Welche Farbe hat der Wind. Aleksandar Žiljak

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Название Welche Farbe hat der Wind
Автор произведения Aleksandar Žiljak
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783957771100



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etwas nicht stimmt. Er kann nicht sagen was. Er spürt nur Tag für Tag, dass etwas nicht ist, wie es sein sollte, dass ihnen etwas weggenommen wurde. Das Leben? Der Tod?

      41-571512 versucht sich zu erinnern, was vor den Baracken war. Wo war er, was hat er getan und wie hat er gelebt vor der Arbeit am Fließband? Er schließt die Augen und versucht aus den fernsten Winkeln seines Geistes Erinnerungen hervorzulocken. Es muss etwas vor der Fabrik gewesen sein! Aber was? Er hebt seine linke Hand und versucht die Nummer unter dem Barcode am Handgelenk zu lesen. Natürlich kann er sie im Dunkeln nicht erkennen, aber als er mit den Fingern seiner Rechten über die Haut streicht, spürt er, dass sie an dieser Stelle eintätowiert ist. Diese Nummer. Ist sie das einzige, was ihn von den anderen unterscheidet? 41-571512? Oder hatte er auch einmal einen Namen? Er versucht sich daran zu erinnern, aber es gelingt ihm nicht. So angestrengt er auch sucht, er findet nur Leere, Dunkelheit und Nebel, und auf einmal ist er darüber sehr bestürzt.

      Gab es vorher jemand anderen, außer Zombies und Bokors und Wachen? Mit wem hat er gelebt vor dem Lager und dem Fließband? Und wo sind diese Leute jetzt? Er versucht sie vor seinem inneren Auge heraufzubeschwören, aber er kann nicht. Und wie ist er hierher gekommen? Wurde er zur Bestrafung hergeschickt? Und wenn ja, für welche Verbrechen? Plötzlich erfüllt ihn Angst. Wo sind diese Fragen hergekommen? Und während er sich fragt, ob es ihm überhaupt erlaubt ist, solche Fragen zu stellen, spürt er, dass die Antworten von höchster Wichtigkeit sind. Für ihn. Für all die anderen, sein Arbeitskommando und die ganze Brigade. Doch die Antworten entziehen sich ihm, ganz gleich, wie sehr er sich bemüht, wie tief er in sein Inneres abtaucht - er findet sie nicht. Und das erfüllt ihn mit Kummer und Zorn.

      41-571512 liegt bewegungslos auf den Brettern, umgeben von Toten, Dutzenden Toten, und aus geschlossenen Augenlidern strömen ihm Tränen über die Wangen.

      *

      »Erklären Sie unseren Zuschauern, über welche geistigen Fähigkeiten die Zombies verfügen.«

      »Das kommt drauf an. Die Erfahrung zeigt, dass dies mit den intellektuellen Fähigkeiten und Merkmalen der Person zusammenhängt, aus der ein Zombie geschaffen wurde. Wichtig ist, dass sie gehorchen und sich an komplexen Produktionsabläufen beteiligen können, solang der Fertigungsprozess in voneinander klar getrennte, einfache Operationen zerlegt wird.«

      »Haben sie ein Gedächtnis?«

      »Natürlich! Sie erinnern sich daran, was sie gelernt haben. Das ist wichtig für, sagen wir, das Essen, Duschen, Anziehen... Es wäre wirklich sehr zeitraubend, wenn wir ihnen das jeden Tag neu beibringen müssten. Und was ihre Arbeit betrifft... Es ist wichtig, dass sie jeden Tag dieselben Operationen durchführen, dass jeder Tag dem vorherigen gleicht. Plötzliche Änderungen in der täglichen Routine verwirren sie.«

      »Erinnern sie sich daran, wer sie waren? Erinnern sie sich an das Leben, das sie geführt haben, als sie noch lebten?«

      »Nein, diese Erinnerungen sind verschwunden, zusammen mit Emotionen und abstraktem Denken. Und das sollte eigentlich keine Überraschung sein... Sehen Sie, die uninformierte Öffentlichkeit macht einen entscheidenden Fehler. Sie betrachtet die Zombies als lebende Wesen. Aber das sind sie nicht mehr. Betrachten Sie sie als Roboter. Dinge. Werkzeuge.«

      *

      Sie fällt ihm in einer Schlange weiblicher Arbeiter auf, die nach dem Morgenappell zum Frühstück marschieren. Weibliche Zombies sind in ihrem eigenen Bereich der IGZ untergebracht. Aber sie gehen gleich neben den Männern zur Arbeit und wieder zurück, getrennt durch einen dreifachen Stacheldrahtzaun.

      Sie muss eine Neue sein. 41-571512 hat sie noch nie unter all diesen hohlwangigen Gesichtern, leeren Blicken und hageren nackten Körpern gesehen. Und er ist sich sicher, dass sie ihm aufgefallen wäre. Er verfolgt sie aus den Augenwinkeln, ohne innezuhalten, ohne den Kopf zu wenden, ohne zu zeigen, das er die andere Schlange von Toten überhaupt wahrnimmt. 41-571512 hält immer den Kopf gesenkt, den Blick auf den Boden vor ihm gerichtet, und schaut nie nach rechts und links. Er ist ein gehorsamer Zombie. Sein Kopf ist leer. Er denkt nicht an das andere Geschlecht. Er weiß nicht einmal, was das ist. Auf diese Weise fängt er sich weniger Schläge und Tritte als die anderen ein. Aber er hat das neue Mädchen bemerkt, das Funkeln in ihren braunen Augen, das süße ovale Gesicht und die hübsche, nach oben gebogene Nase, die vollen Lippen, den Körper. 41-571512 hat keinen Zweifel, dass sie neu ist. Sie ist höchstwahrscheinlich gestern eingetroffen.

      Die Schlangen kriechen unter wachsamen Blicken, angetrieben von Befehlen und Peitschenschlägen, auf die Kantine zu. Am Eingang zum Frauenbereich steht ein Aufseher mit einer roten Binde um den Arm. Er ist groß und stämmig und begrüßt jede einzelne tote Frau, die die Kantine betritt, mit einem gierigen Blick. In einer Hand hält er einen Knüppel aus verschlungenem Stacheldraht. Die Frauen ducken sich, wenn sie an ihm vorbeigehen, als versuchten sie sich so klein wie möglich zu machen, unsichtbar zu werden. Und dann bleibt sein Blick an der Neuen hängen, und er grinst kurz, kaum wahrnehmbar, aber 41-571512 entgeht seine Lüsternheit nicht. Er spürt einen Stich in der Brust, etwas Neues und Unerklärliches, das ihn mit Wut erfüllt. Und dann dreht der Aufseher den Kopf, und sein Blick richtet sich durch den Stacheldraht auf 41-571512, der sofort wegschaut. Er ist ein guter Zombie. Er erregt keine Aufmerksamkeit. Aber er hat die Abscheu des Aufsehers bemerkt und wie fest er den Knüppel umklammert hielt.

      *

      »Es gibt Gerüchte über sexuellen Missbrauch...«

      »Das sind reine Lügen und Unterstellungen, die wir von Zombietech, Ltd. mit aller Entschiedenheit zurückweisen! Lassen Sie uns eines klarstellen: als Vorwürfe dieser Art aufkamen, haben wir sofort eine gründliche interne Untersuchung durchgeführt. Und ich kann Ihnen sagen, dass wir nicht den kleinsten Hinweis auf die Misshandlung, geschweige denn den sexuellen Missbrauch, von Zombies in Industrie- und Gewerbezonen entdeckt haben. Bewerber um eine Stelle in unseren Betrieben müssen sich ausgiebigen psychologischen Tests unterziehen, und unter keinen Umständen erlauben wir, dass unsere Zombies von Perversen und Psychopathen betreut werden. Ich versichere Ihnen, dass alles, was Sie möglicherweise über den sexuellen Missbrauch von Zombies, insbesondere weiblichen, gehört haben, nichts als ein Haufen boshafter Verleumdungen ist.«

      *

      Jeder neue Morgen ist ein Morgen mit ihr. Er lebt, um sie zu sehen, wenn auch nur heimlich durch den dreifachen Zaun, in einer Reihe nackter, ausgezehrter Körper. Und jeder neue Abend ist ein Abend mit ihr, wenn sie alle von der Arbeit in die Baracken zurückkehren. Ein kurzer Blick auf sie, bevor die Türen zugeschlagen werden, macht das Grau in Grau ringsum erträglich.

      Auch heute morgen marschiert 41-571512 in der Schlange zur Arbeit. Er schaut nach vorn, schlurft mit den Füßen, stumm, wankend, schleppend wie der Nebel über dem Fluss Sava, der sich durch die IGZ wälzt. Und er wirft verstohlene Blicke, die dem Wachmann nicht auffallen, durch den Zaun und sucht nach ihr.

      Und er findet sie, eine in einer langen Schlange von Toten: gebeugt, gebrochen, den Blick starr zu Boden gerichtet. 41-571512 fragt sich wieso, was passiert ist, warum sie sich so verändert hat. Gestern sah sie noch nicht wie eine Tote aus. Sie ging aufrecht und hatte ein Funkeln in den Augen... Was ist mit ihr passiert?

      Dann erreichen die Frauen die Tore des Kantinengebäudes und gehen an ihrem Aufseher vorher. Sie ziehen sich vor seinem gierigen Blick in sich selbst zurück, bevor seine Faust den Stacheldrahtknüppel packt. Die Frau geht an dem Aufseher vorbei. Er macht eine Bemerkung und grinst. 41-571512 kann nicht hören, was er ihr gesagt hat, aber sie erstarrt plötzlich und hebt den Kopf. Wut lässt ihren Körper erzittern, und ihre braunen Augen sind voller Hass. Sie spuckt dem Aufseher ins Gesicht, eingekreist von den entsetzten Blicken der anderen Frauen ringsum.

      Das Gesicht des Aufsehers verzerrt sich zu einer animalischen Grimasse. Er brüllt auf, hebt die Hand und schwingt den Knüppel. Der Stacheldraht trifft das Mädchen quer über das Gesicht, bricht ihr die Nase ab, reißt eine Wange auf, zerschneidet ihre Lippen und sticht ein Auge aus. Andere Frauen kreischen und laufen durcheinander, während der Aufseher flucht und schreit, mit seinem Knüppel zuschlägt und mit jedem neuen Schlag totes Fleisch aus dem Leib des Mädchens reißt. Sie schreit vor Schmerzen, wimmert und heult,