Oberhausen: Eine Stadtgeschichte im Ruhrgebiet Bd. 4. Группа авторов

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Название Oberhausen: Eine Stadtgeschichte im Ruhrgebiet Bd. 4
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Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783874683203



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Fehlentscheidungen, Querschießen in einer Form, wie man es kaum je erlebt“ habe, vorgeworfen. Als Beispiele wurden die Entscheidungen über die Elly-Heuss-Knapp-Stiftung und über die Kurzfilmtage angeführt. Die SPD-Funktionäre brachten jetzt auch das nicht zu widerlegende Argument ins Spiel, dass Luise Albertz eine Direktwahl des Oberbürgermeisters durch das Volk zweifellos gewinnen würde. Unterbezirksvorsitzender Willi Haumann dazu: „Es bleibt dabei, Oberbürgermeister wird ‚die Alte’.“69

      Am 8. April 1963 setzte sich „die Alte“ tatsächlich mit 25 zu 22 Stimmen durch. Ein Stadtverordneter aus den Reihen der CDU oder der FDP musste für sie gestimmt haben. Die CDU quittierte das Ergebnis mit dem Auszug aus der Ratssitzung.70 Die Oberhausener Öffentlichkeit verfolgte das Spektakel im Rathaus ziemlich erschrocken. Man fühlte sich an die unmittelbare Nachkriegszeit erinnert, „in der der Bürger oft fassungslos die Brandungswellen parteipolitischer Hemmungslosigkeit und oft auch der Exzesse über sich ergehen ließ“. Gleichzeitig wurde eine Änderung der Gemeindeordnung angemahnt: Die Legislaturperiode des Rates und die Amtszeit des Oberbürgermeisters müsse synchron laufen. Und um Losentscheide auszuschließen, müsste im Stadtparlament immer eine ungerade Zahl von Volksvertretern sitzen.71

      Der Kommunalwahlkampf im Herbst 1964 wurde überlagert von einem Streit über einen törichten Kommentar des damaligen Bundesinnenministers Höcherl (CSU) zu den Westdeutschen Kurzfilmtagen. Höcherl hatte im Frühjahr gesagt, dass er nicht auf das „rote Festival“ in Oberhausen gehe, da sich dort die „sowjetzonale Prominenz der Filmfunktionäre ein Stelldichein“ gebe. Es entspann sich ein langer Briefwechsel zwischen Luise Albertz, die Höcherls unqualifizierte Attacke natürlich zurückwies, und dem Minister. Im September war Höcherls rhetorischer Fehlgriff über das „rote Festival“ Thema einer kleinen Anfrage im Rat der Stadt. Der Bundesinnenminister aus Bayern meinte es ernst: Im Februar 1965 lehnte er den beantragten Zuschuss von 40.000 DM ab. Noch im Vorfeld der nächsten Kurzfilmtage im Frühjahr 1965 wurde heftig über die Höcherl-Äußerungen gestritten.72

      Am 27. September 1964 wurden bereits nach der geänderten Gemeindeordnung 49 Stadtverordnete in den neuen Rat gewählt, unter ihnen insgesamt sechs Frauen: Für die SPD Luise Albertz, Elfriede Pusch, Elly Kuchenbecker und Waltraud Richter, für die CDU Barbara Diestelkamp und die spätere Landtagsabgeordnete Hildegard Matthäus.73 Die Mehrheitsverhältnisse waren jetzt ganz klar: Die SPD erhielt mit 54,8 Prozent der Stimmen 28 Sitze, die CDU mit 40,9 Prozent 21 Sitze. Die FDP konnte mit 4,2 Prozent die Fünf-Prozent-Hürde nicht nehmen. Der Hausfrieden im Ratssaal war wieder hergestellt: In trauter Gemeinsamkeit wählten die beiden einzigen Fraktionen im Rat Luise Albertz wieder zu Oberbürgermeisterin und Franz Sörries von der CDU zum Bürgermeister.74

      Nachdem der neue Haushalt im Januar 1964 ähnlich kontrovers diskutiert worden war wie im Vorjahr, beruhigten sich die Gemüter nach der Kommunalwahl auch bei der Diskussion um die vertrackten Geldfragen. Allen Stadtverordneten steckte wahrscheinlich noch die böse Schelte der IHK Essen in den Knochen: Obwohl mehrere Großprojekte schon gestrichen worden waren – so die Erweiterung der Feuerwache und der neue Rathausflügel – stand nach Darstellung der Industrie- und Handelskammer die Stadt Oberhausen in der Verschuldungsrangliste unter den 38 Städten und Kreisen Nordrhein-Westfalens an vierter Stelle. Eine Pro-Kopf-Verschuldung von 750 DM sei entschieden zuviel. Etwas kleinlaut erbat sich der Oberstadtdirektor bei der Etatdebatte wenigstens einen anderen Ton.75 Die CDU machte sich dagegen die Vorwürfe der IHK zu eigen und lehnte den Etat wie schon ein Jahr zuvor ab.76 Als der übernächste Haushaltsplan im November 1965 in den Rat eingebracht wurde, war unstrittig, dass es Großinvestitionen vorerst nicht mehr geben würde. Der tiefere Grund dafür war, dass die Einwohnerzahl bei 260.000 stagnierte, große Bau-Investitionen, selbst im Schulbereich, daher nicht mehr vertretbar schienen.77

      Bei den Bundestagswahlen im September 1965 marschierte der „Genosse Trend“ stramm weiter zugunsten der SPD. Zum ersten Mal gewann Luise Albertz das Direktmandat in Oberhausen, und zwar gleich mit der absoluten Mehrheit von 52,6 Prozent. Die CDU landete bei 42,3 Prozent, alle anderen Parteien blieben in Oberhausen unter fünf Prozent. Willy Brandts persönliche Unterstützung für die Oberbürgermeisterin hatte sich also ausgezahlt. Dagegen kam auch ein solches Schwergewicht wie Franz Josef Strauß trotz seines furiosen Auftritts in der Oberhausener Stadthalle nicht an.78 Noch deutlicher wurde das Übergewicht der SPD bei der Landtagswahl im Juli 1966: Mit 58,4 Prozent der Stimmen mauserte sich Oberhausen zu einer echten SPD-Hochburg. Dr. Heinz Nerlich und Wilhelm Meinicke erhielten die Direktmandate. Die CDU landete abgeschlagen bei 36,8 Prozent.79

       Die 1960er Jahre: Bevölkerung, Wirtschaft, Infrastruktur

      Am Ende des ersten Nachkriegsjahrzehnts wurde allenthalben Bilanz gezogen. Das Statistische Amt der Stadt Oberhausen kam nach einer Sonderauszählung vom Sommer 1959 zu überraschenden Ergebnissen: Durch wachsende Geburtenzahlen seit Kriegsende verjüngte sich die Bevölkerung der Stadt sehr rasch. In der graphischen Darstellung ergab sich daraus eine Bevölkerungspyramide mit immer breiterer Basis – beneidenswert aus heutiger Sicht, da die Bevölkerungs-„zwiebel“ unten immer schmaler und oben bei den Senioren immer breiter wird. Niemanden hat es überrascht, dass bei der Kriegsgeneration – und dazu gehörten in Deutschland alle vor 1930 Geborenen – die Männer in der Minderheit waren. Umso erstaunlicher war aber der Männerüberschuss in den Jahrgängen danach. Der Grund wurde klar benannt: Oberhausen bot viele Arbeitsplätze für Männer an, und als Folge dessen waren seit Mitte der 1950er Jahre viele junge, unverheirateter Männer aus dem Ausland nach Oberhausen gekommen.80 Vor allem im Bergbau hatten sie Arbeit gefunden. Der aber steckte seit 1958 in einer Absatzkrise.

      Ging es zunächst nur ab und zu um Feierschichten, so war ab 1960 immer öfter von Stilllegungen ganzer Zechen die Rede. Noch hieß es, dass die Arbeitsplätze nicht verschwinden, sondern nur auf andere Zechen verlagert würden. Aber auf den städtischen Ämtern wurde zum ersten Mal ein Rückgang der in Oberhausen gemeldeten Ausländer registriert: Von 5.264 im Jahr 1959 auf 4.419 ein Jahr später.81 Während es im Bergbau für alle unübersehbar schon seit zwei Jahren kriselte, brummte 1960 die Produktion in der Stahlindustrie wieder. Wegen des Stahlarbeiterstreiks in den USA, vor allem aber wegen der anhaltend guten Baukonjunktur in Deutschland verzeichnete die HOAG im Geschäftsjahr 1959/​60 einen Produktionsrekord nach dem anderen.82

      1961 war schon wieder von einer „Ausländerinvasion“ die Rede. Das Statistische Amt zählte im März bereits 6.752 Ausländer, pro Jahr kamen in den frühen 1960er Jahren rund tausend weitere hinzu. Die meisten waren Italiener, gefolgt von Niederländern, Spaniern, Österreichern, Polen, Griechen und Jugoslawen. Noch hießen die Einwanderer „Fremdarbeiter“. Und auch wenn betont wurde, dass die meisten sich gut „anpassten“, so wurde die Oberhausener Öffentlichkeit doch auch ausführlich über die Ausnahmefälle informiert: „Heißblütigen Südländern, denen das Messer allzu locker in der Tasche sitzt, die der Oberhausener Weiblichkeit allzu temperamentvoll ihre Verehrung zeigen oder dazu gar – wie es leider in Ausnahmefällen vorgekommen ist – zu sehr massiven, um nicht zu sagen kriminellen Mitteln greifen“, konnten abgeschoben werden. 65 derartige Fälle wurden bis zum Sommer 1961 registriert.83 Die Anwerbung ging in der Hochkonjunktur Anfang der 1960er Jahre überwiegend noch von der traditionellen Schwerindustrie aus. Auf den fünf Zechen in Oberhausen gab es Ende der 1950er Jahre noch 20.000 Arbeitsplätze.84 Seitdem Oberhausen 1963 die Höchstmarke mit 260.220 Einwohnern erreicht hatte, wuchs die Stadt nicht mehr weiter. Nur etwas mehr als die Hälfte (53 Prozent) der Oberhausener war in Oberhausen geboren. Hintergrund dessen waren die Flüchtlingsströme am Ende des Zweiten Weltkrieges und danach.85 47 Prozent der Oberhausener hatten also einen „Migrationshintergrund“, noch bevor der Zustrom der „Gastarbeiter“ in den 1960er Jahren richtig einsetzte!

       Hochhäuser und Schnellstraßen

      Von hohem Symbolwert war es, als Anfang 1959 das letzte Flüchtlingslager der Stadt geräumt wurde: Das Lager Zementwerk an der Osterfelder Straße auf dem heutigen Marina-Gelände, das im Krieg schon zur Unterbringung von Zwangsarbeitern gedient hatte.86 Als Folge des stürmischen Wohnungsbaus wurde es Ende des Jahres 1959 immer schwerer, im Stadtbild noch Kriegsruinen zu finden. Trotz der vielen aus dem Osten zugezogenen Flüchtlinge und trotz des rasanten