Die Geschichte der Zukunft. Erik Händeler

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Название Die Geschichte der Zukunft
Автор произведения Erik Händeler
Жанр Зарубежная деловая литература
Серия
Издательство Зарубежная деловая литература
Год выпуска 0
isbn 9783865064356



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den Erzgruben Oberschlesiens herrschen Mitte des 19. Jahrhunderts Zustände wie bei der mittelalterlichen Leibeigenschaft: Wer nicht spurt, wird davongejagt, und wenn die Arbeiter aufmucken, bringt das Militär die Bergarbeiter unter die Erde – so oder so. Schließlich kommen genug Arbeitshungrige aus dem Osten nach. Die Magnaten sehen ihren Reichtum als gottgegeben an und unternehmen nichts, um die Zukunft der Region abzusichern, wenn das Erz abgebaut ist – so wie heute manche Ölscheichs. Ihre Renommierschlösser bauen sie in Sichtweite der Arbeitersiedlungen, in denen Zehntausende zusammengepfercht am Existenzminimum dahinvegetieren, während die »Herrschaft« von goldenen Tellern speist.

      Trotz harter und fast ständiger Arbeit bleibt den einfachen Menschen zunächst wenig übrig: Unseren Vorfahren vor sechs Generationen werden nicht nur die Ressourcen für die aktuellen Investitionen in Eisenbahn und Infrastruktur (die wir heute noch nutzen) vom Munde abgespart, sondern auch noch die Mittel für die industrielle Aufholjagd des rückständigen Landes. Wir sollten Denkmäler für die errichten, die unter erzwungenem Konsumverzicht und um den Preis vieler Lebensjahre Gleisdämme geschaufelt und Brückenpfeiler vermörtelt haben.

      Denn auf dem Höhepunkt des zweiten Kondratieffs wird ein Berliner Maurer im Durchschnitt 45 Jahre alt, ein Fabrikarbeiter 43,5 und ein Weber nur 32 Jahre. Häufigste Todesursache ist Tuberkulose.34 90 Stunden pro Woche beträgt die durchschnittliche Arbeitszeit für Erwachsene zwischen der Revolution von 1848 und der Reichsgründung, Frauen und Kinder schuften unter Tage. Kinderarbeit wird dann aber (leider) nicht deswegen gemildert, weil sich jemand der Kinder erbarmt. Wer sich als Erster dagegen wirkungsvoll wehrt, ist die preußische Armee, die mit den ausgemergelten, krummen Achtzehnjährigen nichts anfangen kann. Der preußische Kriegsminister von Horn macht sich große Sorgen darüber, dass das »Rekrutenmaterial« von Jahr zu Jahr schlechter werde.

      Kein Wunder, liest man Briefe von Friedrich Engels, die er im März 1839 aus Wuppertal schreibt: »In Elberfeld allein werden von 2500 schulpflichtigen Kindern 1200 dem Unterricht entzogen und wachsen in den Fabriken auf, bloß damit der Fabrikherr nicht einem Erwachsenen, dessen Stelle sie vertreten, das Doppelte des Lohnes zu geben nötig hat, das er einem Kind gibt.« Selbst Kinder unter neun Jahren müssen bis zu 14 Stunden am Tag schwerstarbeiten. Ein amtlicher Bericht beschreibt die schweren Schäden an den minderjährigen Arbeitskräften: »Bleiche Gesichter, matte und entzündete Augen, geschwollene Leiber, aufgedunsene Backen, geschwollene Lippen und Nasenflügel, Drüsenschwellungen am Hals, böse Hautausschläge und asthmatische Zustände …, die sie in gesundheitlicher Beziehung von anderen Kindern derselben Volksklasse, welche nicht in Fabriken arbeiten, unterscheiden.« Auf Druck der Armee schreitet das »königlich preußische Fabrikregulativ« am 9. März 1839 dagegen ein: Kinder unter neun Jahren dürfen nicht mehr in Fabriken beschäftigt werden, Jugendliche bis 16 Jahre nicht mehr als zehn Stunden. Mit den Dorfstrukturen und den Familienbanden hat sich auch das Geschlechtsleben gelockert – von wegen, die 1970er Jahre wären die Zeit der sexuellen »Befreiung« gewesen.

      Je rücksichtsloser die Industriegesellschaft voranschreitet, umso größer wird vor allem die Not der Frauen, die aus den verarmten Bauernhöfen oder lohnabhängigen Großgütern in die Städte strömen. Während ledige Mütter in Preußen nach dem »Allgemeinen Landrecht« von 1794 vom Vater des Kindes Alimente verlangen konnten, befreit 1854 ein neues Gesetz die unehelichen Väter von allen finanziellen Verpflichtungen. Unter den 17- bis 45-jährigen Frauen in Berlin geht 1846 etwa jede achte der Prostitution nach35, die allesamt der ärmeren hilflosen Klasse angehören.

      Die unglücklichen Bürgertöchter, die seit ihrem 17. Lebensjahr zu Hause herumsitzen und darauf warten müssen, dass sie geheiratet werden, reagieren mit Prüderie bis Leibfeindlichkeit, auch um sich von der Unterschicht abzugrenzen. Das züchtig Zugeknöpfte, in Wirklichkeit ein Statussymbol des aufkommenden Bürgertums des 19. Jahrhunderts, übertrifft die bis dahin vorhandene religiös motivierte Vorsicht im Umgang mit Sexualität – man denke nur an die prallen Abbildungen in früheren Barockkirchen und daran, dass der eheliche Geschlechtsakt in der katholischen Kirche sogar mit einem Sakrament geheiligt ist.

      Zwischen der neuen Arbeiterschicht und den Kirchen herrscht anfangs Sprachlosigkeit. Die einen leben aus der Sicht der anderen in ziemlich viel Sünde, auf die anderen jedoch verwettet Anfang des 19. Jahrhunderts niemand mehr einen Pfennig, denn die Institution Kirche ist nach der Säkularisierung erst einmal kraftlos. Es dauert, bis zahlreiche Laien die Ärmel hochkrempeln und etwas auf die Beine stellen. Kein Wunder, dass in dieser Zeit so viele Klöster oder Diakonissen-Schwesternschaften gegründet werden – sie sind eine Reaktion auf die soziale und daher vor allem auch seelische Not. Sie sind Initiativen von unten, bedrängt von ihrem Bischof oder ihrer Landeskirchenleitung, sich doch bitte endlich Statuten zu geben und sich um die kirchenrechtlich formale Einordnung zu kümmern. Dass heute kein Mensch mehr die Namen der damaligen Bischöfe, dafür eine Reihe von Ordensgründerinnen und einfachen Priestern kennt, legt den Verdacht nahe, auch heute die entscheidenden Initiativen nicht nur von den Bischöfen zu erwarten.

      Es dauert auch im 19. Jahrhundert, bis eine Generation heranwächst, welche die neuen sozialen Verhältnisse und den Glauben zusammenführt. Adolf Kolping, 1813 in Kerpen bei Köln geboren, lernt als Schuhmachergeselle die Not der stellungslosen Handwerkergehilfen kennen, bevor er Priester wird. Er gründet jene Gesellenvereine, aus denen das bis heute lebendige Kolpingwerk der katholischen Kirche hervorgeht. Eine Ausnahme im Adel ist Freiherr Wilhelm Emanuel Ketteler: Als unvereinbar mit dem christlichen Glauben sieht er, Arbeiter ungerecht zu bezahlen und unzureichend zu versorgen. Bei der Beerdigung der bei den Volksaufständen 1848 ermordeten Abgeordneten General Hans Adolf von Auerswald und Fürst Felix von Lichnowsky trägt er in seiner Grabrede zum ersten Mal seine Gedanken zur christlichen Soziallehre vor. Zwei Jahre später wird er Bischof von Mainz und nimmt sich in diesem Amt der sozialen Frage an.

      Das proletarische Bewusstsein, das sozialistische Theoretiker propagieren, will aber nicht so richtig aufkommen – trotz der Not von Frauen, Kindern und dem harten Arbeitsleben, trotz der Ausbeutung. Vom obdachlosen Tagelöhner bis zum unermesslich reichen Industriemagnaten: Die Industrialisierung hat die Gesellschaft so stark diversifiziert, so viele neue Rangstufen geschaffen, dass nun jeder danach trachtet, wenigstens bis zur nächsthöheren Schicht aufzusteigen. Statt einfach als Bauer, Handwerker oder Adeliger zugeordnet werden zu können, hat sich das öffentliche Leben zu einem Kastenwesen entwickelt, in dem jeder die Möglichkeit bekommt, sich als ein höheres Wesen zu fühlen. Selbst der Tagelöhner erster Klasse kann noch auf den Tagelöhner zweiter Klasse herunterschauen. Das ist so wie heute in Südafrika, wo zwar jeder in eine Kirche geht, dafür aber gerade unter Schwarzen ganz genau registriert wird, wie schwarz, wie weiß, also in welchem Maße gemischt jemand ist – davon hängt dann das gesellschaftliche Prestige ab.

      Die deutschen Adeligen leiden zwar insgeheim darunter, dass sie von den sozialen Aufsteigern wie Krupp, Thyssen oder Borsig in der Regel an Geld, Wissen und Tüchtigkeit längst überholt worden sind. Aber sie finden einen genialen Trick, ihren höheren Rang mit formalisiertem Verhalten zu kitten: Geld und Tüchtigkeit reichen nicht – man muss die Etikette der vornehmen Verhaltensweisen beherrschen. »Vor der Raffinesse des höfischen Zeremoniells schrumpfen sie (die Neureichen) unversehens wieder aufs plumpe bürgerliche Normalmaß zusammen.«36 (Das wirkt noch heute überall dort weiter, wo die formale Höflichkeit wichtiger ist als die Höflichkeit des Herzens.)