenommen wird. Was die politischen Grundkonzepte des Föderalismus und der direkten Demokratie betrifft, kann Europa von der Schweiz lernen, darüber sind sich die nachfolgend vorgestellten Personen einig. In dieser Idee enthalten ist auch der Gedanke der Weiterentwicklung: Das Projekt Europa ist noch längst nicht abgeschlossen, es kann und muss sich fortentwickeln. Begreift sich Europa als Projekt, das in einem demokratischen «Aushandlungsprozess», so Gret Haller, immer weiter ausgestaltet wird, so wird es auch zukunftsfähig sein.

      Damit Europa gelingen kann, braucht es den politischen, mündigen Bürger, nicht das Individuum und nicht das Kollektiv, sondern die «freie und verantwortliche Person», sagt Denis de Rougemont; auch darüber herrscht Einigkeit bei den Autoren. Womit wir bei der zweiten Thematik dieses Buches sind: Europa als Ort der Aufklärung. Europa beginnt für die hier vorgestellten Schweizer Intellektuellen «mit der Aufklärung» und diese Aufklärung wiederum «mit einer Frage», so Lukas Bärfuss. Grundvoraussetzung für dieses aufgeklärte Europa ist der Gedanke der Gleichheit der Person in ihrer Unterschiedlichkeit. Ein jeder Mensch hat die gleichen Rechte, wiewohl er sich als Person von allen anderen Personen unterscheidet. Dasselbe gilt natürlich für grössere Einheiten, für Regionen, für Völker, für Nationen ebenso: Das aufgeklärte Europa, das ist nach Ben Vautier die «Gleichheit der Völker in ihrem Recht auf Verschiedenartigkeit». Als nichts anderes als ein «hohes Menschheitsideal» beschreibt es Felix Ludwig Calonder. Mag es in der Bundesratsrede vor 100 Jahren auch etwas pathetisch klingen, am Grundsatz lässt sich nicht rütteln. Als klare Befürworter der europäischen Aufklärung ragen die Persönlichkeiten aus der an sich schon kleinen Masse Schweizer Intellektueller heraus: Sie versuchen Verantwortung zu übernehmen in einer Schweiz, die sich auffallend häufig schwertut, für die europäische Aufklärung das Wort zu ergreifen.

      Europa und die versammelten Autoren erlebten in verschiedenen Kriegen immer wieder, was geschieht, wenn das Trennende stärker wird als das Verbindende. Wenn die «Krankheit des Nationalismus», so Hans Bauer, überhandnimmt, dann ist auch die kleine, neutrale Schweiz betroffen und bedroht. Das ist die dritte Thematik dieses Buches: das Gefühl der Verwundbarkeit in der Schweiz, das Wissen um die Abhängigkeit vom Goodwill unserer grossen Nachbarnationen. Damit verbunden ist der Reflex der Ablehnung, der Wille zur Isolation, der Gedanke, dass man von den grossen Ereignissen in der Welt am liebsten in Ruhe gelassen werden möchte. Was die zehn hier vorgestellten Persönlichkeiten in diesem Punkt verbindet, ist ihre konsequente Ablehnung dieser Idee. Sie sehen in der Isolation eine grosse Gefahr, der nur über eine Verbindung mit Europa entgegnet werden kann. Für diese Verbindung muss eingetreten werden, auch wenn die europäischen Nachbarn Fehler machen. Zusammenarbeit ist offensichtlich fruchtbarer – und letztlich sicherer – als Ablehnung und Isolation. Wenn wir also, wie ich das bis vor wenigen Jahren ebenfalls getan habe, Europa verachten für seine Fehler, für sein Demokratiedefizit etwa oder für seine Haltung an der Grenze im Mittelmeer, so ist es durchaus möglich, dass wir das aus einer unbewussten Angst tun, einer Art «Unbehagen im Kleinstaat», wie Karl Schmid es nennt. Die Angst also der verwundbaren, aber bislang verschont gebliebenen Schweiz in Europa: die Angst vor übergreifendem Zentralismus und Rationalismus, die Angst vor dem Befehl, die Angst vor dem Recht des Stärkeren, die Angst davor, dass der Vielfalt und damit der europäischen Aufklärung enge Grenzen gesetzt werden. Alle zehn Autorinnen und Autoren begegnen dieser Angst mit der Aufforderung nach mehr Zusammenarbeit, nicht nach mehr Abgrenzung.

      Es heisst manchmal, es mangle der Schweiz an starken Persönlichkeiten. Diese Schelte widerlegen die zehn Denkerinnen und Denker. Über einen Zeitraum von 100 Jahren setzten sie sich vor dem jeweiligen zeithistorischen Hintergrund intensiv mit dem Verhältnis der Schweiz zu Europa auseinander. In einem Essay werden jeweils die Person und ihr biografischer Hintergrund beleuchtet. Es findet eine Einordnung statt, wann, weshalb und wo die nachfolgende Quelle publiziert oder die Rede gehalten wurde, allenfalls auch, welche Resonanz das Gesagte hatte. Die zehn Personen zeichnet Folgendes aus: Sie blicken kritisch auf Europa, sie suchen nach neuen Lösungen, sie stellen sich Fragen, sie sprechen über die Schweiz und Europa, sie befassen sich aktiv mit dieser Beziehung und widerstehen einer passiven Ablehnung. Die Reihenfolge der Texte ist chronologisch. Begonnen wird in der Gegenwart mit einem Text von Gret Haller aus dem Jahr 2018, den Schluss bildet eine Rede von Bundespräsident Felix Ludwig Calonder von 1918 zur Frage des Völkerbunds. Diese Reihung, dieser Blick zurück von den heutigen Debatten und Herausforderungen auf die damaligen Auseinandersetzungen, zeigt die verblüffende Aktualität der Reden. Damit erschliesst sich die zeithistorische Dimension über den weiten Bogen, der über «100 Jahre Nachdenken über die Schweiz und Europa» geschlagen wird.

      Diese Arbeit hat mir klar vor Augen geführt, dass die Schweiz in der heutigen, globalisierten Welt im Alleingang nur verlieren, in der Zusammenarbeit mit Europa aber gewinnen kann. Dieser Gewinn sollte gegenseitig sein, so selbstbewusst darf die Schweiz durchaus sein. Und so selbstbewusst haben es auch viele Rednerinnen und Redner in diesem Buch formuliert. Sprechen wir über Europa und beziehen dabei ein, was dazu in den vergangenen 100 Jahren gedacht und gesagt wurde, so eröffnen sich neue Perspektiven, und die Zukunft gewinnt an Schärfe.

      Gret Haller (*1947)

      Die Politikerin und Anwältin Gret Haller setzt sich seit Jahrzehnten dafür ein, dass die künstlich geschaffene Ordnung in eine «äussere», und damit «männliche», und in eine «innere», «weibliche» Welt überwunden wird. Eisern hat sie während ihres gesamten Lebens an den Prinzipien der Offenheit, der Gleichheit und der Zukunftsorientierung festgehalten und findet so in ihrem neuesten Buch über Europa zur Geburt des weltoffenen und dialogbereiten «Europabürgers».

      2018: Zahlreiche Krisen halten Europa in einer sonderbaren Lähmung gefangen. Es fehlt an Ideen. Da ist wohl ein Emmanuel Macron, der mit seiner Bewegung «En Marche» für ein progressives Europa einsteht. Doch mag man vor dem Hintergrund der aktuellen Protestwelle wirklich an eine Veränderung glauben? Glatt wirkt der französische Präsident, zu nah bewegt er sich an den elitären Kreisen der Pariser Wirtschaft und des Militärs. In Deutschland bleibt Kanzlerin Angela Merkel seit Jahren matt und lässt sich von der bayerischen CSU drangsalieren. Begleitet von grossen Friktionen verabschieden sich Theresa May und Grossbritannien aus der EU. Die Visionen werden aus der Vergangenheit entlehnt: Man spricht wieder von der «Nation» als Körper einer ethnischen Gemeinschaft. Man ruft wieder «Deutschland den Deutschen» oder «Ausländer raus».

      Gret Haller, Ehrendoktorin der Universität St. Gallen, formuliert einen Zukunftsentwurf für Europa: Sie sieht in der europäischen Integration das Entstehen einer neuen Form von «Staatlichkeit», im Sinne einer staatspolitischen Identität, einer Gleichheit, die über den Begriff der Nation hinausgeht. Wie lassen sich diese Überlegungen politisch vermitteln? Wie kann sich ein politischer Wille entfalten?

      Wer mit Gret Haller das persönliche Gespräch sucht, wird schnell mitgerissen von ihrem Tatendrang und ihrer Lust am Widerstand, am Widerstreit. Man merkt: Diese Frau sucht die Auseinandersetzung. Nicht die schlichte Provokation. Die offene Auseinandersetzung auf Augenhöhe, mit Respekt für die Meinung des Gegenübers. Gleichheit, wie sie die Französische Revolution forderte, ist der zentrale Begriff im Denken und Handeln Gret Hallers, und er war der Ausgangspunkt und die Leitlinie ihrer juristisch-politischen Tätigkeit. Ihr Lebensweg ist für eine Schweizerin aussergewöhnlich – ihre Laufbahn äusserst erfolgreich, sie führte sie bis weit nach Europa.

      Im Alter von 25 Jahren reicht Gret Haller in Zürich ihre Doktorarbeit zur Stellung der Schweizer Frau verglichen mit den UNO-Menschenrechtskonventionen ein. Sie benennt darin die Diskriminierung der Frau als eine Folge der Aufgabenteilung zwischen den Geschlechtern. «Innerhäusliche Aufgaben» sind der Frau zugewiesen, während dem Mann die Aufgabe des Ernährers und andere