Welche Farbe hat der Wind. Aleksandar Žiljak

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Название Welche Farbe hat der Wind
Автор произведения Aleksandar Žiljak
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783957771100



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auf den Algen lagen. Ganz vorsichtig, um sie nicht zu wecken, zog sie Marinas Hand von ihren Brüsten und eine Locke ihres blonden Haars von ihrem Hals, dann stand sie zitternd auf, kaum imstande, auf ihren Beinen zu stehen. Sie hatte Hunger. Das kann warten, beschloss sie und trat an die Sichtluke. Die beiden Argosies hatten immer noch ihre Arme verschlungen. Tausende transparenter Kugeln, so groß wie Taganes geballte Faust, trieben im Meer. Eier, befruchtete Eier. Befruchtet in einer Nacht der Instinkte und Leidenschaften und süßer Hingabe von Mensch und Tier, in einem Ozean, der sie alle nährte, der ihr Zuhause war - einem Ozean des Lebens.

      Tagane wusste nicht, wie lang sie durch die Sichtluke starrte. Plötzlich spürte sie einen warmen Atem in ihrem Rücken. Die unrasierte Wange lehnte sich an ihr Gesicht. Tagane hob eine Hand und fuhr mit den Fingern durch Svens Haar. Sven ließ seine Hand auf ihren Bauch sinken und streichelte ihn sanft und fürsorglich. Der Drang war befriedigt, alles war gemäß den Traditionen und Sitten der Argosies und Seeleute getan worden. »Woran denkst du?«, flüsterte Sven und küsste ihren Hals.

      Die Leiber auf den Matratzen rührten sich. Mina murmelte etwas im Schlaf. Slaven drückte sie an sich, und sie wurde wieder ruhig. Conrad schlummerte neben Roberta, Tilda und Marina. Alle vier schliefen fest, und Tagane wusste, dass sie eine ganze Zeit nicht mehr aufwachen würden. Mit ihrer Hand bedeckte sie Svens Hand auf ihrem Bauch. Vielleicht hatte in der letzten Nacht ein neues Leben begonnen, wer wusste das schon? Wenn sie Glück hatten, mochten sie alle mit Kindern gesegnet sein.

      Tagane sah durch die Sichtluke zwei neue kleine Argosies, gerade erst gezeugt, in die Tiefe sinken, wo sie schlüpfen und wachsen und reifen und - wenn sie das Glück hatten, unzähligen, mit scharfen Zähnen gespickten Kiefern zu entkommen - eines Tages groß und mächtig an die Meeresoberfläche zurückkehren würden. Als ausgewachsene Argosies.

      Und Argosies brauchten immer Kapitäne und Seeleute.

      Deutsch von Michael K. Iwoleit

      Fußspuren am Strand

      Zähne. Scharf, nach hinten gebogen und gezackt, um besser Fleisch zerreißen zu können. Zähne, die sich durch eine friedliche Herde Iguanodons beißen, die im frühen Morgenlicht grasen.

      Die Meute brüllender Megalosaurier - graue, mit grünen Tarnflecken gesprenkelte Raubtiere - jagte über die Waldlichtung und stürzte die Iguanodons in blinde Panik.

      Inmitten der schrecklichen Schreie war Sie, auf die Hinterbeine aufgerichtet, während sie durch die aufgeschreckte Herde lief, sich nur der Zähne eines Megalosauriers bewusst, der den Abstand immer mehr verringerte, der schneller war als Sie, dessen speicheltriefende Kiefer nur darauf warteten, sich in Sie zu verbeißen. Instinktiv - es blieb keine Zeit zum Denken - schwang sie Ihren kraftvollen Schwanz und holte aus. Der Megalosaurier wich geschickt dem tödlichen Schlag aus, der ihn beinahe am Kopf erwischte, kam dabei aber aus dem Tritt. Seine Kiefer schnappten ins Leere. Aber der Räuber gab nicht auf.

      Nichts als diese Kiefer im Kopf, tauchte Sie geräuschvoll zwischen die hohen Palmfarne, Gingkos und Magnolien in der Hoffnung, die blutrünstige Bestie abzuschütteln, wenn sie durch das Dickicht abgebremst wurde und Ihr einer Chance zur Flucht gab. Sie sprang über einen umgestürzten, moosbedeckten Baumstamm. Ihr wuchtiger Körper preschte durch Sprösslinge, ihre schweren Füße zertrampelten Schachtelhalme und Farne unter ihr. Aufgeschreckte Insekten stoben nach rechts und links davon. Etwas Winziges, Haariges flitzte ins Dickicht und rettete sich im letzten Moment davor, zertreten zu werden.

      Sie hörte einen Schrei hinter sich - das Geräusch tiefer Wunden und eines nahen Todes. Ein schwerer Körper brach mit einem dumpfen Laut in sich zusammen. Sein steifer Schwanz trommelte hilflos auf den Boden. Für einen Moment sah sie Vorderbeine durch die Luft zucken, als das unglückliche Geschöpf versuchte, seinen Angreifer mit spitzen Daumenstacheln zu erdolchen. Die Laute des Tötungsaktes wurden leiser, während Sie weiter lief. Hungrige Raubtiere knurrten und fauchten, während sie sich um die besten Stücke Fleisch balgten, die einem noch lebenden Iguanodon aus dem Leib gerissen wurden. Heißes Blut schoss hervor und färbte die Welt rot.

      Angetrieben von Panik, von den Schreien eines gnadenlosen Gemetzels, die in Ihrem Kopf widerhallten, hatte Sie gar nicht bemerkt, dass Ihr Verfolger Ihr gar nicht mehr nachjagte - dass er umgekehrt war, um sich seinen Anteil an dem Gemetzel zu sichern. Als Sie längst in Sicherheit war, hetzte sie immer noch kopflos durch den Wald, bis schließlich eine Spur Vernunft Ihren Schrecken überwog und Ihr sagte, dass es vorbei war. Erschöpft und außer Atem hielt sie inne und lauschte dem Pochen ihres Herzens in ihren Ohren.

      Ringsum flüsterte der uralte Wald: das leise Schnattern kleiner gefiederter Dinosaurier, die sich unter Farnen versteckten, mit Krallenfüßen durch trockene Blätter scharrten, auf der Suche nach etwas, das klein genug war, um es packen und verschlingen zu können; die Pfiffe von Pterosauriern, die über ihr Libellen jagten, mit grauen, ledrigen Flügeln schlugen, während sie geschickt hohe Bäume umkurvten. Dies waren alles vertraute Geräusche, die Sie jeden Tag hörte.

      Erleichtert kam sie zu dem Schluss, dass die Gefahr gebannt war, Sie den Räuber abgeschüttelt hatte.

      Aber wo befand Sie sich nun? Sie schaute sich um.

      Die hohen Sequoien - dicke Säulen mit rötlicher Rinde - kamen Ihr nicht bekannt vor. Nach einer kurzen Erkundung wurde Ihr klar, dass Sie diesen Teil des Waldes noch nie gesehen hatte. Sie hob den Kopf, holte tief Luft und stieß einen langen, traurigen, durchdringenden Ruf aus. Dann horchte Sie. Jedes lebende Wesen im Wald ringsum verstummte, aus dem täglichen Einerlei geschreckt durch diesen fremdartigen, lauten Ruf. Sie rief erneut und lauschte. Stille. Sie rief ein drittes Mal - aber es kam keine Antwort. Das konnte nur eines bedeuten: Sie hatte sich so weit von der Herde entfernt, dass die anderen Sie nicht mehr hörten. Und das erfüllte Sie mit Unbehagen, Angst, Beunruhigung. Den ganzen Tag rief und horchte Sie, rief und horchte, rief und horchte. Schließlich rief Sie nur noch und wurde mit jedem unbeantworteten Ruf ein Stück verzweifelter. Zum ersten Mal in ihrem Leben war Sie von der Geborgenheit der Herde getrennt.

      Zum ersten Mal in Ihrem Leben war Sie allein.

      *

      Vesna sitzt auf der Bank unter den Kiefern. Über dem Meer lodert der Sonnenuntergang und setzt den Himmel in Flammen. Hinter ihr, in einem Lorbeerbusch, warnt ein kleiner Dinosaurier mit wachsamen Augen, dass eine Katze umher schleicht. Der Dinosaurier hat Flügel, schwarze Federn und einen gelben Schnabel. Neben Vesna, auf Blättern in ihrer Mappe skizziert, ruhen einige andere Dinosaurier: ferne Verwandte der Schwarzdrossel mit den wachsamen Augen, der tschilpenden Spatzen, der Blaumeise über ihr und der Möwen, die vom Meer zurückkehren.

      Eine blonde Haarlocke fällt Vesna über die Augen. Sie wischt sie ärgerlich weg. Und dann entladen sich die aufgestauten Gefühle dieses Tages wie Magma von irgendwo tief in ihrem Innern, und ihre wasserblauen Augen füllen sich mit Tränen. Vesna bedeckt ihr Gesicht mit den Händen, und ein Schluchzen erschüttert sie. Der Knoten in ihrem Bauch, der sich seit heute früh zusammengeballt hat, droht zu platzen. An der Grabungsstätte ist es ihr irgendwie gelungen, sich zusammenzureißen, ihre Tränen vor den Kollegen zu verbergen, Fragen und mitleidigen Blicken auszuweichen. Jetzt aber ...

      Das Schluchzen bringt Erleichterung, und nach einigen Minuten beruhigt sie sich, schnieft, wischt die Tränen von den Wangen und fühlt sich etwas besser. Taschentücher. Sie greift nach einer Packung Papiertaschentücher in ihrer Tasche.

      Plötzlich wird sie einer Hand gewahr, die ein ordentlich zusammengefaltetes, völlig sauberes Taschentuch hält.

      Die junge Frau hebt ihren tränenfeuchten Blick. Ein Herr, den sie auf über sechzig schätzt, steht vor ihr, das graue Haar mit einem Mittelscheitel, der Schnurrbart sauber gestutzt. Er trägt einen tadellosen, sandfarbenen Anzug, passend für den frühen Herbst, einen Schal um den Hals und einen Spazierstock in der anderen Hand.

      »Danke.« Vesna nimmt das Taschentuch, wischt ihre Tränen weg und schnäuzt sich die Nase. Sie gibt das Taschentuch mit einem verlegenen Lächeln zurück, als täte es ihr leid, dass sie sich zum Narren gemacht hat. Sie fragt sich, wie lang er hier gestanden hat. »Ich fürchte ...«

      »Das