Die Geschichte der Zukunft. Erik Händeler

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Название Die Geschichte der Zukunft
Автор произведения Erik Händeler
Жанр Зарубежная деловая литература
Серия
Издательство Зарубежная деловая литература
Год выпуска 0
isbn 9783865064356



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völlig uninteressant gehalten, werden zu heiß begehrten Zielen für in den Strand gesteckte Fahnenstangen. Deutschland rafft ohne strategischen Sinn und Verstand ein Sammelsurium pazifischer Inselchen an sich – es glaubt allen Ernstes, es gehe hier um die Wachstumsmärkte der Zukunft.

      Dahinter stecken die innenpolitischen Folgen des Kondratieffabschwungs mit fallenden Unternehmensgewinnen, Verteilungskämpfen und Stagnation. Zwar können die Unternehmer den wirtschaftlichen Druck an die Arbeiter weitergeben, indem sie den Reallohn mit der Zeit absenken. Aber, so die Angst der Wohlhabenden, die ärmlichen Lebensverhältnisse der Unterschicht könnten ihnen gefährlich werden, wenn sozialistische oder gar marxistische Vorstellungswelten daran eine Revolution entzünden. Diese appellieren an das Bedürfnis des Einzelnen, seine Situation zu verbessern. Dazu muss er auf der Verstandesebene zu der Überzeugung kommen (oder von außen überzeugt werden), dass er sich mit anderen, die in derselben Situation sind, zusammentun, eine Gruppenidentität ausprägen und die gemeinsamen Interessen durchsetzen muss.

      Mit Nächstenliebe hat der Kampf gegen die Kapitalisten ebenso wenig zu tun wie der psychologische Impfstoff, mit dem die Reichen das Proletariat gegen diese »linken Irrlehren« immunisieren wollen: Sie sprechen den Einzelnen über seine nationale oder rassische Gruppenidentität an, begeistern ihn für patriotische, imperialistische oder sozialdarwinistische Denksysteme. Die selbst erlebte Ungerechtigkeit seiner Lebenssituation wird von oben ausgeglichen, indem ein kollektivpsychologisches, pseudoreligiöses Bedürfnis befriedigt wird: Was sind wir doch für eine große und vor allem wichtige Nation, höherwertiger und haushoch dem Rest der Welt überlegen, wo uns doch überall auf der Welt Länder gehören und wir so eine starke Flotte haben. Über so viel Größenwahn kann man dann sein eigenes Los vergessen, die eigene Schufterei bekommt endlich einen übergeordneten Sinn. Führende Politiker polieren mit neuen Kolonien ihr Ansehen wieder auf, nachdem sie es mit Steuererhöhungen und niedergeschlagenen Streiks ramponiert haben. Kolonien dienen vor allem dazu, dass die innenpolitische Stimmung Dampf ablassen kann – auf Kosten der Menschen in den heutigen Entwicklungsländern.

      Selbst der sich sträubende Bismarck hat gegen die öffentlich aufgeheizte Stimmung keine Chance, diesen Unsinn zu verhindern: In den Krisenjahren Anfang der 1880er kaufen sich deutsche Geschäftsleute auf eigene Faust ein paar Wüstenstreifen zusammen und zwingen nach ihrer Pleite das Deutsche Reich, sie als »Kolonien« zu übernehmen. Das kostet den Staat viel Geld und bringt keines ein. Selbst später im Aufschwung des dritten Kondratieffs nach 1890/​95 erfüllen die Kolonien keinen ökonomischen Zweck: Im Jahr vor dem Ersten Weltkrieg leben in allen deutschen Kolonien zusammen – immerhin eine Million Quadratmeilen – nur etwas über 28.000 Weiße (also nicht nur Deutsche). Das ist nichts im Vergleich zu den Millionen, die aus Armut in die USA ausgewandert sind – Nationalisten hatten ja gerade deshalb Kolonien gefordert, damit deutsches Blut nicht mehr in fremden Kulturen aufgehe.

      Auch der Handel mit den Kolonien ist verschwindend gering: Während das Deutsche Reich 1913 Waren für 10.039 Millionen Mark in alle Welt exportiert, kaufen die eigenen Kolonien dem Mutterland nur Waren für 57 Millionen Mark ab. Denn das, was der dritte Kondratieff braucht – Kohle, Erz, Fabrikarbeiter –, findet sich nicht im Pazifik oder in Kamerun, sondern in Deutschland. Die Kolonien erfüllen einen Zweck nur als innenpolitisches »Wir-sind-wieder-Wer« und zur eigenen Beruhigung, angesichts der Depression doch irgend etwas für die Zukunft getan zu haben. Es ist derselbe Grund, der die Menschen während des langen Kondratieffabschwungs nach einem Schuldigen suchen lässt.

       Jede Wirtschaftskrise braucht ihre Sündenböcke

      Niemand kann die plötzliche und so heftige Wirtschaftskrise begründen. Die Nationalliberalen meinen, Schuld an der Depression sei vor allem die Überproduktion der Industrie, und dieses Problem – so die Lehre der klassischen Wirtschaftstheorie – werde sich mit der Zeit von selbst lösen. Doch darauf warten sie vergeblich. Und weil sich auch die Zeitgenossen den Verlust ihres ein Leben lang ersparten Vermögens nicht plausibel erklären können, müssen eben dunkle semitische Mächte dafür verantwortlich sein: die Kapitalisten, und das sind in dieser Zeit aus historischen Gründen überdurchschnittlich viele Deutsche jüdischen Glaubens. Nirgends in Westeuropa leben so viele Juden wie im Deutschen Reich (700.000). Allein in Berlin gibt es mit 50.000 so viele Juden wie in ganz Großbritannien und mehr als in ganz Frankreich (40.000). Magnaten wie Rothschild, Oppenheim oder Bleichröder ziehen den Volkszorn auf alle Juden, egal, wie reich oder arm diese sind. Journalisten weisen bei Enthüllungsgeschichten zu Firmenpleiten immer wieder auf die jüdischen Wurzeln der Akteure hin. Die bejubelten Börsenmakler von 1872 sind auf einmal verachtete »Börsenjuden«.

      In Wahrheit geht es den meisten darum, die jüdischen Mitbürger möchten doch bitte nicht ständig das Selbstwertgefühl der germanischen »Herrenrasse« in Frage stellen. August Bebel, die große Figur der Sozialdemokraten im 19. Jahrhundert, bezeichnet den Antisemitismus als »eine Art Sozialismus der dummen Kerls«. Es ist das »Stehkragenproletariat« der kleinen Angestellten und Beamten, das die Tüchtigkeit der Juden fürchtet, ebenso die kleinen Ladenbesitzer und Handwerker: 1885 sind zehn Prozent aller preußischen Studenten Juden – siebenmal so viel wie ihr Bevölkerungsanteil. In Berlin sind drei Prozent der Bevölkerung Juden, aber jeder zweite Unternehmer in der Hauptstadt. Mit der Zeit nimmt der Antisemitismus auch in der Oberschicht zu, dort dann esoterisch angehaucht. Selbst der evangelische Hofprediger Adolf Stöcker predigt gegen die Juden, weil er so politisches Kapital schlägt für seine Christlich-Soziale Arbeiterpartei, die vor allem unter Kleinbürgern Wahlerfolg hat. Antisemitismus und rechte Verschwörungstheorien werden gesellschaftsfähig. Sie werden die ganze Krisenzeit hindurch bis hinein in die Kinderjahre Adolf Hitlers in den 1890er Jahren wiederholt und leben dann in der Weltwirtschaftskrise erneut auf.

      Georg Tietz aus der Dynastie der Hertie-Kaufhauskette erlebt schon damals in der Krise des zweiten Kondratieffs, was andere Deutsche jüdischen Glaubens genau einen Strukturzyklus später im Nationalsozialismus erleben: Je erfolgreicher er ist, umso verbissener wehren sich die im Wettbewerb unterlegenen Einzelhändler. Sie stellen Posten vor sein Münchener Kaufhaus am Karlsplatz, die den Kunden Flugblätter in die Hand drücken und sie vor dem Einkauf bei den »Juden« warnen.47 Ein anderes Mal zieht die Menge nach einer Einzelhandels-Versammlung zum Kaufhaus, wirft mit Pflastersteinen die Fenster ein und blockiert es. Corpsstudenten gehen hinein, belästigen die Verkäuferinnen, schlagen einen Mitarbeiter blutig, werfen die Waren durcheinander. Tietz ruft die Polizei, doch die lehnt es ab, gegen »Söhne der ersten deutschen Familien« einzuschreiten. Nur mit Hilfe eines befreundeten Bäckers und seiner Gesellen gelingt es ihm, die nationalistische Studentenschaft rauszuwerfen. Was sich hier Luft macht, ist die eigene wirtschaftliche Unzufriedenheit.

       Soziale Probleme im langen Abschwung

      Denn niemand ist von den geringen Gewinnspannen im langen Kondratieffabschwung so sehr betroffen wie die Unterschicht. Nach dem Gründerkrach fehlen in den wachsenden Großstädten bald wieder billige Mietwohnungen. Hunderttausende von »Schlafburschen« zahlen für ein paar Kreuzer einen Schlafplatz in einer Familie, zum Teil übernachten bis zu vier Personen in einem Bett. Dass Bismarck in den 1880ern Kranken-, Unfall- und (Arbeiter-)Rentenversicherung einführt (damit die Arbeiter nicht alle der SPD zulaufen), zeigt, dass die Not in diesen Jahren größer ist als zuvor – eben ein Kondratieffabschwung.

      Den Unterschicht-Frauen geht es überall dreckig. Rechtlos, abhängig und niedrigst bezahlt, vermögen sie sich »in ihrer abhängigen Lage dem Herrn, dem Verwalter und dem Knecht gegenüber selten zu wehren«, stellt eine Studie des evangelischen Sittlichkeitsvereins von 1890 fest. Die Flucht in die Stadt ist nur ein Tausch der Unfreiheiten: Entweder sie arbeiten in einer Fabrik, was in der Regel ziemlich ungesund ist und mit drei bis sechs Silbergroschen weit schlechter bezahlt wird als etwa männliche Drucker oder Färber, die zwischen 15 und 25 Silbergroschen am Tag bekommen. Oder sie ergattern sich eine Dienstbotenstellung, in der sie rund um die Uhr den Herrschaften zur Verfügung stehen und mit etwa 30 Jahren verbraucht sind – 1882 gibt es rund 1,3 Millionen Dienstboten im Deutschen Reich. Viele Näherinnen, Kellnerinnen oder Fabrikmädchen dürften mit Prostitution ein Zubrot für ihr Überleben verdienen. In München wird 1890 jedes dritte Kind unehelich geboren.

      Die Arbeiter sind mit Alltagssorgen so beschäftigt,