Oberhausen: Eine Stadtgeschichte im Ruhrgebiet Bd. 4. Группа авторов

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Название Oberhausen: Eine Stadtgeschichte im Ruhrgebiet Bd. 4
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Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783874683203



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Sterkrade AG“. Die alte Eigentümerfamilie Haniel besaß zwar in den Nachfolgegesellschaften weiterhin die Aktienmehrheit, ihre Stimmrechte unterlagen jedoch Beschränkungen. 1959 übernahm die im Nachkriegsboom höchst erfolgreiche HOAG die schon kriselnden Zechen der Bergbau-AG „Neue Hoffnung“. Diese Fusion war aber nicht die Rückverflechtung des „vertikal“, von der Rohstoffgewinnung bis zum fertigen Produkt durchorganisierten Konzerns, wie er Hermann Reusch vorschwebte. Nachdem alle Bemühungen um eine „Wiedervereinigung“ des Vorkriegskonzerns endgültig gescheitert waren, richtete sich der ganze Zorn von Hermann Reusch auf die Montanmitbestimmung. Als er sie im Januar 1955 bei der Hauptversammlung in Nürnberg als „das Ergebnis einer brutalen Erpressung durch die Gewerkschaften“ bezeichnete, folgten 800.000 Metallarbeiter und Bergleute im Revier aus Protest gegen diese verbale Entgleisung dem Aufruf zu einem eintägigen Warnstreik.34 Im verschneiten Oberhausen traten am 14. Januar 12.000 HOAG-Mitarbeiter, einen Tag später 16.000 Bergleute der „Neuen-Hoffnung“-Zechen in den Streik.35 Diese selbstbewusste Machtdemonstration der Gewerkschaften zeigte besser als alles andere, dass der GHH-Chef in der Mitte der 1950er Jahre längst nicht mehr der unumschränkte Herrscher „der Großindustrie“ in Oberhausen war – wie vor dem Krieg zu Zeiten seines Vaters Paul Reusch.

      Das gewachsene Selbstbewusstsein der Gewerkschaften war ohne Vollbeschäftigung in einer fast schon überhitzten Konjunktur nicht denkbar. Im Sommer 1955 waren in Oberhausen „nur noch 447 Männer ohne Arbeit“.36 Bei den Frauen waren noch 1.232 arbeitslos gemeldet, aber diese Zahl schaffte es nicht in die Schlagzeilen. Besonders spürbar war der Arbeitskräftemangel im Bergbau: „Aber woher weitere 1500 Bergleute nehmen?“ titelte der „Generalanzeiger“ Ende Juli.37 Die Bergbau-AG „Neue Hoffnung“ schüttete in diesem Sommer vier Prozent Dividende aus. Im Herbst wurde auch die Zeche „Franz Haniel“ als „Oberhausens nördlichste Industriebastion“ vereinnahmt. Zwar auf Bottroper Gebiet gelegen, sei diese Zeche „in allem doch unzweifelhaft unserer Stadt zugehörig“. Seit drei Jahren sei das Zechengelände eine riesige Baustelle. Vor allem ein modernes Kraftwerk wurde 1954 fertiggestellt. „Die Haniel-Schächte werden, auf allerdings weitere Sicht beurteilt, in die erste Reihe der Oberhausener Großbetriebe gehören.“38 Mit dieser Prognose lag der Journalist gewaltig daneben, aber 1955/​56, auf der Welle des historisch letzten Steinkohlebooms reitend, vernebelte ein grenzenloser Optimismus vielen den Blick. Die Concordia AG warb im Januar 1956 junge Bergleute mit besonderen Schichtprämien an.39 Gegenüber Ausländern war aber selbst der DGB anfangs noch misstrauisch: Man befürchtete, dass Kommunisten, z. B. aus Italien, in die Betriebe eingeschleust werden könnten.40 Ab Sommer 1956 wurden für den Ruhrbergbau Tausende von Italienern angeworben.41 Ein Jahr später wurden sogar 500 Japaner für den Bergbau ins Ruhrgebiet geholt.42 Modernisierung und Rationalisierung im Bergbau fanden ihren sinnfälligsten Ausdruck, als „Bubi“, Oberhausens letztes Grubenpferd, auf der Zeche Alstaden in Rente ging. Seit 1943 malochte der braune Wallach auf der Zeche Alstaden und legte dabei unter Tage angeblich eine Strecke zurück, die dem doppelten Erdumfang entsprach – so jedenfalls stand es in der Zeitung.43 Ein halbes Jahr später, an Pfingsten 1958, zwang der Absatzmangel die Oberhausener Zechen, die ersten Feierschichten einzulegen, erst bei Concordia, wo 13 Tagesförderungen auf Halde lagen, dann auch auf den Zechen der „Neuen Hoffnung“ und auf Alstaden.44 Erstmals wurde die Konkurrenz des Erdöls als preiswertem Brennstoff spürbar. Es würde nie mehr so sein wie früher. Dass dies der Anfang vom Ende des deutschen Steinkohlenbergbaus war, machte sich allerdings noch niemand klar.

      Ein gewaltiger Boom, gerade auch in der „alten“ Schwerindustrie, Vollbeschäftigung, Mitbestimmung in den Aufsichtsräten der großen Konzerne und Massenstreiks zur Verteidigung dieser Errungenschaften gehörten jetzt ganz selbstverständlich zur Arbeitswelt der Industriestadt Oberhausen. Das war eine neue Erfahrung für die meisten Flüchtlinge, die nach 1945 in Oberhausen gelandet waren, aber auch für die Heimkehrer aus der Gefangenschaft, die überwiegend in den 1920er Jahren ja noch Kinder gewesen waren. Gleichzeitig blieben die menschlichen Kriegsfolgen noch lange präsent, auch als der beginnende Wirtschaftsaufschwung sie langsam aus dem Bewusstsein verdrängte.

       Wachablösung im Oberhausener Rathaus

      Bei den Wahlen am 28. Oktober 1956 ging es aus Sicht der SPD um nicht weniger als die „Wachablösung im Oberhausener Rathaus“. Kein Geringerer als der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Fritz Steinhoff, eröffnete den Kommunalwahlkampf beim Unterbezirksparteitag der SPD im Kaiserhof in Sterkrade. Die Kommunalpolitik spielte in seiner Rede aber nur eine Nebenrolle, stattdessen attackierte er Bundeskanzler Adenauer, der seiner Meinung nach viel mehr für die deutsche Wiedervereinigung hätte tun müssen.45 Aus diesen Attacken spricht auch ein Stück Ratlosigkeit über die Welle der Popularität, auf der Adenauer schwamm. Bei den Bundestagswahlen 1957 und 1961 holte Martin Heix jeweils vor Luise Albertz, die nur über die Liste in den Bundestag kam, das Direktmandat für die CDU. 1957, als Adenauer mit der CDU die absolute Mehrheit im Bundestag errang, betrug der Stimmenanteil der CDU in Oberhausen 54,6 Prozent gegenüber den mageren 36,1 Prozent der SPD! Vier Jahre später war der Vorsprung der CDU auf zwei Prozent geschrumpft. Auch bei der Landtagswahl 1958 gewann die CDU beide Direktmandate für Oberhausen. 1962 war aber der Umschwung vollzogen: Beide Landtagsdirektmandate fielen jetzt an die SPD.46 In der Kommunalpolitik aber dominierten ab Mitte der 1950er Jahre die Sozialdemokraten.

      Die SPD „eroberte“ am 28. Oktober 1956 tatsächlich das Rathaus. Die Zeitgenossen konnten damals nicht wissen, dass die Sozialdemokraten die Mehrheit im Rat bis ins einundzwanzigste Jahrhundert verteidigen und ununterbrochen den Oberbürgermeister stellen würden. Dass mit der Niederlage des Zentrums, vor dem Krieg jahrzehntelang die bestimmende Kraft im Oberhausener Rathaus, eine Ära zu Ende ging, war ihnen schon bewusst.

       Tabelle 3: Ergebnis der Kommunalwahl in Oberhausen vom 28. Oktober 1956 47

      Der „Generalanzeiger“ merkte zu Recht an, dass der SPD vermutlich die 5.000 Stimmen der verbotenen KPD zugute kamen. Das erklärt aber nicht den Zugewinn von mehr als 20.000 Stimmen; von den ehemaligen Zentrumswählern müssen viele nicht zur CDU, sondern ins Lager der SPD übergewechselt sein. Neben lokalpolitischen Themen wirkte sich für das Wahlergebnis sicher auch die Bundespolitik, vor allem der leidenschaftliche Kampf um die Wiederaufrüstung, aus. Auf der Liste der Stadtverordneten standen, neben der überragenden Gestalt der Nachkriegsjahre, Luise Albertz, die Namen Willi Haumann, Wilhelm Meinicke, Josef Kornelius und Elfriede Pusch für die SPD, Martin Heix für die CDU und Hugo Baum für das Zentrum.48

      Bei der konstituierenden Sitzung des Rates am 12. November 1956 nominierte die SPD erwartungsgemäß Luise Albertz für das Amt des Oberbürgermeisters bzw. der Oberbürgermeisterin, einer damals noch gänzlich ungebräuchlichen Bezeichnung. Die Presse ließ keinen Zweifel daran, dass sie aufgrund ihrer Lebenserfahrung und aufgrund ihrer Leistungen in der Lokalpolitik und im Bundestag hervorragend für dieses Amt geeignet war. Der „Generalanzeiger“ stellte in seinem wohlwollenden Porträt aber auch Fragen, die zeigen, wie ungewohnt es für die Mehrheit noch sein musste, eine Frau in diesem Amt zu sehen: „Man kann und darf wohl die Frage stellen, ob für eine Stadt wie Oberhausen ein weiblicher Oberbürgermeister eine vertretbare oder gar eine ideale Lösung ist. Unsere Stadt hat nüchterne, selbst harte Züge, entsprechend der Härte des täglichen Arbeits- und Berufslebens. Es wäre eigentlich logisch, sie durch einen Mann repräsentieren zu lassen, der um die Härte dieses Lebens aus eigener Erfahrung weiß. Bringt Luise Albertz Eigenschaften mit, die einen ausreichenden Ersatz dafür bieten könnten? Ihr Leben gibt eine Antwort darauf.“49

      Luise Albertz erhielt in geheimer Wahl 45 von insgesamt 46 Stimmen. Die einzige Stimmenthaltung kam vermutlich von ihr selbst. Wilhelm Jansen von der CDU wurde als ihr Stellvertreter mit 41 von 45 Stimmen zum Bürgermeister gewählt. Kontrovers war nur die Wahl eines zweiten Bürgermeisters. Josef Kornelius (SPD) konnte sich nur auf die 24 Stimmen seiner Partei stützen; die 17 Stimmenthaltungen kamen vermutlich von der CDU, vier der fünf Nein-Stimmen wohl vom Zentrum. In der Öffentlichkeit wurde aufmerksam registriert, dass die Stadtverordneten des Zentrums weder bei Wilhelm Jansen noch bei Josef Kornelius Beifall klatschten.50 Das Abrutschen in die Bedeutungslosigkeit