Название | Sprechen wir über Europa |
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Автор произведения | Félix Brun |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783039199518 |
Probleme, Schwierigkeiten, Konflikte: Hier entsteht die Literatur, hier wird der Autor Lukas Bärfuss fündig. Das menschliche Zusammenleben wird zu einem «Abmühen». «Wir werden uns abmühen müssen mit der Grammatik des menschlichen Zusammenlebens»,91 fordert Bärfuss einmal. Man muss die Lösung gemeinsam suchen, die Konflikte gemeinsam angehen, alles ist miteinander verbunden, Isolation, auch Flucht ist nicht möglich, sie führt in die Zerstörung, gerade die Literatur lehrt uns das: «In jeder Geschichte findet man die Spuren aller anderen Geschichten. Keine Geschichte kann sich isolieren»,92 ist Bärfuss überzeugt. Wer den Konflikt als menschliches Schicksal anerkennt, der trachtet danach, den Konflikt lösen zu können. Wer den Konflikt nicht anerkennt, also vor ihm flüchtet, der wird ihn auch nicht lösen können. Das ist die Entscheidung, die Lukas Bärfuss in seiner Jugend fällte: sich dem Konflikt zu stellen. Damit ist er ein politischer Mensch geworden. «Sich [zu] entscheiden» heisst für Bärfuss, «politisch zu werden».93
Das Abstrakte, die Vereinfachung: Politisch gesehen sind sie eine Unmöglichkeit. Es gibt keine «Schweiz», und sollte es sie doch geben, dann höchstens in der Vielzahl. «Genau genommen gibt es den Staat, die Schweizerische Eidgenossenschaft nicht, nicht in der Wirklichkeit. Sie ist ein Abstraktum. […] Das Land ist nicht unabhängig, ganz im Gegenteil: Die politischen, kulturellen, wirtschaftlichen, klimatischen Abhängigkeiten sind offensichtlich – und vor allem sind viele von diesen segensreich. […] Jedenfalls bleibt der Staat eine Behauptung.»94 Das führt zur Schlussfolgerung, dass die «Abschottung […] nicht gelingen» kann und nicht gelingen wird, «mit welcher Gewalt sie auch durchgesetzt werden will».95 Die Schweiz ist Teil eines grösseren Ganzen, sie ist Teil Europas. Wenn kein Mensch «eine Insel» sein kann, dann können es auch Gesellschaften oder Gemeinschaften wie beispielsweise die Schweiz nicht sein. Nein, eine Scholle ist die Schweiz mit Sicherheit nicht. Der Mensch und damit die menschlichen Gesellschaften existieren für Lukas Bärfuss «streng genommen […] nur durch die Beziehung».96
Wenn also die Schweizerinnen und Schweizer in einer eigenartigen Manie an einem Sammelspiel eines Grossverteilers teilnehmen, statt abstimmen zu gehen, dann stimmt etwas nicht mehr mit den politischen Zeitgenossen. Das ist der Aufhänger des Textes von Lukas Bärfuss, der im Oktober 2015, eine Woche vor den nationalen Wahlen, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien. «Die Schweiz ist des Wahnsinns», diagnostiziert Bärfuss jetzt ernüchtert. Der Text ist eine Polemik, eine Wutrede. Man flüchte sich in der Schweiz vor den Herausforderungen, die anstünden, liest man da. Was ein bisschen rieche, etwa das Verhältnis der Schweiz zur Europäischen Union, das hänge man in der Schweiz jetzt einfach mal auf den Balkon, in der Hoffnung, der Gestank werde sich wieder verziehen. Brav seien die Schweizerinnen und Schweizer, Protest sei rar, Nase zuhalten und durchmarschieren, das sei die Devise. Alle machten dieses Spiel mit, auch die Medien, sagt Bärfuss entrüstet. Man ducke sich und ziehe sich zurück. Jetzt endlich werde man auch von aussen als die Zwerge wahrgenommen, als die sich die Schweizer immer gerne ausgeben: verantwortungslos, klein, irrelevant. Dass diese Flucht, diese Idee, man könne sich von Europa abschotten als kleine Schweiz, man könne sich lossagen von den Verantwortlichkeiten, dem Schriftsteller Lukas Bärfuss zutiefst zuwider ist, hat seine Gründe: Die Flucht weist in irritierender Weise zurück in seine Kindheit, und er stellt sich ihr in der Konfrontation. Damit ist Lukas Bärfuss auch Europäer geworden: «Jeden Tag finde ich Dinge, die ich nicht verstehe, und jeden Tag tröste ich mich, dass mein Europa mit der Aufklärung und die Aufklärung mit einer Frage beginnt, nicht mit einer Antwort.»97
Die Polemik in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung kommt nicht gut an. Sie wird in den Schweizer Medien verrissen. Im Zürcher Tages-Anzeiger werden die von Bärfuss beschriebenen Zerfallserscheinungen der Schweiz kurzerhand auf seine eigenen «analytischen Fähigkeiten»98 übertragen. Man wirft dem Autor vor, dass er seinen Text nicht gut recherchiert habe, sondern mit «Schaum vor dem Mund» eine «undifferenzierte» Attacke geführt habe.99 Wer «von der Schweiz, diesem ökonomisch und künstlerisch potenten Land, als einem ‹Volk von Zwergen› spricht», so der Ressortleiter Kultur des Tages-Anzeigers, der bleibe «fern der Realität».100 Wehe, wer es wagt, die Schweiz in ihrem Stolz zu verletzen. Der Chefredaktor der Aargauer Zeitung moniert in einem Kommentar, dass Bärfuss in seinem Text «nichts zu sagen» habe, «was man nicht schon anderswo – und dort stringenter formuliert – gelesen hat».101 Auch die Basler Zeitung nennt die literarischen Fähigkeiten von Lukas Bärfuss «limitiert» und den Autor selbst einen «literarischen Grobmotoriker», der sich «in seiner geistigen Provinz» verschanze.102 Lukas Bärfuss hat die Schweizerinnen und Schweizer persönlich angegriffen, jetzt wird zurückgeschossen. Pedro Lenz, Schriftsteller aus Olten, hat das kommen sehen und Lukas Bärfuss in einem offenen Brief gewarnt: «Ich warne dich vor der Rache derer, die du herausforderst. Es gibt nichts gratis bei uns, nicht einmal die Gratispresse ist gratis. Sie werden dich plagen. […] Auf dich als Person werden sie zielen, plump, aber böse […].»103
Am darauffolgenden Wochenende sorgten die Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger für einen weiteren Rechtsrutsch im Parlament. Das Verhältnis der Schweiz zur EU ist nach wie vor schwierig. Eine Lösung der zahlreichen Probleme, die anstehen – wie etwa ein Rahmenabkommen –, ist weiterhin nicht in Sicht. Nase zuhalten und abwarten: An dieser helvetischen Devise änderte sich auch nach der Polemik von Lukas Bärfuss nichts.
Die Schweiz ist des Wahnsinns, FAZ 15.10.2015
«Am kommenden Sonntag wählt die Schweiz das neue Parlament. Der dritte Rechtsrutsch in sechzehn Jahren scheint eine ausgemachte Sache zu sein; aber was viele hierzulande in Unruhe versetzt, ist nicht der Wahlsonntag, sondern der ebenfalls nahende 26. Oktober.
An jenem Montag läuft nämlich die Frist aus im Sammelspiel, das Migros, der grösste Einzelhändler der Schweiz, in diesen Tagen veranstaltet. In seinen Filialen gibt es für jeden Einkauf über zehn Franken ein Glücksbeutelchen, darin eine von insgesamt fünfzig nationalen Sehenswürdigkeiten. Mit im Beutelchen ein Sticker, den der Sammler in ein Album kleben darf. Die Gebühr für das Heft wird durch die aufwendige Gestaltung gerechtfertigt. Vierfarbig glänzen da die schönsten Schönheiten