1918 - Wilhelm und Wilson. Magnus Dellwig

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Название 1918 - Wilhelm und Wilson
Автор произведения Magnus Dellwig
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783874683647



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habe ich meine Erwiderung auf die bisher ja durchaus moderat ausgefallene Eröffnung des Gespräches durch den Kaiser begonnen. Und es geht von meiner Seite genau so weiter, ohne Rücksicht darauf, dass ich mit meinem ehrwürdigen Herrn Papa disputiere.

      `Es war nicht zuletzt dein Handeln oder Nicht-Handeln, das die Lage des Reiches seit 1914 immer wieder verschlechtert hat. Daran können wir nicht mehr vorbei sehen, lieber Papa!

      Dieses lieber Papa wirkte auf mich selbst wie der reinste Widerspruch zu Inhalt und Tonfall meiner Worte. Vielleicht wollte ich zum Mindesten den kleinsten Versuch unternehmen, eine unnötige Verschärfung der Atmosphäre zu vermeiden. Doch mit einem Mal, lieber Doktor Stresemann, hatte ich mich in den Disput geworfen und es gab kein zurück mehr. Um ehrlich zu sein, nachdem ich die Stimmung gründlich verdorben hatte, wollte ich sogar die Gelegenheit nutzen, um meine Vorstellungen und Wünsche einmal los zu werden. Ich stellte mir vor, wie ich wohl handelte, wäre ich selbst der Kaiser. Während des folgenden Monologs beschlich mich wohl die Einsicht, dass es immer leichter sei, von außen harsches Vorgehen zu fordern, als wenn man selbst die volle und letzte Verantwortung für unser Volk trüge. Doch unbeschadet dessen wählte ich den Parforceritt!”

      Der Kronprinz wirkt zwar äußerlich ruhig, doch nicht wirklich innerlich ausgeglichen und auch nicht restlos davon überzeugt, dass die Welt so klar und vermeintlich einfach sei, wie es seiner anschließenden Rede zu entnehmen sein wird. Ich fühle mich ihm in all seinen Zweifeln nahe. In meiner Fraktion gibt es nicht wenige Stimmen, die ähnlich denken und dem Kaiser eine Mitschuld am bisherigen Kriegsverlauf geben, die ihn überdies für schwach halten in personellen Dingen, also bei der Auswahl von Reichskanzlern und Heeresführern sowie bei der Entscheidung über den Zeitpunkt von Wechseln. Vor allem aber stimme ich mit dem Kronprinzen in einer zentralen Beurteilung überein: Seine Majestät ließe sich seit jeher von seinen Beratern, von seinem Hofstab und seinem Zivilkabinett viel zu sehr treiben oder bevormunden! Die Führungsschichten des Reiches haben anders als bis 1913 die Gewissheit verloren, dass ihr Kaiser Herr der Lage sei, um das Reich mit einem klaren und zielstrebigen Plan zum Sieg zu führen. Somit verstehe ich den Ansatz für die Kritik des Kronprinzen nur zu gut. Und ebenfalls empfinde ich seine innere Zerrissenheit mit: Dem eigenen, geschätzten und vielleicht gar geliebten Vater aus Staatsräson persönliche Vorwürfe machen zu müssen, und dann auch noch ausgerechnet am Fest des Friedens und der Familie, zu Weihnachten, kann natürlich keine Freude und innere Zufriedenheit geben! Doch sogleich muss ich mich erneut auf die Worte Wilhelms konzentrieren.

      “Ich fing beinahe bei Adam und Eva an, lieber Doktor Stresemann, also im Jahr 1913: ˊLieber Papa, in der Generalität gab es anlässlich des Begräbnisses des großen Schlieffen laute und warnende Stimmen, dass die fortlaufende Veränderung des Planes für den doppelten Krieg gegen Frankreich und Russland Risiken mit sich bringe. Weißt du noch, was Feldmarschall Schlieffen aus seinem Ruhestand immer wieder mahnend forderte: Macht mir den rechten Flügel stark! - Warum wohl? Er kannte die Gefahr, dass mit der russischen Heeresaufstockung immer mehr deutsche Divisionen nach Osten geschickt würden und uns dann fehlen würden, um im Westen Paris einzukreisen und zu nehmen, und gleichzeitig noch eine irgend geartete Front bis zur Kanalküste aufrecht zu erhalten. Schlieffens Plan sah zu Beginn ein Kräfteverhältnis von sieben zu eins vor. Und was machte dieser Moltke daraus? Drei zu eins! Das war doch schon Wahnsinn, als unser Aufmarsch begann!

      Du, lieber Papa, hast den jüngeren Moltke gemocht. Ich will gerne zubilligen: Auf mich traf dies anfangs ebenfalls zu. Aber du hast dir das kühle Urteil von der Sympathie verstellen lassen und alle Mahner überhört, die 1913 und 1914 dem Generalstabschef die Fähigkeit absprachen, den großen Krieg so erfolgreich zu gewinnen wie sein Großonkel unser Heer 1866 und 1870 geführt hatte.ˋ

      Daraufhin wiegelte der Kaiser mit einer laschen Handbewegung ab und fragte resigniert: “Was sollen denn die ollen Kamellen, mein lieber Willi?” Auf solch eine Antwort hatte ich nur gewartet. Sie signalisierte mir, dass ich in der Vorwärtsbewegung, er aber hoffnungslos in der Defensive war. Also setzte ich nach:

      “Moltke hat den fatalen Fehler begangen, ausgerechnet Anfang September, als im Westen die Entscheidung über die Einnahme von Paris fiel, ein ganzes Armeekorps zu Hindenburg nach Ostpreußen zu entsenden. Der Fall liegt doch wohl klar: Moltke verlor die Nerven, genau zu dem Zeitpunkt, als es darauf ankam, ein kaltes Hinterteil zu beweisen. Und was hast du unternommen? Nichts, wenn ich das richtig sehe. Der Kaiser blieb bis auf eine kurze Stippvisite im Hauptquartier in Spa in Berlin und überließ seinem Heeresführer alle Entscheidungen. Papa, ein Friedrich der Große wäre im August nach Spa gereist und hätte seinen Generalstab nicht mehr eine Minute aus den Augen gelassen! Das hätte die Verantwortung vor der Geschichte von dir verlangt!”

      Seine Majestät sah mich bei meinem Vortag zuweilen entgeistert, zuweilen auch zu innerem Widerspruch gereizt an. Lieber Stresemann, mir ging es nun darum, in das Jahr 1917 zu springen. Eigentlich wollte ich damit die Welt der Vorhaltungen hinter mir lassen und zur Welt der Zukunft hinüberwechseln. Zu Falkenhayn und der zweiten OHL verlor ich nur einen Satz, nämlich dass der Generalstabschef kein Mittel ersonnen habe, die Front im Westen zu knacken. Immerhin wusste er, wie er sich 1915 an der Somme der gegnerischen Übermacht zu erwehren hatte. Die Einsetzung der dritten OHL bezeichnete ich dann ausdrücklich als richtig, wobei ja eigentlich nicht der alte Hindenburg, sondern der frische Ludendorff der starke Mann sei. Der habe auch den nötigen Machtinstinkt, um sich mit den Größen der Schwerindustrie zu verbünden. Ich sagte dann ein wenig versöhnlich:

      ˊPapa, ich werfe dir doch nicht vor, dass du die zweite und die dritte OHL berufen hast. Es hätte vielleicht besser, es hätte indes auch viel schlechter kommen können. Was ich aber für die Aufgabe des Monarchen in der Krise erachte, ist Folgendes: wie der Kapitän ganz oben auf der Brücke zu stehen, damit die gesamte Mannschaft die Ruhe spürt, die vom Chef ausgeht, wenn es augenscheinlich eng wird. Der Juli 17 brachte die schwerste innere Krise seit Kriegsbeginn mit sich. Du aber hast dich seit der Osterbotschaft nicht mehr an dein Volk gewandt. Die Ereignisse nahmen mit Erzbergers Resolutionsentwurf Fahrt auf. Du und ich, Ludendorff und Stresemannˋ- jawohl, ihren Namen, lieber Herr Doktor, wollte ich einführen - ˊjedenfalls die intimen Kenner des Reiches wussten doch schon im Juni, dass Bethmann zum Frieden auf der Basis des Status quo ante tendierte. Hättest du ihn zum Rücktritt gezwungen, bevor Erzberger seine Resolution einbrachte, und einen starken Reichskanzler mit unverbrüchlicher vaterländischer Gesinnung ernannt, dann wären der ganze Spuk, die Aufregung im Inneren, das unglückliche Signal an unsere Feinde, dass die deutsche Reichsregierung unter den weltweit gültigen Bedingungen des Sommers 1917 auf einen Gestaltungsfrieden verzichten wolle, zerplatzt, bevor sie überhaupt wie ein böser Geist die Flasche verließen! Sie hören, Stressemann, ich war mächtig in Fahrt.

      Kronprinz Wilhelm macht eine Pause, legt die Zigarre bei Seite und fordert mich auf, von der hervorragenden Herrentorte zu probieren. Er lächelt auf ein Mal. Die beherzte Erzählung hat seinen Geist befreit. Je energischer er von seinen Forderungen an den Regenten berichtet, um so selbstsicherer ist er geworden, in dem Schlagabtausch das Richtige, das Unvermeidbare verlangt zu haben. Doch bisher ging es ausschließlich um die Vergangenheit. Und ich war mir sicher, dass der Kronprinz mich nicht heute Nachmittag zu sich gebeten hatte, um sich in vaterländischem Pathos oder in zwischen uns konsensualen Wahrheiten über die Vergangenheit zu ergehen. Doch eine andere Frage brannte mir zusehends unter den Nägeln:

      „Und Seine Majestät der Kaiser hat das alles, ihre ausführlichen Erläuterungen, kaiserliche Hoheit, mehr oder minder widerspruchslos über sich ergehen lassen?”

      „Aber selbstverständlich nicht, lieber Doktor Stresemann. Mein Vater schien mir zuerst überrascht, dann entsetzt, dann einfach nur still auf meine Vorhaltungen zu reagieren. Doch als ich mit der Entlassung Bethmanns fertig wurde, kehrte ein Leuchten in seine bis dahin traurigen, müden Augen zurück. Und dann zuckte ich tatsächlich zusammen und blieb ganz still, um der urplötzlich zurückgekehrten Autorität des Kaisers, des mächtigsten Monarchen Europas zu lauschen:

      `Willi, was erlaubst du dir gegenüber deinem Vater und deinem Kaiser! Zügele deine Zunge und bedenke, dass du heute noch ein niemand bist. Solange ich lebe, hat der Kronprinz in bedingungsloser Treue zum Monarchen zu stehen. Du selbst wähltest eben den Vergleich mit Friedrich dem Großen. Doch ich sage dir, zu seiner Zeit war Friedrich seinem Vater