Название | Karmische Rose |
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Автор произведения | Ulrike Vinmann |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783937883588 |
Sarahs Adoptivvater sah dem allem zu, ohne einzugreifen, und es gab auch sonst niemanden aus der Verwandtschaft, der sich für Sarah eingesetzt hätte. So lernte sie schon früh, mit zweierlei Maß zu messen, was ihren Wert und den Wert ihrer Bezugspersonen anbetraf.
Sie fuhr mit ihrer Erzählung fort. »Du weißt, dass ich oft im Laden meines Vaters mithelfen und auch Kunden beliefern musste. Eines Tages sollte ich ein paar Flaschen Sherry an einen reichen Kunden meines Vaters liefern. Ich bin mit meinem Fahrrad in den Laden gefahren, habe die Sherryflaschen genommen und das Wechselgeld, das mein Vater mir mitgab. Dann fuhr ich zu dem Kunden.
Er war ein gediegener Herr im besten Alter und er begrüßte mich mit den wohlwollenden Worten: ›Na, kleine Sarah, hilfst du deinem Papa wieder fleißig?‹ Ich spürte in jenem Moment einen Anflug von Scham, obwohl es nichts gab, wofür ich mich hätte schämen müssen. Vielleicht bezog sich das Gefühl auf meinen Vater, dem nichts Besseres einfiel, als seine kleine Tochter mit Alkohol und auf dem Fahrrad zu einem Kunden zu schicken, anstatt diese Arbeit selbst auszuführen oder von jemand anderem ausführen zu lassen.«
Helmut schaute Sarah mit Betroffenheit an. »Erzähl weiter«, sagte er mit seiner ruhigen, klaren Stimme.
»Der Kunde bezahlte mit einem Hundertmarkschein und ich gab ihm das Wechselgeld, das Papa mir mitgegeben hatte. Ich steckte den Hundertmarkschein in das kleine Papiertütchen, in dem sich das Wechselgeld befunden hatte, und verstaute es in meiner Jackentasche. Dann stieg ich wieder auf mein Fahrrad und fuhr durch die herbstliche Landschaft mit vielen bunten Laubhaufen zurück zum Laden.«
»Als ich dort ankam, verlangte mein Vater das Geld. Ich wollte das Tütchen aus meiner Jackentasche ziehen und stellte mit einem Riesenschreck fest, dass es nicht mehr da war. Ich hatte große Angst, denn ich hatte schon mehrmals erlebt, dass mein Vater sehr cholerisch reagieren konnte, wenn er über etwas wütend wurde. Und so geschah es auch in dem Moment. Als er mein erschrockenes Gesicht sah, brüllt er los: ›Wo ist das Geld? Du wirst doch nicht etwa das Geld verloren haben?‹
Ich fing an zu weinen. Mein Vater lief im Laden umher und schimpfte und schrie laut vor sich hin. Dann grifft er zum Telefon und rief Mama an.«
Sie hielt inne. Helmut konnte sehen, wie sie völlig in die Erinnerung eintauchte. Er füllte ihr Wasserglas nach.
»Ich hörte, wie Papa ins Telefon brüllte, dass ich zu dumm sei, um auf das Geld aufzupassen. Dann knallte er den Hörer auf die Gabel und schrie mich an: ›Fahr nach Hause zu deiner Mutter. Und dann such das Geld und bring es mir.‹
Ich stieg schluchzend auf mein Fahrrad und radelte nach Hause. Meine Mutter empfing mich mit einem strengen Blick. ›Was ist passiert?‹, wollte sie wissen. ›Wo ist das Geld?‹ Ich schluchzte und sagte: ›Ich weiß es nicht. Ich glaub, ich hab's verloren.‹ Mama erwiderte: ›Du musst es finden. Dein Vater braucht das Geld. Er wird sehr wütend auf dich sein, wenn du es ihm nicht bringen kannst.‹
Ich war verzweifelt. Wie sollte ich das Geld finden? Es gab so viele Laubhaufen in dem Park und inzwischen hatte es auch angefangen zu regnen. Das interessierte Mama aber nicht und sie kam auch nicht auf die Idee mitzukommen. Ich stieg wieder auf mein Fahrrad. Einerseits glaubte ich nicht, dass es möglich sei, das Geld in den vielen Laubhaufen zu finden, andererseits hatte ich schreckliche Angst, wenn ich mir vorstellte, ohne das Geld zu meinem Vater zu kommen.«
Helmut schüttelte den Kopf. Sarah konnte Empörung in seinem Gesicht sehen. Er sagte: »Ich verstehe einfach nicht, wie eine Mutter so kalt sein kann.«
»Der Regen tröpfelte auf mich herab und langsam wurde es auch noch dämmrig. Ich versuchte, mich zu konzentrieren, und betete: ›Bitte, bitte, lieber Gott, hilf mir, das Geld zu finden. Ich muss es finden.‹
Im Park angekommen, stieg ich vom Fahrrad ab und suchte angestrengt den feuchten, mit Laub bedeckten Boden ab. Eine Frau beobachtete mich und fragte, was ich da tue. Ich antwortete: ›Ich habe einen Hundertmarkschein in einem Tütchen verloren. Das Geld ist für meinen Vater. Ich muss das Tütchen wiederfinden, sonst ist mein Vater ganz böse.‹ Die Frau reagierte betroffen und sagte mir, dass sie mir helfen würde. Sie fragte mich, ob ich mich erinnern könne, wo ich das Tütchen verloren hatte, aber ich konnte mich nicht erinnern. Ich bemerkte aber an dem Verhalten der Frau, dass sie nicht daran glaubte, dass wir das Geld wiederfinden würden.«
Sarahs Augen füllten sich mit Tränen und Helmut strich ihr zärtlich übers Haar.
»Wir durchwühlten eine Zeit lang die feuchten Laubhaufen im Park. Es war klar, dass die Chance, das Tütchen mit dem Geld in einem der Haufen zu finden, gegen null ging. Nach einer halben Stunde Suchens und zunehmender Dunkelheit sagte die Frau vorsichtig zu mir, dass es vielleicht besser wäre, jetzt aufzuhören. ›Du solltest langsam nach Hause fahren. Es wird schon dunkel.‹ Ich war verzweifelt. Meine Gedanken überschlugen sich. Was sollte ich der Frau sagen? Dass ich panische Angst davor hatte, nach Hause zurückzukehren? Dass ich Angst hatte, dass mein Vater schreien und meine Mutter mich womöglich schlagen würde? Ich wusste, dass ich der Frau das unmöglich erzählen konnte. Ich schämte mich viel zu sehr dafür.«
Sie blickte Helmut in die Augen. »Weißt du, ich hatte oft das Gefühl, keine ›normalen‹ Eltern zu haben, und ich schämte mich, weil alles so unnormal war.«
Ihr Ehemann nickte. »Das ist verständlich, Sarah. Irgendwie musstest du mit der Situation umgehen. Du konntest ja als Kind nicht deine Koffer packen und ausziehen.«
Sarah erwiderte traurig: »Nein. Das konnte ich nicht.« Sie seufzte. »Ich bedankte mich bei der Frau für ihre Hilfe und stieg wieder auf mein Fahrrad. Dann radelte ich langsam aus dem Park hinaus und die Straße entlang. Ich war so verzweifelt und hoffnungslos. Am liebsten wäre ich einfach verschwunden. Ohne das Tütchen nach Hause zurückzukehren, erschien mir schrecklich, aber was sollte ich sonst tun?
Ich fuhr langsam den Weg entlang, schwankend zwischen Resignation und der Hoffnung auf ein Wunder. Mir war kalt und ich wünschte mir voller Inbrunst, dass irgendein Zauberer mich einfach aus der Situation erlösen würde. Je näher ich meinem Elternhaus kam, desto weiter wünschte ich mich weg. Aber wohin sollte ich gehen? Ich hatte ja nur diese Eltern.
Und plötzlich, du wirst es nicht glauben, entdeckte ich etwas Weißes auf dem Boden, schon halb durchnässt vom Regen. Ich stieg vom Fahrrad ab und hob es vom Boden auf. Ich traute meinen Augen nicht – es war das Tütchen, MEIN Tütchen. Ich machte das nasse Tütchen vorsichtig auf, und sah, dass der Hundertmarkschein noch darin war. Mein Herz hüpfte vor Aufregung.
Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass ich tatsächlich die Stecknadel im Heuhaufen gefunden hatte. Dann dachte ich: ›Jetzt kann ich endlich wieder nach Hause fahren.‹
Ich hatte das Unmögliche geschafft – ich hatte das Tütchen wiedergefunden. Mein Vater würde nicht schreien und meine Mutter würde mich nicht schlagen. Heute Abend zumindest wäre der Familienfrieden gesichert. Voller Schwung stieg ich wieder auf mein Fahrrad und fuhr heim.
Zu Hause angekommen, zeigte ich meiner Mutter das Tütchen. Ich weiß noch genau, wie sie reagierte. Sie sagte, sie müsse sofort den Vater anrufen, um ihn zu beruhigen. Nachdem sie das getan hatte, war normales Abendprogramm angesagt. Hände und Gesicht waschen, Abendbrot, Zähneputzen und ins Bett gehen – ohne ein anerkennendes Wort. Aber ich erwartete auch kein Lob. Ich war schon froh, wenn die Katastrophe vorbeizog und meine Eltern in einem normalen Zustand blieben.«
»Aber das war nicht an der Tagesordnung, oder?«
»Nein, war es nicht. Von sieben Wochentagen gab es an mindestens vier Tagen irgendwelche Probleme und familiären Verstimmungen. Es war sehr schwierig für mich, die Auslöser zu erkennen, aber ich bemühte mich sehr, Anzeichen vorherzusehen und mich dann ganz brav und ruhig zu verhalten – in der Hoffnung, das drohende Gewitter möge vorbeiziehen.«
Sie