1918 - Wilhelm und Wilson. Magnus Dellwig

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Название 1918 - Wilhelm und Wilson
Автор произведения Magnus Dellwig
Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783874683647



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mit dabei! Wir werden der zivilen und der militärischen Reichsleitung klare Vorgaben machen. Wie soll der Krieg im Osten beendet werden? Wie mobilisieren wir alle Kräfte für die letzte, entscheidende Offensive im Westen? Mit welchen Zielen zwingen wir Frankreich und England danach an den Verhandlungstisch?`”

      „Kaiserliche Hoheit, nun beginne ich zu ahnen, warum sie mich heute hierher bestellt haben. Sie haben gestern Kronrat gehalten. Der Kronrat hat Beschlüsse gefasst. Doch die Regierung kann nicht über alles entscheiden, das für die Wehrhaftigkeit Deutschlands im neuen, im hoffentlich letzten Kriegsjahr 1918 ausschlaggebend sein wird. Möchten sie mit mir da eher über die Kriegsziele oder aber über die innenpolitische Lage und die Bereitwilligkeit der Reichstagsfraktionen zur Fortsetzung aller kriegerischen Anstrengungen unter dem Schirm des Burgfriedens sprechen?”

      „Sehr scharfsinnig, mein lieber Doktor Stresemann! Irgendwie natürlich über beides. Doch wenn unser Plan aufgeht und der Sieg im Westen errungen wird, ja dann sind die Einigung über die Kriegsziele zwischen den Ruhrbaronen und der übrigen Industrie sowie eine gleiche Vereinbarung zwischen der OHL und Reichskanzler Graf Hertling nicht unser Hauptproblem. - Obwohl ich inzwischen weiß, dass sie eine Skepsis gegenüber der Zuversicht auf einen vollständigen militärischen Sieg zurückbehalten, werden wir in den kommenden Monaten auf dem erfolgreichen Wege unserer weiteren Kriegführung zuerst in Russland, dann aber in Frankreich noch genügend Zeit finden, einen Frieden zu schließen, der Deutschland nicht für Jahrzehnte zum verhassten Hegemon des Kontinents macht. Tatsächlich sollten wir unsere Vormachtstellung in Europa in das moderne Kleid von nationaler Selbstbestimmung und Völkerverständigung wandeln. Dabei dürfen sie durchaus auf mich zählen, lieber Doktor Stresemann. Soweit reicht mein Angebot am heutigen Abend. Es hat zum Gegenstand, dass wir beide hier im neuen Jahr zu einem ganz persönlichen Zweierbündnis gelangen und uns in die Hände spielen werden. Je länger Hugenberg und Ludendorff davon nichts wissen und es nicht einmal ahnen, umso wertvoller wird diese Übereinkunft sein!”

      Mein Herz schlägt laut und feste. Der Kronprinz bietet mir eine geheime Übereinkunft an, die den Interessen des Friedens, des freien Handels, damit der Exportwirtschaft und sogar manchen Interessen der demokratischen Fraktionen im Reichstag förderlich sein dürfte. Für eine lange Sekunde schwelge ich in einem schönen Tagtraum: Ich bin das Scharnier, der Dreh- und Angelpunkt zwischen Scheidemann, Erzberger und Haußmann hier, Rathenau, Ballin und Duisberg dort, dem Kronprinzen und einigen anderen weitsichtigen Militärs, vielleicht Oberst Bauer darunter, auf der dritten Seite. Uns gelingt es gemeinsam, die OHL, die Schwerindustrie und das konservative Junkertum im entscheidenden Moment, nämlich wenn der Westen nach unserer Westoffensive um Frieden nachsuchen muss, ein kühnes Modell von einem neuen Europa durchzusetzen. In dieser kühnen Vision wird das Reich die unbestrittene wirtschaftliche und militärische Vormacht sein. Doch zugleich werden die Völker des Kontinents eine Zollunion eingehen und eine Partnerschaft vereinbaren, die irgendwie das herkömmliche Bündniswesen der Vergangenheit obsolet machen wird. Ich schüttele mich innerlich und streife meinen Tagtraum als zu optimistisch, als gefährlich naiv von mir ab. Ich zwinge mich dazu, Realist zu bleiben.

      „Zum wiederholten Male, kaiserliche Hoheit: Ich danke ihnen für das unermessliche Vertrauen, das sie mir entgegen bringen. Ich danke ihnen auch für die noch ein wenig nebulöse Zielbeschreibung. Sie ist doppelt zutreffend. Einmal kann ich ihnen nämlich inhaltlich völlig zustimmen, zum anderen Mal legt die vage Formulierung offen, dass sie und ich heute noch nicht recht wissen, was zum Zollverein noch hinzutreten muss, damit Europa im weiteren 20. Jahrhundert ein Hort der Stabilität, des Wohlstandes und der Macht in der Welt wird. Diesbezüglich genügt mir völlig, wenn sie mir zusichern, dass wir zur rechten Zeit, vor der Aufnahme von Friedensverhandlungen, erneut und so oft wie nötig vertraulich unter vier Augen zusammen kommen.”

      Kronprinz Wilhelm nickt deutlich und bekräftigt dies noch mit einem betont langsam vollzogenen Augenaufschlag.

      „Sie haben mein Ehrenwort als Thronfolger der Krone der Hohenzollern, zukünftig der machtvollsten Dynastie der Erde, mein lieber Stresemann.“

      Auf die pathetische Zusage seiner kaiserlichen Hoheit folgt eine Weile, die einzig und allein von den Blicken der in sich ruhenden Zuversicht, die wir uns zuwerfen, ausgefüllt wird.

      „Darf ich denn dann zu den inneren Verhältnissen kommen, um deretwillen sie ja heute auch hier sind, wie sie so scharfsinnig geschlussfolgert haben? Graf Hertling, Staatssekretär Kühlmann und Generalquartiermeister Ludendorff haben sich beim Kronrat darin überboten zu betonen, dass die Wehrkraft des Reiches bei der großen Westoffensive in gleich mehrfachem Sinne von der Ruhe an der Heimatfront abhängen wird. Sie stimmten darin überein, die sozialistischen und die christlichen Gewerkschaften für Disziplin und fortgesetzte Arbeit in den Rüstungsfabriken gewinnen zu müssen. Sie zeigten sich aber abgesehen von pflaumenweichen Bekundungen ihrer Zuversicht in meinen Augen sehr hilflos, wie denn das Mitwirken der Arbeiterschaft erreicht werden sollte. Ich dachte sogleich an ihre Gespräche mit den Herren Scheidemann, Haußmann und Erzberger vom Frühjahr 1917, lieber Doktor Stresemann. Doch ich hielt mich zurück. Nicht nur, um unsere Zusammenkunft vom Mai zu schützen. Gerade auch, um hier und heute ungestört, allein mit ihnen darüber sinnieren zu können, wie es uns zum Wohle des Vaterlandes gelingen möge, den inneren Frieden zu wahren, um den äußeren erst noch zu gewinnen.”

      Ich blicke dem Kronprinzen lange in die Augen. Ihm scheint das unangenehm zu werden, denn er lächelt und sieht dann weg, um zum Kognakschwenker zu greifen. Ich rätsele kurz, wie ungeschminkt ich meine Auffassung äußern soll. Dann weiß ich, diplomatisch formuliert zwar, doch es muss raus, was mir Sorgen bereitet.

      „Euer kaiserliche Hoheit wissen sicher noch, welche Bedeutung die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes im Königreich Preußen für die demokratischen Fraktionen des Reichstags hat. Angesichts der zweiten Revolution in Russland, angesichts der zunehmenden Hoffnung auf einen Separatfrieden mit den Revolutionären geraten wir in sehr kritisches Fahrwasser. Millionen deutscher Arbeiter und Millionen ihrer Frauen sind kriegsmüde. Es bedarf nur eines kleinen Auslösers und die Stimmung schlägt gegen die Eliten der kaiserlichen Gesellschaft um. Ich sage ihnen jetzt im tiefsten Vertrauen: Selbstverständlich bin ich mit den Herren von den anderen Reichstagsfraktionen immer noch im unregelmäßig stattfindenden, aber irgendwie dann doch kontinuierlichen Austausch. Und Herr Scheidemann prophezeite Anfang Dezember, es werde im neuen Jahr Streiks geben. Diese Streiks könnten womöglich alles bisher Gekannte in den Schatten stellen. Falls das zutreffen sollte, bekommen wir sehr viel schneller als uns lieb sein kann jene innenpolitische Situation, vor der sie sich zu Recht fürchten. Und die kann Ludendorff mit den bisher von ihm gewählten Mitteln im Rahmen des Hilfsdienstgesetzes - also ein wenig Zuckerbrot und ein wenig mehr Peitsche - einfach nicht entschärfen.”

      „Hugenberg und Stinnes sehen das anders, das wissen sie doch, Doktor Stresemann, oder?”

      „Aber natürlich, die Ruhrbarone streben nach dem engsten Schulterschlusse mit der Heeresleitung und den Armeekommandos zu Hause. Jeder Arbeiter, der streikt oder aufwiegelt, solle ohne zu Zögern eingezogen werden. Die Herren Zechendirektoren und Stahlindustriellen glauben allen Ernstes, damit jetzt und sogar in der Nachkriegszeit ihre Macht in den Betrieben auf Dauer festschreiben zu können. Ich glaube inzwischen nicht mehr, dass dies funktionieren wird, und vor allem nicht, dass wir es uns erlauben dürften, dieses Risiko einzugehen und einen großen Arbeitskampf heraufzubeschwören, wenn unsere Landser an der Front auf gefüllte Munitionsarsenale für den Angriff warten. Denn eines ist klar: Der Soldat wird nicht mit voller Leidenschaft für sein Vaterland kämpfen, wenn seine Arbeitskollegen von 1914 im Ausstand sind. Deshalb klingen die Reden der Herren Stinnes, Hugenberg und Konsorten sehr selbstbewusst und stichhaltig, überzeugen werden sie mich aber und mit mir die Vertreter der demokratischen Fraktionen im hohen Hause nicht. Was nützt ihnen dann ein gewonnener Arbeitskampf, wenn darüber die Mehrheit des Reichstags ihre Friedensstrategie einschließlich der großen Offensive im Westen offen ablehnt? Kaiserliche Hoheit, haben Ludendorff und Stinnes daran wohl auch gedacht?”

      Kronprinz Wilhelm lächelt überlegen.

      „Sie haben vollkommen Recht, was ihre Einschätzung der inneren Verhältnisse im Reich betrifft. Deshalb ist es mir ja so wichtig, dieses Gespräch mit ihnen zu führen, lieber Doktor Stresemann. Ich schätze