Die Geschichte der Zukunft. Erik Händeler

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Название Die Geschichte der Zukunft
Автор произведения Erik Händeler
Жанр Зарубежная деловая литература
Серия
Издательство Зарубежная деловая литература
Год выпуска 0
isbn 9783865064356



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sauer erarbeitete Geld der Gewerbetreibenden ausgibt. Von den 26 Millionen Franzosen gehören über 25 Millionen weder dem Adel (erster Stand) noch dem Klerus (zweiter Stand), sondern eben dem dritten Stand an – aber jeder der drei Stände hat in der Generalversammlung dasselbe Stimmgewicht. Da die oberen beiden Stände mit der Monarchie stimmen, haben die Bürger von vornherein verloren. Ihnen bleibt gar nichts anderes mehr übrig, als sich zur eigentlichen politischen Macht, zum Repräsentanten der ganzen Nation, zu erklären.

       Neues destabilisiert die Gesellschaft

      Die Französische Revolution vollzieht auf der politischen Ebene nach, was auf der wirtschaftlichen und religiösen Ebene schon begonnen hat. Sie stürzt nicht nur einen Bereich der Wirklichkeit, sondern alle Systeme: Wirtschaft, Glaube und Staat. Technische Entwicklungen und die dafür nötigen institutionellen Innovationen haben freie Bahn. Die Dämme der bisherigen Gesetze, Bräuche und Frömmigkeit brechen schneller, als eine neue funktionierende Ordnung errichtet werden kann. Alle Emanzipationsbewegungen sind am Anfang destruktiv. Als die Konstituierende Versammlung nach zwei Revolutionsjahren die Macht erobert hat, schafft sie die Feudalherrschaft der Adeligen ab, konfisziert Kircheneigentum, legalisiert Organisationen und Zusammenschlüsse der Kaufleute und Fabrikanten, verbietet aber – von wegen Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – alle Zusammenschlüsse der Arbeiter. Die chaotische Volksherrschaft mit massenweisen Hinrichtungen wird erst domestiziert durch die Rückkehr zu einem Alleinherrscher Napoleon, später dann durch eine funktionierende Gewaltenteilung. Das macht Hoffnung, daran zu glauben, dass die destruktiven Erscheinungsweisen eines befreiten Individualismus heute auch wieder domestiziert werden können – durch eine ausbalancierte Kooperationsfähigkeit.

      Es ist jedoch glatt gelogen, darüber zu klagen, wie alles immer schlimmer wird, wo doch früher alles so gut und die Menschen so gesittet und friedlich gewesen sind. Wahr ist, dass technische Veränderungen die Gesellschaft durcheinander rütteln und die alten Verhaltensmaßstäbe und Organisationsstrukturen destabilisieren, sodass der nächste Kondratieffzyklus mit chaotischen Begleiterscheinungen beginnt. Damit neue Strukturen aufgebaut werden können, müssen alte zerstört werden. Das Problem daran ist, dass es nicht gelingt, beides gleichzeitig und langsam zu gestalten.

      1. Kondratieffabschwung Feudalismus macht Deutschland arm

      Dass Deutschland im ersten Kondratieff ein armes Land bleibt, hat daher aus Sicht der Kondratiefftheorie gesellschaftliche Gründe: Wenn seine Bewohner nicht die (Infra-)Strukturen für eine neue Basisinnovation bereitstellen, dann machen sie ein paar neue Dampfmaschinen allein eben auch nicht wohlhabender. Auch wenn es am Anfang noch danach aussieht: Deutschland erlebt den ersten Kondratieff im Krieg als Hochkonjunktur. Im Ruhrgebiet blüht die Industrie kurz auf, weil sie die Kontinentalsperre vor englischen Waren schützt; die Bauern erzielen dank der hohen Nachfrage gute Preise. Doch nach dem Krieg haben die Deutschen als kaum industrialisiertes Land keine Chance im Wettbewerb. Sie profitieren zuwenig vom Aufschwung und sind vom Abschwung der 1820er/​30er Jahre doppelt getroffen.

      Schuld daran sind nicht die Engländer, die ihre Dampfmaschinen-Technologie hüten und Ingenieuren verbieten, ihr Wissen ans Ausland weiterzugeben; es liegt an der deutschen Gesellschaft selbst, die nichts von dem vorbereitet hat, was dieser neue Strukturzyklus braucht: Arbeiter, eine Unternehmerschicht, Kapital, einen Binnenmarkt, Transportwege wie die Kanäle in Frankreich und England, und es fehlt an Ballungszentren als Absatzgebiet, die größere Ressourcen für Investitionen mobilisieren können. Die deutschen Adeligen schauen auf Geschäftsleute herab – sie lassen niemanden von ihnen in ihre Kreise einheiraten. Mutigen fehlen Anreize, Kohle und Erze im Boden industriell zu verwerten. Zünfte schränken gewerbliche Freiheit ein. Jedes Fürstchen kocht seine eigene Suppe.

      Bauern sind je nach Region noch an ihren Boden oder als Leibeigene an den Feudalherrn gebunden. Das ändert sich, als Preußen 1806 bei Jena von Napoleon gründlich geschlagen wird: Der Staat sieht ein, dass er mit gepressten Söldnern keine Schlachten gewinnen kann, sondern nur mit freien Soldaten, die für einen Staat kämpfen, von dem sie zumindest glauben, dass er ihre Sache sei. Also kommt es in Deutschland zur Bauernbefreiung (bis das revolutionäre Frankreich besiegt ist – danach werden die Möglichkeiten, ein freier Bauer zu werden, wieder zugunsten der Grundherren eingeschränkt).

      Aus Leibeigenen werden lohnabhängige Landarbeiter. Das hat auch einen Vorteil für den Grundherrn: Er ist nicht mehr verpflichtet, seine Bauern sozial zu versorgen – ihre Arbeit ist mit dem Tagelohn abgegolten. Und wenn es ihnen schlecht geht, weil sie oder ihre Kinder krank werden, dann ist das ihr Problem. Dort, wo Kleinbauern den Boden eines Grundherrn beackern und dafür bislang einen Großteil der Ernte abgeben müssen, wird es möglich, den Boden abzukaufen. Dafür nehmen viele Bauern einen Kredit auf, der sich auch gut bedienen lässt – zumindest während des ersten Kondratieffaufschwungs in den Napoleonischen Kriegen, als die Nachfrage groß ist: Die Preise, welche die Bauern für Lebensmittel erzielen, sind hoch, obwohl die Ernten steigen. Weideland und dörfliche Gemeinschaftsflächen werden mit der Bauernbefreiung in Äcker umgewandelt, Tiere kommen in den Stall. Statt Dreifelderwirtschaft (jedes dritte Jahr bleibt ein Acker brach liegen) kann der Boden dank wechselnder Fruchtfolge und Stallmist jedes Jahr bebaut werden. Der Markt saugt die gestiegenen Ernteerträge auf.

      Aber nur, bis der Krieg vorbei ist und die große Nachfrage ausbleibt, welche die Dampfmaschinen in England und Frankreich nach sich gezogen haben. Die Kontinentalsperre hat vor 1813 verhindert, dass die Engländer Stoffe und Eisen auf dem europäischen Festland verkaufen können. Sobald sie aufgehoben ist, ist Deutschland der vollen Wucht einer britischen Industrie ausgesetzt, die ihr ein bis zwei Generationen voraus ist. Den Deutschen geht es wie heute Entwicklungsländern: Was sie produzieren, können die Engländer und auch Franzosen längst viel besser herstellen, mit viel weniger Kosten, einem höheren Gewinn und zu einem günstigeren Preis. Es ist das Wettrennen eines Fahrradfahrers gegen ein Auto auf der freien Landstraße.

      Die kurze Blüte von Bergbau und Metallindustrie in Essen und Düsseldorf verwelkt. Während Städte weniger, oder zumindest viel langsamer als bisher Agrargüter nachfragen, wächst das Agrarangebot weiter. Die Preise für Getreide sinken. Das bringt die gerade erst befreiten, selbständigen Bauern in Not. Ihre Landstreifen, die sie dem ehemaligen Feudalherrn abgekauft haben, sind nicht groß genug, um wirtschaftlich zu sein. Viele Kleinbauern im Rheinland und in Südwestdeutschland haben für ihre eigene Scholle in der Hochkonjunktur Kredite aufgenommen. Nun ringen sie um ihr Überleben, weil während der Agrarkrise in den 1820ern die Preise fallen – wie immer in einem Kondratieffabschwung. Zwar leiden auch Handwerk und die kleine Industrie unter verschärftem Wettbewerb und weniger Umsatz bei gleichen Fixkosten, doch nirgends sinken die Preise so sehr wie in der damaligen »old economy«, der Landwirtschaft.13 Ein Bauer muss eine immer größere Menge an Getreide in die Stadt karren, um dafür ein Werkzeug aus Eisen zu kaufen. Viele können jetzt ihre Höfe nicht mehr halten. Die anderen aus der Leibeigenschaft befreiten Bauern, die jetzt als Landarbeiter leben, werden von den Grundherren einfach nicht mehr beschäftigt. Sie wandern aus oder suchen eine Lebensexistenz in den Städten. Eine Arbeiterschaft, die für die Industrialisierung nötig ist, entsteht in Deutschland also erst dann, als es im langen Abschwung an ausreichenden anderen Arbeitsmöglichkeiten fehlt.

      Oder ist das alles nur ein deutsches Problem gewesen und es hat nie einen Abschwung des ersten Kondratieff gegeben? Wenn Wirtschaftshistoriker heute das britische Bruttosozialprodukt schätzen, zeigen die Zeitreihen über die 1820er und 1830er hinweg ständig nach oben. Und doch kommt es auch in England zu einer schweren Rezession mit fallenden Preisen und einer geschätzten Arbeitslosigkeit von 20 bis 30 Prozent der arbeitsfähigen Erwachsenen, wie es Romane von Charles Dickens, zum Beispiel »Hard Times«, überliefern. Das harte Leben im Gefolge der »New Poor Law« in den 1830ern folgt dem heutigen Muster, aus Geldmangel die Arbeitslosenhilfe zu kürzen oder deren Bezug zu erschweren. In der Kultur spiegeln Biedermeier und Romantik das Lebensgefühl der wirtschaftlichen Stagnationsjahre. Nein: Es hat einen Kondratieffabschwung gegeben, und zwar für alle.

       Warum Arbeitslosigkeit ein Produktivitätsproblem ist

      Die weltweite Agrarkrise bricht nicht deshalb aus, weil die Landwirtschaft so produktiv geworden ist, sondern weil die Gesamtwirtschaft – so wie heute