Sprechen wir über Europa. Félix Brun

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Название Sprechen wir über Europa
Автор произведения Félix Brun
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783039199518



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verbreitet, dass die Frau eine höhere Bildung nicht nötig habe, da sie sich in der Ehe in erster Linie um den Haushalt zu kümmern habe und nicht um ihre beruflichen Möglichkeiten. Die Diskriminierung der Frau in der schweizerischen Gesellschaft lässt sich laut Gret Haller folglich nur beheben, wenn «das Familienrecht beiden Ehegatten grundsätzlich zu gleichen Teilen die Verantwortung für den Familienunterhalt, die Kinderbetreuung und die Haushaltführung auferlegt».2 Gleichheit bedeutet für Gret Haller also erst einmal, die privaten und gesellschaftlichen Verantwortungen – und damit auch Entlohnung und Anerkennung – gleich aufzuteilen. Ist die familiäre Verantwortung egalitär auf die Schultern der Frau und des Mannes verteilt, so wird sich auch die übrige Gleichstellung ergeben, ist Haller überzeugt: Die wirtschaftlichen und politischen Entscheidungsträger würden diese Entflechtung der klaren Rollenverteilung in der Familie früher oder später auch in ihren Tätigkeitsbereichen übernehmen müssen.

      Nach ihrer Dissertation arbeitet Gret Haller zunächst in einem Büro für Architektur und Raumplanung, dann ab 1975 als Sachbearbeiterin für die eben in Kraft getretene Europäische Menschenrechtskonvention im Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement in Bern. Bern ist ein Wendepunkt im Leben Gret Hallers. Sie tritt in jenem Jahr in die Sozialdemokratische Partei der Schweiz ein und wird schon bald politisch aktiv. Sie habe, so sagt sie später, «einfach gemerkt, wie viel nicht stimmt», und habe sich dann überlegt, was sie «tun wolle».3 Schon zwei Jahre später wird sie ins Berner Stadtparlament, den Stadtrat, gewählt. Ihre politische Karriere beginnt. Sie gründet eine private Anwaltskanzlei und wird Ende 1984 in die Stadtberner Exekutive gewählt, wo sie die städtische Schuldirektion übernimmt. Im Gemeinderat muss sie sich als einzige Frau gegen sechs männliche Kollegen behaupten. Sie lernt, «konfliktfähig»4 zu sein, und sie lernt abzuwägen. «Überall, wo man mitmacht», sagt sie kurz nach ihrer Wahl in den Gemeinderat, «wägt man ab, wie häufig man sich querstellen will.»5 Sie lernt die Funktion von Macht kennen, lernt, «wann man hart sein muss und wann weich und offen».6 Offen sein, offen bleiben, auch wenn die Macht verlockend ist, persönlich, aber auch als Gesellschaft. Offenheit, das ist der zweite zentrale Begriff im Leben Gret Hallers, daneben verwendet sie oft Wörter wie «Diskussion», «Neugier», «Prozess», «Zuhören», auch «Möglichkeit» und «Wille». Sie fordert von sich selbst und von ihren Zeitgenossen die Diskussion. Eine Diskussion, deren Ausgang ergebnisoffen ist; Meinungen können revidiert, verworfen, erneuert werden, alles ist erlaubt.

      Eine Diskussion versucht Gret Haller auch an jenem denkwürdigen 17. November 1987 zu führen. Die Berner Alternativszene hat im Gaswerkareal ein Zelt- und Wagendorf, das «Zaffaraya», errichtet. Die Polizei hat bereits den Räumungsbefehl erteilt, man gibt sich unnachgiebig. Ein letztes Mal versucht Gemeinderätin Gret Haller unter den Augen der Medien, die Bewohner des Dorfes zum Nachgeben und zu weiteren Verhandlungen zu bewegen. Die einzige Frau im Gremium stellt sich offen gegen das Vorgehen des Gemeinderats. Noch heute denkt Gret Haller, dass es auch diese Aktion war, die zu ihrer Abwahl aus dem Gemeinderat führte. Der Dialog aber gilt ihr als zentrale Aushandlungsform in einer Gesellschaft; er ist ein Gut, das verteidigt werden will. Das harte Durchgreifen der Polizei bei der Räumung des «Zaffaraya» war für sie auch eine Demonstration der Gesprächsverweigerung. Zur Gewaltanwendung bei der Räumung des Areals sagt Haller kurz nach den Vorgängen in einem Interview: «Das ist Krieg.»7

      Für Gret Haller ist eine freie politische Diskussion nur in einer Demokratie möglich. Nur die Demokratie lasse verschiedene Meinungen zu, was wiederum «eine pluralistische Gesellschaft […], in der es unterschiedliche Meinungen gibt, die öffentlich ausdiskutiert werden»,8 voraussetzt. Durch demokratische Teilhabe eröffnet sich für Gret Haller die Möglichkeit der Veränderbarkeit. Die Menschen in einer Demokratie treten in einen «Aushandlungsprozess»9 miteinander. Damit weist die Demokratie in die Zukunft.

      Zukunftsorientierung ist das dritte wichtige Anliegen Gret Hallers. Ihre Politik dient nicht dem Heute, vielleicht dient sie dem Morgen, ganz klar dient sie den nächsten Generationen. «Säen», sagt sie einmal, «säen lohnt sich immer, auch wenn man erst in vielen Jahren ernten kann.»10 Zukunftsorientierung ist eine Frage der Geduld. Geduldig sein, sich in Geduld üben, das verlangt Gret Haller immer wieder, auch von sich selbst. Sie erlebt das in ihrer Karriere, die verschiedene Umwege für sie bereithält. Nach vier Jahren im Berner Gemeinderat wird sie 1988 abgewählt. Das Schicksal hat «offenbar etwas anderes im Sinn»11 mit ihr. Bereits 1987 ist sie für den Kanton Bern in den Nationalrat gewählt worden, wo sie sich bei der Auseinandersetzung um eine mögliche AHV-Revision nach eigenen Angaben «Durchhaltevermögen» aneignet.12 Die politische Karriere Gret Hallers nimmt jetzt weiter Fahrt auf: Ab 1989 gehört sie der parlamentarischen Versammlung des Europarats an, 1993/94 präsidiert sie den Nationalrat. Danach tritt sie aus dem Nationalrat zurück und wird Botschafterin der Schweiz beim Europarat. Kaum ein Jahr in diesem Amt, stösst das Schicksal Gret Haller erneut auf einen anderen Weg: Sie wird als Ombudsfrau für Menschenrechte in Bosnien und Herzegowina nach Sarajevo berufen. «Dinge», erklärt Haller in jener Zeit einmal, «lassen sich nur verwirklichen, wenn die Zeit dafür reif ist.»13 Wer also geduldig und offen bleibt, dem steht auch die Zukunft offen. Das lässt sich auf die Gesellschaft und unseren Umgang mit den Herausforderungen, die aktuelle Entwicklungen mit sich bringen, übertragen.

      Für Gret Haller gibt es keine Grenzen, keine Abstufungen zwischen den Menschen, auch wenn jeder Mensch anders ist. «Das Mass aller Dinge» besteht für sie nicht «in sinnloser Produktion, nicht […] in tödlicher Verschwendung […], sondern in der Hinwendung zum Menschen.»14 Es darf keine Rolle spielen, ob jemand eine Frau oder ein Mann ist. Ein friedliches Zusammenleben muss möglich sein. Nicht die Abkehr voneinander, nicht die Denunziation, nicht das Beharren auf einer männlichen und einer weiblichen Identität sind letztlich entscheidend. Entscheidend und damit «lebensorientiert» ist für Gret Haller ein «In-Beziehung-treten-Wollen»,15 den Willen aufzubringen, miteinander auszukommen, ein Zusammenleben auszuhandeln. So wird die Zukunft besser sein als die heutige Gegenwart. Verweigert man die Beziehung zueinander und zur Natur, dann weiss man in den Worten Gret Hallers beim besten Willen nicht, ob «die Menschheit überhaupt ein nächstes Zeitalter erleben wird»,16 denn dann droht nicht nur die gegenseitige Zerstörung der Menschen, sondern auch der ökologische Kollaps.

      Was das alles mit Europa zu tun hat? Alles. Im heutigen Europa scheint die Ausformulierung gegenseitiger Ressentiments wieder mehr zu zählen als der Wille, miteinander in Beziehung zu treten. Die universale Gleichheit steht in Konkurrenz mit einer partikularen Gleichheit von Gemeinschaftsmitgliedern, welche Nichtmitglieder explizit als nicht gleich definieren. Gleich ist nur, wer der jeweiligen Gruppe – «den Männern», «den Sachsen», «den Europäern» etc. – angehört. Offenheit ist einer Grenzpolitik gewichen, die Menschen daran hindern soll, nach Europa zu kommen. Zukunftsperspektiven wurden abgelöst von einer Vergangenheitsorientierung, vom harmlosen Schwärmen vergangener Zeiten in der sozialistischen DDR bis hin zur gewalttätigen Rückbesinnung auf völkische Politik. Was die europäische Zukunft betrifft, so ist man sich heute wieder erschreckend uneinig. Diese Uneinigkeit wäre an sich nicht gravierend, würde man sich daran erinnern, wie man sie politisch verhandeln könnte. Doch mit dem in vielen europäischen Ländern erstarkten Rechtspopulismus und Autoritarismus haben sich die politischen Fronten zusehends verhärtet, sichtbar etwa in der Migrationsfrage. Deutschland – und das ist nur ein Beispiel – soll wieder den Deutschen gehören. Diese gegenseitige Abgrenzungsmentalität ist antieuropäisch und fusst auf einem fundamentalistischen Gedanken, der eine Trennlinie zieht zwischen «wahr» und «falsch», zwischen «gut» und «böse», zwischen «eigen» und «fremd». Damit hat in Europa eine Tendenz Einzug gehalten, deren Grundmuster Gret Haller bereits während ihrer Jahre in Sarajevo in US-amerikanischen Denkweisen beobachtet hatte und die damals nach dem Krieg in Bosnien und Herzegowina sehr dominant waren. Gret Haller beschrieb dies dann in ihrem 2002 erschienenen Buch Die Grenzen der Solidarität.

      Was die Fragen der Gleichheit und der Offenheit betrifft, so geht man laut Haller in den USA von anderen Prämissen aus als in Westeuropa. Erster wichtiger Unterschied ist der Gedanke der Auserwähltheit: Über die letzten Jahrhunderte konnte sich in den USA im Gegensatz zu Europa eine eigentliche «Vorstellung von Auserwähltheit»17 entwickeln. Hinzu kommt