Welche Farbe hat der Wind. Aleksandar Žiljak

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Название Welche Farbe hat der Wind
Автор произведения Aleksandar Žiljak
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783957771100



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und werden mit Maschinengewehrsalven von den Wachtürmen beschossen. Neben 41-571512 stürzt ein Zombie zu Boden, dem ein Geschoss den Schädel zerschmettert hat und auf einer Seite das Gehirn herausquillt. Aber die Flut ist nicht mehr aufzuhalten! 41-571512 läuft über den Hof, und die Zombies folgen ihm. Während Projektile ihm um die Ohren pfeifen, holt er einen Wachmann ein und reißt ihn zu Boden. Binnen Sekunden fällt ein wütender Mob über den Mann her und reißt ihn in Stücke. Seine unmenschlichen Schreie ertrinken in einer Flut von Blut.

      Die Maschinengewehre feuert weiter von den Türmen herunter. Die Zombies torkeln in einem Kugelhagel vorwärts, fallen zu Boden. Manche richten sich wieder auf, stolpern weiter, fallen wieder, erheben sich von neuem. Andere bleiben mit durchlöcherten Köpfen liegen. 41-571512 steht auf, und Blut tropft von seinem Körper, das Blut seiner Unterdrücker. Sein Blick streift über den Hof: Maschinengewehre; Tote, die sich erheben; Wachen, die um ihr Leben kämpfen oder davonlaufen, um ihre Haut zu retten; hilflose Bokors, deren Befehle niemand mehr beachtet; die Zombies; der Stacheldraht und die Freiheit dahinter; Leben; Maschinengewehre; Tod; Maschinengewehre - auf den Türmen.

      41-571512 läuft weiter, springt über die leblosen Körper hinweg, stürzt sich in das Getümmel und zwängt sich durch die Massen von Toten hindurch. Ein Wachmann stellt sich ihm in den Weg und feuert mit einer Maschinenpistole auf ihn. Die Kugeln durchbohren 41-571512, halten ihn aber nicht auf. Er rammt den Wachmann, stößt ihn dabei zu Boden, entreißt ihm die Maschinenpistole und wirft sie zur Seite. Andere Zombies fangen den entwaffneten Wachmann ein, beißen ihn mit ihren verfaulten Zähnen tot und reißen ihn mit ihren dürren, knotigen Händen in Stücke. 41-571512 erreicht den Wachturm. Über ihm mähen die Maschinengewehre alle auf dem Hof nieder. Er klettert ungehindert und unaufhaltsam die Leiter hoch. In dem ganzen Gemetzel nimmt kein Wachmann ihn zur Kenntnis.

      41-571512 klettert Sprosse um Sprosse höher. Und als er die letzte Sprosse erreicht, springt 41-571512 den Schützen an, reißt ihn von seiner Waffe weg und wirft ihn wie eine Stoffpuppe auf den Hof hinaus, wo er von der Masse zerrissen wird. Der Ladeschütze greift nach seiner Pistole, aber 41-571512 ist sofort bei ihm, legt ihm die Hände um den Hals und beißt ihm ins Gesicht. Die Hände drücken zu und zermalmen seinen Kehlkopf. 41-571512 beißt große Fleischstücke heraus, schluckt sie und beißt noch mehr ab, und es ist ein herrliches Gefühl! Er lacht über dem toten Körper und kichert und johlt vor Freude. Und dann packt er die Maschinenpistole und lehnt sein Gesicht an den Kolben. Er weiß nicht, woher er weiß, wie es geht, aber er drückt den Kolben an seine Schulter und fasst den Griff mit der rechten Hand. Sein Zeigefinger krümmt sich von ganz allein um den Abzug. Als Kimme und Korn auf einer Linie sind, drückt 41-571512 den Abzug. Er spürt die Rückschläge in der Schulter, aber er hat die Waffe fest im Griff, als er auf die benachbarten Türme feuert. Die Einschläge sind ohrenbetäubend. Er feuert auf den nächsten Turm. Und dann auf den dritten und letzten. Die MG-Schützen bekommen gar nicht mit, von wo sie der Tod ereilt.

      41-571512 feuert und feuert, doch plötzlich verstummt das Maschinengewehr. Der Patronengurt ist am Ende angekommen, alle Kugeln sind verbraucht. 41-571512 sieht hinunter: die Menge unter ihm wälzt sich voran, steigt über die Leichen hinweg. Die befreiten Sklaven reißen das Tor nieder und strömen in die Freiheit hinaus. Eine Welle unbändiger Freude bricht alle Dämme, zerreißt alle Ketten, fegt alle Angst und Flüche und Schläge und Bosheiten beiseite. Weißer Rauch steigt aus den Türen einer der Schlafbaracken auf. Die Hütte steht bald lichterloh in Flammen, und wenig später auch die anderen. Zombies mit Fackeln in den Händen laufen umher und bejubeln die Flammen. 41-571512 blickt über den dreifachen Stacheldrahtzaun hinweg: weibliche Zombies entkommen aus ihren Werkstätten. Es ist niemand mehr da, der sie aufhalten könnte. Ihre Wachen und Bokors wurden entweder getötet, als sie den Aufstand im Männerbereich des Lagers niederzuschlagen versuchten, oder sie sind davongelaufen. Beim Anblick der befreiten Frauen ist 41-571512 wieder mit Traurigkeit erfüllt. Zu spät für das Mädchen. Aber dann wischt er sich die Tränen weg und blickt auf.

      Die warme Morgensonne vertreibt den letzten Hauch der grauen Kälte. Über dem IGZ hat sich der Nebel vom Fluss Sava gelichtet. Neue Freude erfüllt 41-571512, als er von seinem Platz auf dem Wachturm den Tag begrüßt, der vor ihnen liegt. Einige Zombies bleiben stehen und heben den Blick. Sie winken ihm zu, plappern fröhlich vor sich hin, jubeln ihm zu, weil er es war, der sie vom Tod zum Leben geführt hat. Auch andere bleiben stehen und jubeln ihm zu. Rings um ihn wogt ein Meer von Freiheit, als wollten sie ihn fragen, wohin sie jetzt gehen sollen, wohin als nächstes, welchen Weg sie nehmen werden? Und vielleicht weiß 41-571512 nicht alle Antworten. Aber er weiß, dass der Albtraum vorbei ist und die Sonne das Vorzeichen eines neuen Zeitalters für sie ist: die Toten sind ins Leben zurückgekehrt. Er zieht das Oberteil seines Arbeitsanzugs aus, der mit dem Blut seines Folterers getränkt ist, und schwenkt es über seinem Kopf, ruft ihnen allen zu, dass sie sich darunter versammeln sollen, unter der roten Flagge der Freiheit.

      Deutsch von Michael K. Iwoleit

      Die Argosie

      Tagane stellte ihre Schale ab und betrachtete mit Sorge die Wolken im Westen, die sich bis hinauf zur Stratosphäre erhoben. Sie waren die Vorboten eines Gewitters. Auf der Steuerbordseite, eine halbe Meile entfernt, schwebten mehrere strahlend gelbe Blimps etwa fünfzehn Meter über den Wellen. Ihre Tentakel hingen bis zur Wasseroberfläche hinab und reichten zehn bis zwanzig Meter in die Tiefe, sanfte tödliche Fallen für alles, was sich in ihnen verfing. Marmorartige Muster auf ihren Blasen pulsierten friedlich zwischen Schwarz und Violett und gaben nicht zu erkennen, dass sich ein Gewitter zusammenbraute. Aber Tagane wusste, dass die Blimps nicht so niedrig schweben würden, wenn sie kein herannahendes Unwetter spürten. »Wir tauchen heute Nacht!«, sagte sie zu niemand bestimmtem.

      »Sollen wir auf den Inseln nach einem Unterschlupf suchen?«, fragte Slaven. Mina hatte bereits aufgegessen. Sie aß gewöhnlich schneller als andere. Conrad beachtete die anderen nicht und holte sich einen Nachschlag aus dem Topf. Nur Roberta hob den Blick und begann schneller zu essen, gekochte Algen, die sie sich mit Essstäbchen in den Mund schaufelte. »Wir tauchen heute Nacht«bedeutete, dass es Zeit wurde, die Langleinen aus dem Wasser zu ziehen.

      »Das würden wir nicht mehr schaffen«, sagte Tagane.

      »Vielleicht wird das Gewitter nicht so stark.« Slaven hatte keine rechte Lust, die Leinen einzuholen. Sie wussten alle nur zu gut, dass nicht genug Zeit gewesen war, um etwas zu fangen. Jedenfalls nichts Erwähnenswertes.

      »Wir werden nichts riskieren.« Tagane wandte sich den anderen zu: Slaven, Roberta, Mina und Conrad. »Ihr wisst alle, welche Gewässer unsere Argosie gerade durchquert.« Sie nickten wie ein Mann. Die Argosie ist so gut wie der Kapitän, dachte Tagane. Und der Kapitän ist so gut wie die Seeleute. »Los, esst auf, und dann machen wir uns an die Arbeit.«

      *

      Slaven hatte wie üblich recht. Gerade einmal etwas über fünfzig Pfund Flinkschwänze und ein paar Stachelfische. Sie vergeudeten nur ihre Köder. Große Klinker und 'kudas kamen nur nachts an die Oberfläche, wenn der Ozean in Flammen stand.

      Aber Tagane hatte wie üblich auch recht. Während sie die Leinen einholten, alle Haken sicherten und die Fische ausnahmen, wurde der Wind stärker. Die Wellen begannen gegen die Flanken der Argosie zu spritzen und ihr Deck zu nässen, und das Schiff, offenbar unbeeindruckt von dem bevorstehenden Gewitter, blähte alle vier Segel. Die Argosie pflügte durch den aufgewühlten Ozean und zog schäumendes Kielwasser hinter sich her, vom Wind voran geschoben, getrieben von Instinkten aus einer Zeit, an die sich niemand mehr erinnern konnte.

      »Soweit es uns betrifft...« Slaven trat von hinten an Tagane heran und schlang ihr die Arme um die Hüfte. Tagane nickte. Seine Berührung beruhigte sie. Tief in ihren Inneren murmelte die Argosie. Ihre Lust trieb auch Tagane an. Der Wind zerwühlte ihr pechschwarzes Haar und wälzte von Westen bleischwere Wolken heran. Auf einmal zuckte ein Blitz durch die Gewitterfront. Dann noch einer und noch einer. Es ist Zeit, beschloss Tagane. Die Argosie hielt immer noch ihre Segel ausgebreitet: ledrige Membranen von gut neun Metern Spannweite, von den starken Armen getragen und so gedreht und geneigt, dass sie möglichst viel Wind einfingen und die Argosie immer auf Kurs hielten. Aber die Argosie war schwer, angeschwollen, tief eingesunken; das Gewitter würde