Oberhausen: Eine Stadtgeschichte im Ruhrgebiet Bd. 4. Группа авторов

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Название Oberhausen: Eine Stadtgeschichte im Ruhrgebiet Bd. 4
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Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783874683203



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gesichert sei. Ob das städtische Orchester, als es zum Schluss Les Préludes von Liszt intonierte, fünf Jahre nach Kriegsende einen so guten Griff getan hatte, sei dahingestellt – die Nazis hatten dieses Stück im Radio als „Siegesfanfare“ in ihrem Vernichtungskrieg gegen Russland missbraucht.112 Im Dezember 1959 berichtete die Concordia Bergbau AG noch von einer sehr guten Ertragslage – erkennbar an den üppigen Dividenden, die bis Ende 1958 ausgeschüttet worden waren. Den Vorwurf des „SPIEGEL“, die Concordia sei eine „Hungerzeche“, wies der Konzern vehement zurück.113

      Zwei Jahre später klang der Optimismus schon sehr gedämpft. Anfang der 1960er Jahre tauchte der Begriff des „Strukturwandels“ in den Spalten der Lokalpresse auf. Der Konkurrent Öl und die sozialen Belastungen des Bergbaus wurden als Hauptursachen der Krise ins Visier genommen. Zu Beginn der 1950er Jahre verdienten auf Concordia noch fast 5.000 Arbeiter und fast 500 Angestellte ihren Lebensunterhalt. Über 11.000 Familienangehörige waren von ihrem Lohn abhängig. Für den Stadtteil Lirich und darüber hinaus für die ganze Großstadt Oberhausen mit ihren 260.000 Einwohnern waren die Arbeitsplätze der Zeche Concordia deshalb lebenswichtig. Der Zuruf „Kein Grund zum Pessimismus“ klang aber schon 1962 fast wie das Pfeifen im Walde, mit dem sich der einsame Wanderer selbst Mut macht. „Trotz aller Schwierigkeiten“ lasse sich „aus der wechselvollen und manchmal sogar dramatischen Geschichte des Unternehmens die Hoffnung und auch die Zuversicht ableiten, dass sie [die Zeche] auch jetzt wieder bestehen wird.“114 Schon seit der zweiten Hälfte der 1950er Jahre war der Ruhrbergbau eigentlich nicht mehr aus den – negativen – Schlagzeilen herausgekommen. Dies war wohl auch ein Grund dafür, dass deutsche Arbeitskräfte für die schwere Arbeit unter Tage nur noch schwer zu finden waren.

      Der Geschäftsbericht für das Jahr 1964 verzeichnete insgesamt wachsende Haldenbestände, einen weiteren Rückgang der Zahl der Beschäftigten auf insgesamt 3.874, davon unter Tage 2.344, gleichzeitig aber die Neueinstellung von 174 Marokkanern und 174 Türken. Da gleichzeitig 80 Griechen und 35 Italiener ihre Verträge nicht verlängert hatten, kann diese Verschiebung in der Zusammensetzung der Untertage-Belegschaft durchaus als symptomatisch angesehen werden: Die erste Gastarbeiter-Generation rückte auf in weniger anstrengende Berufe, Türken und Nordafrikaner rückten unter Tage nach.115 Trotz der Absatzprobleme sprengte sich die Concordia auf Schacht 4 auf eine Tiefe von 950 Metern, 150 Meter tiefer als zuvor. In ihrem Abbaugebiet lagerte noch Kohle für 50 Jahre. Bis 2015 wollte man, so hieß es bei der Direktion, auf Schacht 4 noch Kohle fördern.116

      Keine zwei Jahre später nützte alle Zuversicht nichts mehr. Am 8. Mai 1967 beschloss der Vorstand der Concordia, dem Aufsichtsrat die Stilllegung der Zeche vorzuschlagen. An diesem Tag jagte eine Konferenz die andere: Die Bergwerksdirektoren Notthoff und Wegmann informierten sofort die Oberbürgermeisterin über ihren Beschluss; zwei Stunden später waren die Vertreter der IG Bergbau bei Luise Albertz. Der Vorstand begründete seinen Beschluss mit der Notwendigkeit, die Förderung der Absatzlage anpassen zu müssen. Die Kohle werde vom Öl verdrängt und die Bundesregierung tue nichts dagegen. Weitere Stilllegungen würden nicht zu vermeiden sein, „um dem Bergbau einen geordneten Rückzug zu ermöglichen“.117

      Die Reaktion in der Oberhausener Öffentlichkeit: „Unfassbar für alle: Trotz günstiger Flöze, trotz fast hundertprozentiger Automatisierung der Förderung, trotz gängiger Kohle, trotz enormer Leistung pro Mann und Schicht, trotz eines günstigen Hafens will der Vorstand der Concordia Bergbau AG die Stilllegung beantragen.“118 Der Protest war einmütig: Gewerkschaften, der Betriebsrat, die Fraktionen im Rat, die Katholische Arbeiterbewegung und viele andere kritisierten die Schließung „der bisher als kerngesund und besonders leistungsfähig angesehenen Zechen der Concordia Bergbau AG“.119 Der SPD-Fraktionsvorsitzende und Landtagsabgeordnete Willi Meinicke hielt die Energiepolitik der Bundesregierung, vor allem die Stilllegungsprämien „volkswirtschaftlich und finanzpolitisch [für] Wahnsinn“. Die „Eigentumsform“ im Bergbau müsse überprüft werden. Eine Wende in der Kohlepolitik sei unumgänglich.120 Die Empörung entzündete sich vor allem an der Tatsache, dass rein kaufmännisch-finanzielle Überlegungen sich gegen die Einwände der Techniker durchgesetzt hatten. Jetzt stand der „ganze Stadtteil Lirich plötzlich vor dem Ruin“.121 Wenn die 4.000 „Concordianer“ arbeitslos würden, so seien davon 16.000 Liricher betroffen. „Mit der Concordia stirbt ein ganzer Stadtteil“, hieß es zwei Tage später im Lokalteil der NRZ. Vor allem die Einzelhändler und die Gastwirte fürchteten um ihre Existenz, wenn 4.000 Bergleute ihren Arbeitsplatz verlieren sollten.122

      Bei einem Durchschnittsalter von fast 40 Jahren müsse man damit rechnen, dass viele der arbeitslosen Kumpel nirgendwo sonst mehr Arbeit finden würden. In einer ganz kleinen Notiz am Rande wurde auch bemerkt, dass auf Concordia 700 Gastarbeiter beschäftigt waren, von denen 200 in Oberhausen „ansässig“ geworden waren. Von den anderen 500 nahm man anscheinend an, dass sie nach der Entlassung irgendwie aus Oberhausen verschwinden würden. Die Concordia-Arbeiter waren per Aushang über die Pläne der Direktion unterrichtet worden. Vor dem Zechengelände „machten sie ihrem Herzen Luft“. Interviews auf dem Zechengelände verhinderte die Werkspolizei.123

      Die Oberbürgermeisterin fuhr sofort in die Staatskanzlei nach Düsseldorf und erreichte, dass Ministerpräsident Kühn gegen die Zechenschließung sein Veto einlegte. Hinter diesem „Veto“ verbarg sich die Verweigerung von Stilllegungsprämien durch das Land. Ob dadurch die Schließung der Zeche noch abzuwenden war, wusste jedoch keiner. Der Vorstand der Concordia Bergbau AG ließ sich von Kühns „Veto“ nicht beeindrucken. Das Unternehmen mache jeden Monat eine Million DM Verlust. Wenn die Concordia die Stilllegungsprämie nicht erhalten sollte, würde dies den Sozialplan für die Beschäftigten gefährden.124

      Der Rat der Stadt trat am Samstag, 20. Mai, kurz vor der entscheidenden Sitzung des Aufsichtsrats, zu einer Sondersitzung zusammen. Vor überfüllten Tribünen bekundeten beide Fraktionen, SPD und CDU, ihre Solidarität mit den Bergleuten und fassten einstimmig eine Resolution unter dem Motto „Regierung marsch!“: Die Stilllegung von Concordia treffe nicht nur den Stadtteil Lirich, sondern gefährde „die soziale, wirtschaftliche und kulturelle Weiterentwicklung“ der ganzen Stadt. „Weder in Oberhausen noch in den Nachbarstädten sind gegenwärtig Ersatzarbeitsplätze vorhanden.“ Überdies widerspreche die Stilllegung „wirtschaftlicher Vernunft“, denn die Concordia gehöre „nach ihrer Leistungsfähigkeit und technischen Ausstattung zur Spitzengruppe der europäischen Energiewirtschaft“. Zum Schluss appellierte der Rat der Stadt an den Aufsichtsrat, „die Entscheidung über die Stilllegung nicht nur von finanziellen, auf das Gewinnstreben gerichteten Überlegungen abhängig zu machen. Es geht um Menschen!“125 Luise Albertz schickte den Text dieser Resolution an alle, die Rang und Namen hatten in der deutschen Politik: An Bundeskanzler Kiesinger, Wirtschaftsminister Schiller, Finanzminister Strauß, Bundestagspräsident Gerstenmaier und an viele andere Adressaten im Bundestag, in den Ländern, beim Städtetag und beim Siedlungsverband Ruhr. In einem Begleitschreiben verlangte die Oberhausener Oberbürgermeisterin, die zeitliche Streckung der Zechenschließungen, um in der Zwischenzeit möglichst lohnintensive Betriebe ansiedeln zu können.126

       Abb. 12: „Concordia darf nicht sterben!“ Großdemonstration in der Innenstadt, 1967

      Im Kampf um die Concordia-Schächte schlüpfte Luise Albertz in die Rolle einer Sprecherin für das ganze Revier, nicht nur für Oberhausen. Einer der bekanntesten Fernsehjournalisten dieser Zeit, Werner Höfer, der Gastgeber des „Internationalen Frühschoppens“, wurde aufmerksam: Sein Interview mit Luise Albertz erschien in der ZEIT.127

      Der Wirbel, den der Concordia-Konflikt in der Öffentlichkeit erzeugt hatte, ließ den Aufsichtsrat zunächst zögern. Er fasste bei der Sitzung am 23. Mai noch keinen Beschluss, machte aber auch deutlich, dass er wegen des Rückgangs bei Absatz und Förderung und wegen der hohen Verluste keine Alternative zum Antrag des Vorstandes sah. Zunächst aber nahm der Aufsichtsrat die von Ministerpräsident Kühn ausgesprochene Einladung zu einem Gespräch an.128 Die Aktionäre verlangten bei der Hauptversammlung im Juni einmütig die Stilllegung der Zeche. Sie griffen Ministerpräsident Kühn wegen seines Vetos teilweise in sehr scharfer Form an.129 Mit dem Votum der Aktionäre im Rücken fällte der Aufsichtsrat Anfang