Die Geschichte der Zukunft. Erik Händeler

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Название Die Geschichte der Zukunft
Автор произведения Erik Händeler
Жанр Зарубежная деловая литература
Серия
Издательство Зарубежная деловая литература
Год выпуска 0
isbn 9783865064356



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(Bis zur Jahrhundertwende steigt die Zahl auf 18.000 Beschäftigte an – sie verfünfzehnfacht sich, während die Bevölkerung nur um die Hälfte zunimmt.)

      Bis neue Aktienbanken mit immer ausgedehnteren Filialnetzen die Groschen der kleinen Leute für die Industrialisierung einsammeln, die zuvor nutzlos in Sparstrümpfen versteckt gewesen sind, muss der Widerstand des Staates überwunden werden. Im Vormärz25 versucht der preußische Finanzminister Christian von Rother mit allen Mitteln, Bank-AGs zu verhindern. Denn die paar persönlich haftenden Privatbankiers hat die Regierung bisher leicht unter Druck setzen können. Aber zahlreiche anonyme Aktiengroßbanken? Dazu kommt: Der Berliner Finanzbürokratie ist das liberale Rheinland, das sich mit der Industrialisierung so stürmisch entwickelt, immer suspekt gewesen. Das alte Preußen mit seinen konservativen ostelbischen Rittergutsbesitzern fürchtet zu Recht, die Industriellen könnten innenpolitisch die stärkere Kraft werden.

      Dafür geht es wenigstens im innerdeutschen Handel voran: 1834 tritt der Zollverein zwischen Preußen, Hessen-Darmstadt, Bayern und Württemberg in Kraft, dem sich in den nächsten Jahren die anderen Staaten anschließen – Bremen und Hamburg erst lange nach der 1871er-Reichsgründung 1888. Dass sie sich wirtschaftlich annähern, bedeutet nicht, dass sie sich gleichzeitig auch politisch angleichen: Der Zollverein hindert die deutschen Kleinstaaten nicht daran, 1866 an der Seite Österreichs gegen Preußen Krieg zu führen (ein Grund, heute die Europäische Union nach der wirtschaftlichen Einheit auch politisch weiter zu vertiefen).

      Technologisch bemühen sich die Deutschen zunächst vergeblich, eine eigene Lokomotive auf die Schiene zu bringen: Der Prototyp des Konstrukteurs Friedrich Kriegar in der Königlichen Eisengießerei in Berlin taugt 1815 nur dazu, ein bisschen auf dem Fabrikgelände herumzufahren, zu schwach und unzuverlässig ist er für den kommerziellen Eisenbahnverkehr26. Auch die von L. C. Althans konstruierte Lok benimmt sich bei der öffentlichen Erprobung 1822 nach zeitgenössischen Berichten »wie ein bockiges Pferd« und wird schließlich verschrottet. Für Deutschland heißt das: Ob es auf lange Zeit ein zurückgebliebenes Entwicklungsland ist oder bald wieder im Konzert der Mächte mitspielen kann, hängt von einer Schlüsseltechnologie aus dem Ausland ab. Für die erste Strecke von Nürnberg nach Fürth importiert man die Lokomotive samt Lokführer aus England.

      Jede Basisinnovation stößt zu ihrer Zeit auf Unverständnis und Widerstand: Grauen erfasst viele Deutsche beim Anblick des dampffauchenden Ungetüms mit seiner Wahnsinnsgeschwindigkeit von 35 Kilometern in der Stunde: »Die schnelle Bewegung muss bei den Reisenden unfehlbar eine Hirnkrankheit, eine besondere Art des Delirium Furiosum erzeugen«, soll das bayerische Obermedizinalkollegium angeblich in einem Gutachten gewarnt haben. Und wenn sich aber dennoch jemand in eine so »grässliche Gefahr« begeben wolle, dann müsse der Staat wenigstens die Zuschauer schützen, die schon vom Hinsehen dieselben Gehirnkrankheiten bekommen können – und zwar mit einem hohen Bretterzaun auf beiden Seiten. Prediger verteufeln die Bahn, weil, wenn Gott gewollt hätte, dass sich der Mensch auf Rädern fortbewege, dann hätte er ihm auch welche gegeben.

      Im ersten Jahrzehnt bis 1845 werden nur 2294 Kilometer gebaut – kaum genug, um eine Branche anhaltend zu beschäftigen, und selbst die Investitionen scheinen sich zunächst nicht genug zu rentieren, weil es zu wenig Gewerbe gibt, das die Eisenbahn nutzen kann. Die Krisenjahre in den 1840ern erklären Wirtschaftswissenschaftler mit »Überinvestition«. Die Kondratiefftheorie präzisiert, dass sich die technischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systeme zwar parallel, aber nicht gleich schnell entwickeln und deswegen im Ungleichgewicht sind. Viele neu gegründete Betriebe sind in einer kritischen Lage, das Geschäft stagniert, das Geld ist knapp, es gibt wieder mehr Arbeitslose. Selbst der Lokomotivfabrikant Borsig muss in Berlin 400 Arbeiter entlassen. Kapital ist zwar billig, aber Prognosen für deutsche Verhältnisse zu optimistisch. Der Bau der Eisenbahn ist risikoreich (der Deutschen Bahn ergeht es beim Neubau der ICE-Strecken heute nicht anders): Niemand weiß vorher, wie teuer der Kauf der benötigten Flächen wird, da die Grundstückspreise explodieren, wenn durchsickert, wo die Trasse verlaufen wird. Auch die Bauarbeiten sind kaum zu kalkulieren, weil die Beschaffenheit des Geländes die Ingenieure immer wieder überrascht. Noch schwerer lässt sich abschätzen, wie viele Menschen später mit dieser Bahn fahren werden.

      Und dennoch setzen die fertiggestellten Eisenbahnen die gesellschaftlichen Strukturen europaweit unter Druck: Allein in Deutschland werden 1847 mehr als 1000 Kilometer Schienenstrecke neu fertiggestellt, ohne dass sich die wirtschaftlichen Gängeleien lockern. Der Revolution, die seit 1848 von Paris kommend auf ganz Europa übergreift, geht es daher vor allem um bürgerlich-wirtschaftliche Rechte wie Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit, ja sogar um eine demokratische Staatsverfassung – also darum, seine Wirtschaftsinteressen in Lobbyverbänden vertreten zu dürfen, sich aus der Zeitung zuverlässig über ökonomische Vorgänge zu informieren und am Ende im Parlament darüber mitentscheiden zu können, wie Steuergelder für den Bau von Infrastruktur ausgegeben werden.

      Wie schon 1789 in Frankreich geht es nicht um Arbeiterinteressen wie »Mehr Lohn« oder dass Unternehmer in bessere Arbeitsbedingungen investieren sollen – dafür gibt es in Deutschland noch viel zu wenig Arbeiter. Der preußische König Friedrich Wilhelm IV. erlaubt zwar eine unabhängige Justiz, die Pressefreiheit und ein Vereinsrecht, doch er weigert sich, seine Truppen aus Berlin abzuziehen. Es kommt zu Barrikadenkämpfen mit 183 Toten. Der König gibt nach, entblößt die Hauptstadt von Truppen und verneigt sich vor den Märzgefallenen. Die bürgerliche Revolution scheint ihre Ziele erreicht zu haben – indem sie die Arbeiterschaft für sich instrumentalisiert, die noch gar nicht weiß, dass sie eigentlich noch ein paar ganz andere Interessen hat als ein Fabrikant, Professor oder Handwerksmeister.

      Am Ende gibt es zwar das erste demokratisch gewählte deutsche Parlament, aber keine Staatsgewalt, die seine Beschlüsse umsetzt – der preußische König lehnt die angebotene Kaiserkrone aus der Hand des pöbeligen Volkes ab. Das Parlament zerläuft sich, weil die Großbürger vor den immer radikaleren Forderungen der Arbeiter Angst bekommen. Als der Kaiser nicht kommt, gehen sie eben wieder brav nach Hause und vereinbaren mit ihren jeweiligen Monarchen einen unausgesprochenen Kuhhandel: keine Revolution mehr, dafür ab jetzt so richtig Bahn frei für exzessives Wirtschaften. Mit jedem weiteren Eisenbahnkilometer, der ab jetzt schnell gebaut wird, wachsen die Möglichkeiten, Waren zu kaufen, zu verarbeiten und zu verkaufen, entwickelt sich die Wirtschaft stürmisch. Bis 1855 werden in Deutschland weitere 6000 Kilometer Schienen gebaut, bis 1865 nochmals 6400 Kilometer. Und bis 1875 zum Höhepunkt des zweiten Kondratieffs kommen 13270 Kilometer hinzu.27

       Neue Märkte verschieben das Machtgleichgewicht

      Weil verschiedene Gesellschaften die Strukturen des neuen Kondratieffs unterschiedlich gut umsetzen, sind Länder wie Deutschland plötzlich zwei- bis dreimal so stark wie andere. Nach dem Wiener Kongress 1814/​15 waren die Karten zwischen den Ländern erst einmal verteilt gewesen. Der erste Kondratieffabschwung hat das »Konzert der Mächte« stabilisiert. Doch mit dem nächsten langen Kondratieffaufschwung verschieben sich die Gewichte – darin sieht Nikolai Kondratieff28 die Ursache von bewaffneten Auseinandersetzungen. In den Aufschwungjahren des zweiten Kondratieffs kommt es zu Kriegen, bei denen jene Länder militärisch geschlagen werden, die den neuen Strukturzyklus nur zögerlich erschließen: Ihnen fehlen bessere Stahlgeschütze, Nachrichtenverbindungen entlang der Bahn sowie Kapazitäten an Transport und an Fabriken, um Nachschub zu produzieren, Truppen auszurüsten und zu versorgen.

      Beispiel Krimkrieg 1853 – 1856: Die Russen fordern vom Osmanischen Reich, den orthodoxen Christen in Palästina Schutzrechte zuzugestehen; die Türken lehnen ab. Russland besetzt die Donaufürstentümer Moldau und Walachei, daraufhin erklärt die Türkei Russland den Krieg, den der »Kranke Mann am Bosporus« bald verlieren würde. Weil die Engländer nicht wollen, dass Russland so stark wird, schicken sie eine Expeditionsarmee – sie können sich das leisten. Die Franzosen träumen wieder davon, »Grande Nation« zu werden, und schließen sich den Briten ebenso an wie 15 000 Soldaten aus dem norditalienischen Staat Piemont-Sardinien, dem es weniger um die Türken geht als um seine eigene internationale Anerkennung.

      Der Ausgang der Kämpfe ist von vornherein klar: Während England im