Die Geschichte der Zukunft. Erik Händeler

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Название Die Geschichte der Zukunft
Автор произведения Erik Händeler
Жанр Зарубежная деловая литература
Серия
Издательство Зарубежная деловая литература
Год выпуска 0
isbn 9783865064356



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die Situation der Unterschicht

      Je länger dieser zweite Kondratieffaufschwung andauert, umso heißer läuft die Konjunktur. Abgesehen von schwierigeren Jahren 1857/​60 geht es mit der deutschen Wirtschaft ständig bergauf. Damit werden alle Produktionsfaktoren immer knapper, auch Arbeit. In jedem Verlauf eines langen Kondratieffaufschwungs verbessert sich die Verhandlungsposition der Arbeiter – je mehr die Geschäfte der Unternehmer florieren, umso wirksamer ist ein Streik. Besonders im Krieg ist die Konjunktur bis zum äußersten angespannt – die ersten größeren Streiks finden statt im Kriegsjahr 1864 (gegen Dänemark), angezettelt von örtlichen Arbeitern. Und die Fabrikanten geben nach – was sie dank der Kriegskonjunktur auch können. Die höchsten Lohnsteigerungen setzen die Arbeiter in den Boomjahren 1870/​73 durch. Da alle Branchen rotieren und täglich neue Aktiengesellschaften gegründet werden, wird der Faktor Arbeit knapp – trotz der Zuwanderung aus dem Osten. Einzelne Streiks, die auf Betriebe oder regionale Branchen beschränkt sind, erkämpfen in Einzelfällen 25 oder gar 35 Prozent mehr Lohn (ähnlich den 14 Prozent Lohnsteigerungen, welche die Gewerkschaften Anfang der 1970er Jahre durchsetzen).

      Das ist nun so gar nicht nach dem Drehbuch von Karl Marx, der sein Werk vor allem unter dem Eindruck des ersten Kondratieffabschwungs geschrieben hat. Der Kapitalismus bricht nie zusammen, weil die Profitraten der Unternehmer eben nicht immer nur fallen, sondern im nächsten langen Aufschwung wieder saftig steigen. Der Marxismus ist damit schon obsolet, als sich der zweite Kondratieff entfaltet. Statt Konfrontation setzen die ersten deutschen Gewerkschaften wie die Barmer und Elberfelder Türkisch Rotfärber-Gesellschaft 1848 im Kondratieffaufschwung eher auf Kooperation mit den Arbeitgebern. Pragmatische Führer wie Ferdinand Lassalle wollen reale politische Macht gewinnen: Die Arbeiter sollen sich als politische Partei organisieren, die das allgemeine und gleiche Wahlrecht anstrebt. Nachdem die tägliche Arbeitszeit von 14 Stunden in den 1840ern auf zwölf Stunden sinkt, bleibt neben dem Schlaf erstmals freie Zeit, die eigenen Interessen zu organisieren. 1863 gründet Lassalle den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein, der die Arbeiterbewegung sammelt. Nachdem er ein Jahr später bei einem Duell aus lächerlichem Anlass stirbt (seine Geliebte ist zu ihrem Ex-Verlobten zurückgekehrt), zerfällt der Arbeiterverein teilweise.

      Wilhelm Liebknecht und August Bebel gründen 1869 in Eisenach die Sozialdemokratische Arbeiterpartei, mit der Lassalles Anhänger 1875 unter dem Namen Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands zusammengehen. Nur leider sind jetzt mit den wirtschaftlich guten Zeiten auch die politisch guten Zeiten für die Arbeiterbewegung vorbei: In den Krisenjahren ist die Verhandlungsposition der Unternehmer stets besser (wie in jedem langen Abschwung). Dass es zum großen Gründerkrach mit anschließender lang andauernder Wirtschaftskrise kommt, ist jedoch keine Laune des Wetters oder der Finanzmärkte, sondern liegt daran, dass sich das technologische Netz des zweiten Kondratieffs allmählich erschöpft.

       Was wir 2001 und 2008 aus dem Gründerkrach von 1873 hätten lernen können

      Weil nicht der Staat, sondern die Privatwirtschaft den Eisenbahnzyklus vorantreibt, kommt das nötige Kapital aus der wohlhabenderen Mittelschicht: Wer Anteile kauft, verleiht sein Geld zu einem Zinssatz, den er nicht kennt, weil der davon abhängt, wie rentabel sich die Firma in Zukunft entwickeln wird. Schon in den 1860ern werden die Eisenbahn- oder Bankaktien für immer mehr Leute attraktiv. 1870/​71 fallen die Aktienkurse zunächst – durch einen externen Schock: Den deutsch-französischen Krieg. Doch dann bricht ein beispielloses Aktienfieber aus: Mittlere Familienunternehmen werden in Aktiengesellschaften umgewandelt. Ein Finanzkomitee kauft dem bisherigen Besitzer die Firma zu einem weit überhöhten Preis ab, zweigt sich in Form von Spesen, Provisionen und Gebühren eine ordentliche Summe ab und gibt dann so viele Aktien aus, dass das Grundkapital zwei bis dreimal so hoch ist wie der tatsächliche Wert des ganzen Betriebes.

      Gut aufgemachte Prospekte und sensationelle Zeitungsberichte treiben das zahlungsbereite Publikum zu. Sie erzeugen künstlich Knappheit, indem nur einige Banken die Aktien anbieten – und nur am ersten Tag noch zum Ausgabekurs von 100 Prozent. So suggerieren sie, nur der könne schnell reich werden, der sofort zugreift. Alle wollen möglichst viel verdienen und möglichst wenig dafür tun. Immer zahlreicher werden Finanzmakler, die in der Nachbarschaft Aktien anbieten. »Niemand machte sich mehr die Mühe, auf solide Art zu wirtschaften, alles musste möglichst schnell gehen und möglichst hohe Gewinne abwerfen«, schreibt der Journalist Günter Ogger in seinem Bestseller »Die Gründerjahre«.37

      Die preußische Regierung reagiert am 27. Juni 1870 mit dem neuen Aktiengesetz auf die wachsende Nachfrage und räumt wesentliche Hindernisse aus dem Weg: Jetzt ist keine staatliche Konzession mehr nötig, um eine AG zu gründen, sondern jeder darf so oft und so viel gründen, wie er will; Geschäftsleitungen sind keiner Kontrollbehörde mehr unterworfen. Sind in den fast drei Generationen zwischen 1790 und 1870 nur 300 Aktiengesellschaften zum Börsenhandel zugelassen worden, so kommen in den beiden (!) Jahren 1871/​72 über 780 neu hinzu – also im Schnitt eine am Tag.

      »Enrichez-vous!« (Bereichert Euch!) wird zum kategorischen Imperativ der Gründerjahre und ähnelt damit den Sprüchen dubioser Management- und Motivationstrainer der späten 1990er Jahre. Reichtum erklären die Fabrikanten zur gerechten Belohnung für ein gottgefälliges Leben. »Der Reiche ist reich von Gottes Gnaden, der Arme aus demselben Grund – das war die Weltanschauung der Sozialdarwinisten«, schreibt Ogger38.

      »Das Bürgertum kopierte damit im Grunde nur den Trick des Adels, der seinen Herrschaftsanspruch jahrhundertelang mit dem Gottesgnadentum verteidigt hatte.«

      Am Kondratieff-Höhepunkt 1870/​73 überschlägt sich schließlich die Wirtschaft: Mit dem Tempo, mit dem der Geldverkehr, die Börsen und der Warenverkauf zunehmen, strömt die Landbevölkerung in die Städte. Berlin verdoppelt fast die Zahl seiner Einwohner in drei Jahren von 500.000 im Jahr 1870 auf bald 900.000 im Jahr 1873. Es kommt zu Wohnungsnot und Mietanstieg (wie in München während der hitzigsten Jahre des Computeraufschwungs). Während eine normale Bürgerfamilie vor 1870 etwa ein Sechstel des Haushaltseinkommens für Miete ausgibt, sind es zwei Jahre später schon ein Viertel.

      Wirtschaftshistoriker erklären die Börsenhausse samt anschließendem Crash 1873 mit den hohen Reparationszahlungen, die Frankreich nach seiner Niederlage am 28. Januar 1871 an Preußen zu zahlen hat: fünf Milliarden Goldfrancs innerhalb von drei Jahren – eine unvorstellbare Summe, die damals etwa dem jährlichen Volkseinkommen Preußens entspricht. Das Geld überschwemmt den Finanzmarkt, weil der preußische Staat damit nicht etwa eine neue Infrastruktur errichtet, sondern vor allem seine Schulden zurückzahlt. Das Geld, das die Bürger dem Staat in Kriegsanleihen und den Banken geliehen haben, steht nun plötzlich im Überfluss frei zur Verfügung. Weit mehr Geld wird angeboten, als sich Firmen oder Privatpersonen ausborgen wollen, obwohl doch der Preis für das geliehene Geld, der Zins, ins Nichts absinkt. Aus der Sicht der Kondratiefftheorie liegt das aber nicht an den französischen Reparationszahlungen, sondern daran, dass es im Höhepunkt des Zyklus kaum noch rentable Investitionsmöglichkeiten gibt. Hätte Frankreich seine Reparationen 1850 zu zahlen gehabt, das Geld hätte verhindert, dass im langen Aufschwung die Zinsen steigen, und wäre vom Eisenbahnbau und dem dadurch angeregten Unternehmertum aufgesogen worden.

      So aber passiert, was auch ohne französische Geldspritze passiert wäre: Wer Geld hat, reagiert wie zu allen Zeiten (1927/​29, 1973/​74, 1996/​2001 und 2005/​2008), wenn mit festverzinslichen Anleihen nichts mehr zu verdienen ist. Sie kaufen Realwerte wie Rohstoffe oder jetzt eben vermehrt Aktien und spekulieren darauf, dass deren Wert in Zukunft stark steigt. Und das tut er auch. Aber nicht deshalb, weil die Firmen oder Rohstoffe nachhaltig an Besitz und Mehrwert zunehmen, sondern weil die anderen Marktteilnehmer gerade auch nichts anderes mit ihrem freien Geld anzufangen wissen, als es in spekulative Anlagen zu stecken. Und weil alle kaufen, steigt deren Wert. Je mehr sich herumspricht, dass man zumindest auf dem Papier mühelos reich werden kann, desto mehr Menschen steigen in das Geschäft ein. Bis selbst die untersten Besitzschichten wie Dienstboten ihren Spargroschen zur Bank tragen und darauf bestehen, irgendwelche Aktien zu erwerben. Bis 1870 haben sie kaum gewusst, was eine Aktie, geschweige denn die Börse, ist.

      Schade, dass Generationen ihre Erfahrungen jedes Mal wieder mit ins Grab nehmen. Sie hätten die Aktionäre der »neuen Börsenkultur« des Jahres 1999/​2001