Karmische Rose. Ulrike Vinmann

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Название Karmische Rose
Автор произведения Ulrike Vinmann
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783937883588



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Liselotte sah das wohl als Schande an. So waren sie und ihr Mann eines Tages zu dem Kinderheim in Berlin gefahren, in das man Sarah direkt nach ihrer Geburt gebracht hatte, und hatten sie mitgenommen.

      Sarah wusste nur so viel über ihre leibliche Mutter, dass diese vor ihrer Geburt festgelegt hatte, dass sie sofort nach der Entbindung zur Adoption freigegeben werden sollte. Sie hatte sie noch nicht einmal sehen wollen. Sarah hatte in einer Therapiesitzung ihre Geburt nochmals erlebt. Sie hatte gespürt, wie verzweifelt ihre Mutter aus dem Krankenhaus und aus Berlin wegwollte und dass sie Sarah auf keinen Fall nach der Geburt sehen wollte, um keine Bindung an ihr Kind zu entwickeln.

      Sarah konnte sich noch daran erinnern, wie sie in der Rückführung bittere Tränen geweint hatte, als sie sich damit konfrontieren musste, dass ihre Mutter sie nicht wollte. Gleichzeitig hatte sie es als heilsam empfunden, endlich einen Teil ihrer Herkunftsgeschichte auszugraben. Aber was sie wusste, war immer noch viel zu wenig.

      Sie ging zurück ins Bett und dachte: »Es ist schon komisch, wie ähnlich das Verhalten meiner Adoptivmutter vor dreiunddreißig Jahren und das Verhalten meiner Anwältin vor fünf Wochen im Gerichtssaal sind. Genauso wie mich meine Mutter immer angegriffen hat, statt mich zu beschützen, hat Frau Gebert dasselbe getan.«

      Neben ihr schlief ihr Mann Helmut. Sie hörte seine regelmäßigen Atemzüge. Schon allein dies beruhigte sie. Im Gegensatz zu anderen Männern, die vor ihm ihre Tür- und Bettschwelle überschritten hatten, fühlte sie sich bei Helmut vollkommen geborgen. Er vermittelte ihr das Gefühl von Sicherheit, Bestätigung und Unterstützung, nach dem sie so lange gesucht hatte, und er tat dies, ohne sie dabei einzuengen.

      Wenn sie darüber nachdachte, warum er so anders war als die Männer, die es vor ihm in ihrem Leben gegeben hatte, vermutete sie stets, dass es damit zusammenhing, dass er eine glückliche Kindheit in der Schweiz gehabt hatte und zwei Elternteile, die ihn wirklich liebten.

      Er war als einziger Sohn wohlhabender Bergbauern aufgewachsen. Seine Eltern hatten ihm nicht aufgezwungen, den Hof zu übernehmen, obwohl er der alleinige Erbe war. Als abzusehen war, dass er das Bergdorf, in dem er aufgewachsen war, verlassen würde, um in Deutschland zu studieren, hatten sie ihm keine Steine in den Weg gelegt, sondern ihn im Gegenteil unterstützt.

      Als Sarah und Helmut sich kennenlernten, gab es von Anfang an eine starke Anziehung zwischen ihnen, aber es hatte lange gedauert, bis Sarah die Ängste überwunden hatte, die sie aus ihren alten Beziehungen mitgebracht hatte, vor allem aus ihrer Ehe mit Leonies Vater Armin, deren Ende für Sarah mit großen Schmerzen, tiefer Enttäuschung und viel Trauer verbunden gewesen war. Erst mit der Zeit entwickelten sich ihre Liebe und ihr Vertrauen zu Helmut.

      Er warb mit Beständigkeit und Charme um sie. Das tat ihr gut und war Balsam für ihre verwundete weibliche Seele. Gleichzeitig hatte er ein feines Gespür für ihre Grenzen. Überhaupt war es diese Sensibilität – gepaart mit Ritterlichkeit, Charme und Männlichkeit –, die Sarah vollends für ihn einnahm.

      Helmut hatte keine eigenen Kinder, kam jedoch mit Leonie, die mitten in der Pubertät steckte, gut zurecht. Ihre häufigen Stimmungsschwankungen nahm Helmut mit Gelassenheit und Souveränität. Leonie spürte, dass er sie respektierte, und sie gab ihm diesen Respekt zurück.

      Als Helmut ihr einen Heiratsantrag machte, gab es für Sarah nur eine Antwort: »Ja.« Sie heirateten auf Hawaii und Sarah dachte, dass sie noch nie so glücklich gewesen war, außer bei Leonies Geburt.

      Sie stand auf und schenkte sich noch ein Glas Wasser ein. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Einem Springbrunnen gleich sprudelten die Erinnerungen aus ihrer Seele empor – Erinnerungen, die ihrem Bewusstsein zugänglich waren, und solche, denen sie zum ersten Mal begegnete.

      Manche Bilder wollte sie nicht sehen und plötzlich hörte sie in sich die Worte: »Das bildest du dir nur ein.« Wie oft hatte sie diesen Satz von ihrer Adoptivmutter gehört – eigentlich immer, wenn sie Gefühle oder Bedürfnisse äußerte, mit denen die Mutter nicht umgehen konnte.

      Als sie drei Jahre alt war, hatten ihre Adoptiveltern ein Haus gekauft. Die ersten Nächte in dem neuen Haus waren furchtbar gewesen. Ihr neues Zimmer war kalt und hatte eine sonderbare Atmosphäre. In der Nacht sah Sarah ›Männchen‹. Das erzählte sie ihrer Adoptivmutter. Diese schaute sie völlig verständnislos an: »So ein Quatsch. Schlaf endlich. Das bildest du dir nur ein.«

      Sarah erzählte es auch ihrem Adoptivvater. Dieser reagierte ein wenig verständnisvoller, aber auch er tat nicht das, was er hätte tun sollen, nämlich seiner Tochter ein anderes Zimmer zu geben. So hatte sie Nacht für Nacht Angst und wenn die Angst zu groß wurde, versuchte sie, sich mit den Worten ihrer Mutter einzulullen. »Ach, das bilde ich mir doch nur ein.« Allerdings funktionierte diese Taktik nicht wirklich gut. Die Angst verschwand nicht.

      Und eines Nachts geschah es dann. Sarah war bei ihren Adoptiv-Großeltern zu Besuch und übernachtete auch dort. In dieser Nacht krachte in ihrem Elternhaus die Decke ihres Zimmers ein. Wäre sie in ihrem Zimmer gewesen, so wäre sie von der herunterfallenden Decke erschlagen worden. Nach diesem Ereignis bekam sie ein neues Zimmer, in dem sie wesentlich besser schlief und in dem es auch keine ›Männchen‹ mehr gab.

      Sarah dachte: »Liselotte ist immer so oder ähnlich mit meinen Gefühlen umgegangen. Sie hat mich nie ernst genommen. War das der Grund dafür, dass ich den Versprechungen des Privatdetektivs so gutgläubig gegenüber war? Bin ich so anfällig für tröstende und liebevolle Worte von fremden Menschen, weil ich diese von meiner Mutter nie gehört habe?«

      Als sie gerade mit der Frage beschäftigt war, wie viel Nachholbedarf an tröstenden Worten sie wohl noch hatte, betrat Helmut die Küche. Er sah schlaftrunken aus.

      »Was ist los, mein Schatz? Warum bist du wach?« Er goss sich ein Glas Wasser ein und setzte sich zu ihr an den Küchentisch.

      Sie sagte schuldbewusst: »Ich wollte dich nicht wecken. Ich muss an Liselotte denken. Ich will zwar nicht, aber die Bilder drängen sich unaufhörlich in meinen Kopf und in mein Bewusstsein.«

      Helmut nickte. Sarah fuhr fort: »Ich glaube, dass durch diese ganze Geschichte mit dem Privatdetektiv viele alte Gefühle wieder an die Oberfläche gespült werden, die irgendwie mit Geld, Betrug und Angriff zu tun haben.«

      »Willst du die Geschichte mit dem Hundertmarkschein hören?« Er machte eine zustimmende Geste und sie begann zu erzählen.

      »Du weißt ja, dass Geld immer ein Reizthema für meine Adoptivmutter war, und du weißt auch, dass mein Adoptivvater mit seinem kleinen Lebensmittelladen nicht gerade fürstlich verdiente. Lilo sagte immer, dass zu wenig Geld hereinkäme, und sie maß ihn an Vorstellungen, die er nie hätte erfüllen können. Einer ihrer beliebtesten Aussprüche war: ›Wenn mein Vater mitbekommen würde, dass ich mit einem Mann verheiratet bin, der mir nichts bieten kann, würde er sich im Grab umdrehen.‹ Solche Sätze gab sie bevorzugt am Essenstisch von sich, bei den seltenen Gelegenheiten, als wir zu dritt waren und es eigentlich harmonisch hätte sein können.«

      Sarah seufzte. »Mein Vater setzte meiner Mutter nie wirklich etwas entgegen und ich schämte mich für ihn, wenn er schwieg.« Sie überlegte kurz. »Ach, eigentlich habe ich mich für beide Eltern geschämt – für meine Mutter wegen der unpassenden und peinlichen Äußerungen und für meinen Vater wegen seines Schweigens, seiner Wehrlosigkeit und seiner Resignation.«

      Helmut blickte sie mitfühlend an.

      »Sie ließ keine Gelegenheit aus, um den Lebensstandard unserer kleinen Familie mit dem der Nachbarn und Bekannten zu vergleichen. Immer schnitt unsere Familie dabei schlechter ab als die anderen und immer gab sie meinem Vater die Schuld daran. Als ich in die Pubertät kam, traute ich mich kaum, meine Mutter um Geld für Kleidung oder für die Schule zu bitten.«

      Sarah nahm einen Schluck Wasser. »Einmal hatte ich sie um Geld für einen Zeichenblock für die Schule gebeten. Sie war in dem Moment in keiner guten Stimmung, ohrfeigte mich und schrie mich an. ›Wir haben kein Geld, weil dein Vater kein Geld verdient!‹ Ich ging weg und fühlte mich schlecht.«

      Sie seufzte. »Und du weißt ja, wie schlecht ich mich sowieso schon auf dem Elitegymnasium gefühlt habe, auf das meine