Die Geschichte der Zukunft. Erik Händeler

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Название Die Geschichte der Zukunft
Автор произведения Erik Händeler
Жанр Зарубежная деловая литература
Серия
Издательство Зарубежная деловая литература
Год выпуска 0
isbn 9783865064356



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dass die Romanfigur Phileas Fogg 1848 noch mindestens elf Monate für dieselbe Reise benötigt hätte, die 1872 tatsächlich in 80 Tagen machbar erscheint.

      Die Eisenbahn ist die Basisinnovation des zweiten Kondratieff-Strukturzyklus, sie treibt Wirtschaft und Gesellschaft voran. Sie ist nicht nur eine, sondern ein ganzes Bündel vernetzter Innovationen: eine Kombination aus einem bisschen Stahl für die Lokomotiven, ausreichend starken Dampfmaschinen, Neuentwicklungen wie dem Dampfhammer oder noch besseren Luftdüsen, um in gigantischen Mengen den Rohstoff für die Schienen zu produzieren: Eisen ist das wichtigste Material dieser Zeit. Je einfacher und billiger die Schienen werden, umso leichter lassen sich neue Strecken finanzieren. Um 1850 ist die Eisenbahn der größte Abnehmer der Eisenindustrie und der Kohlebergwerke. Einige Autoren, die Kondratieffs Theorie zitieren, irren, wenn sie den Stahl schon dem zweiten Kondratieff zuordnen. Bis 1870 wird der wenige und noch zu teure Stahl nur für ein paar besondere Maschinen verwendet – die Gleise der Eisenbahn sind damals tatsächlich noch aus Eisen.

      Zwar rosten und verschleißen sie fünfmal schneller als später die besseren Stahlschienen. Aber das reicht für einen historisch einzigartigen Sprung auf ein neues Wohlstandsniveau: Mit der Eisenbahn sind Fabriken nicht mehr von Erz- und Kohlevorkommen abhängig – sie können nun in jeder Größe und überall dorthin gebaut werden, wo es einen Eisenbahnanschluss gibt und ein Flüsschen als Abflusskanal. Kohle, Eisen und alles erdenklich andere kann zu jedem bewohnten Ort transportiert werden – erst recht zu den neuen großflächigen Industriegebieten in London, Berlin und Paris. Auch auf See verändert das neue technologische System das Tempo: Mit ihren leistungsfähigeren und energieeffizienteren Antrieben verdrängen Dampfschiffe die Mastensegler. Immer weniger Kohle müssen sie für eine Fahrt mitnehmen, was mehr Raum für Ladung übrig lässt, immer größer können sie gebaut werden. Ihre weltweite Tonnage explodiert zwischen 1851 und 1871 von 264.000 auf fast zwei Millionen.15

      Nicht während des ersten Kondratieffs, sondern erst jetzt kann die Dampfmaschine ihr Produktionspotenzial großflächig entfalten. Der Ökonom Hobsbawm dokumentiert16, dass die weltweit installierte Dampfkraft in den 20 stärksten Jahren des zweiten Kondratieffaufschwungs von vier Millionen PS 1850 auf 18,5 Millionen PS bis 1870 zunimmt. In diesen nur zwei Jahrzehnten vervierfacht sich die globale Eisenproduktion, das Weltbruttosozialprodukt steigt um mehr als das Doppelte.

      Dabei ist eine vorherrschende Meinung, die Wirtschaft beginne in dieser Zeit wieder zu boomen, weil große Goldfunde gemacht worden sind: In Kalifornien bricht in den 1840ern der Goldrausch aus, neue Minen werden in Alaska und Australien gegraben. Kondratieff sieht in seiner umfassenden Wirtschaftstheorie dafür einen ganz anderen Hintergrund: Wenn die Wirtschaft sich wegen der massiven Produktivitätssteigerung wieder beschleunigt, braucht sie mehr Gold für den Zahlungsverkehr. Der Goldpreis steigt mit der Nachfrage. Jetzt wird es auch wieder rentabler, neue Goldfelder zu erschließen. Und die Techniken senken die Förderkosten und machen es wirtschaftlich, die bekannten Goldadern auszubeuten.17

      Wie in jedem Kondratieff schwingt sich dann die Globalisierung zu neuen Höhen auf: Der Welthandel wächst zwischen 1840 und 1870 um 260 Prozent.18 Richard Cobden (1804 - 1865) ist der führende Lobbyist, der dafür sorgt, dass England keine Zölle mehr auf ausländische Waren erhebt. Die führende Wirtschaftsmacht überzeugt auch die anderen Länder von den Vorteilen des freien Welthandels, wobei sie ihnen zum Teil großzügig Schutzzölle einräumt.

      England kann es sich leisten, denn wieder führt es den Strukturzyklus an: Nach der »railway mania«, dem Investitionsboom der 1830er, ist das Hauptnetz in den 1840ern bereits fertiggestellt und entfaltet eine wirtschaftliche Macht, die Paul Kennedy zusammenfasst19: Als das Vereinigte Königreich wahrscheinlich um 1860 seinen relativen Höhepunkt erreicht, produziert es 53 Prozent des weltweiten Eisens und 50 Prozent der Stein- und Braunkohle. Es verbraucht fast die Hälfte der ungesponnenen Baumwolle der Welt. Mit nur 2 Prozent der Weltbevölkerung und 10 Prozent der europäischen Bevölkerung hat das Vereinigte Königreich 40 – 45 Prozent des globalen und 55 – 60 Prozent des europäischen Produktionspotenzials. Es verbraucht fünfmal so viel moderne Energien aus Kohle und Öl wie die USA oder Preußen, sechsmal so viel wie Frankreich und 155-mal so viel wie Russland. Großbritannien alleine handelt ein Fünftel aller Güter der Welt und zwei Fünftel aller Industriegüter.

      Bei diesem Wohlstand, so Paul Kennedy, sei es kaum überraschend, dass die Briten in den 1860er und 1870er Jahren davon überzeugt sind, dass sie »mit der Anwendung der Prinzipien der klassischen Nationalökonomie das Geheimnis entdeckt« haben, das sowohl »zunehmende Prosperität als auch den Frieden in der Welt«20 garantiert – das meinen übrigens die Ökonomen im langen Aufschwung immer.

      Nach diesem Kondratieffzyklus, um 1880, stellt das Land mit 22,9 Prozent fast ein Viertel der Weltindustrieproduktion her – natürlich kann es sich ein gut ausgerüstetes Heer, eine große Flotte und ein Kolonialreich leisten. Aber noch mal: Die Engländer sind damals nicht deswegen reich und mächtig, weil ihre Löhne niedriger sind, oder die Notenbank die Zinsen gesenkt oder die Geldmenge erhöht hat, sondern weil sie die Strukturen des neuen Kondratieffzyklus und seiner Basisinnovation als Erste und mit Vorsprung erschlossen haben.

      Deswegen sind sie in dieser Zeit auch der weltweit führende Hersteller von Lokomotiven – die sind ebenso ein Exportschlager wie Schienen und sonstige Bahnausrüstungen. Großbritannien exportiert um 1850 jedes Jahr Waren im Wert von etwa 30 Millionen Pfund ins Ausland, um 1870 etwa 75 Millionen Pfund. Nie sind die englischen Exporte so stark gewachsen wie in den sieben Jahren von 1850 bis 1857 – jedes einzelne davon ist stärker als jedes andere Jahr davor oder danach in der Geschichte des Landes.21 Die Zinsen und Dividenden, die meist gleich wieder im Ausland investiert werden, summieren sich auf etwa 50 Millionen Pfund im Jahr.22

      Damit schwappt der Strukturzyklus auch in andere Länder: Die amerikanischen Eisenbahnen werden mit dem Geld gebaut, das zuvor in England verdient wurde. Die Reise von New York nach Chicago verkürzt sich von drei Wochen auf drei Tage.23 Das US-Netz wächst in den 1850ern und 1860ern um durchschnittlich 2000 Meilen jedes Jahr, in den frühen 1870ern sogar noch um 5000 Meilen.

       Deutschland krempelt seine Gesellschaft um

      Auch in der Bevölkerung regt sich Widerstand gegen das neue technologische System. Die schlesischen Weber in Peterswaldau protestieren im Hungerjahr 1844 weniger gegen ihre miserable Bezahlung. Sie haben vor allem Angst, ihre dürftige Einkommensquelle ganz zu verlieren, wenn die dampfgetriebenen Webstühle sie vollends arbeitslos machen. Sie können sich nicht vorstellen, dass eine boomende Textilindustrie viele zusätzliche Arbeitsplätze schafft – in der Infrastruktur, dem Transport von Tuch und Kohle, dass die Hallen und Maschinen gewartet werden müssen. Zugegeben: Bis dahin werden sie wohl verhungert sein, wenn ihnen beim Übergang von einem Strukturzyklus in den nächsten nichts und niemand hilft. Jedoch bessert es die eigene Lage nicht, Maschinen zu stürmen oder weiterhin für Hungerlöhne zu arbeiten. Der einzige Weg aus der Not ist damals wie heute, alles daranzusetzen, das nächste technologische Netz (hier das Netz der dampfgetriebenen Webstühle) so schnell wie nur irgend möglich zu erschließen.

      Doch niemand kann einem zu dieser Zeit genug Geld vorschießen, um längere Eisenbahnstrecken zu bauen. Nachdem den Christen im Mittelalter das Nehmen von Zinsen verboten war, fehlt es an Banken und Bankern. Anfang des 19. Jahrhunderts arbeiten vor allem Juden im Kreditwesen, weil ihnen seit dem Mittelalter die Zünfte (also nicht die gesichtslose Institution, sondern die Menschen dieser Handwerkszusammenschlüsse) die Mitarbeit