Harrys geträumtes Leben. Hans H. Lösekann

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Название Harrys geträumtes Leben
Автор произведения Hans H. Lösekann
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783957442116



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Lebensabschnitt.

      Er hatte seine kaufmännische Lehre abgeschlossen und die Prüfungen mit Bravour bestanden. Die drei Jahre Lehrzeit hatten ihm viel gegeben. Er hatte viel und auch leicht gelernt und meistens hatte es Spaß gemacht. Jetzt konnte es ans Geldverdienen gehen. Er war sich allerdings nicht so recht klar darüber, ob er sein ganzes künftiges Leben mit kaufmännischen Arbeiten im Büro verbringen wollte. Dazu hatte er in einem früheren Lebensabschnitt schon zu viel Aufregendes erlebt. Ja, das wollte er sich noch überlegen. Das wusste er noch und auch, dass er mit seinen Mitstreitern von der Berufsschule die bestandene Prüfung feiern wollte. Ja, und dann war Schluss. Das Nächste war der Horror seines Erwachens in dieser seelenlosen Hölle mit bedrohlichen technischen Gräten, piepsenden Apparaten, Leitungen, Schläuchen, festgeschnallt und völlig bewegungsunfähig. Dazwischen war nichts, sein Kopf gab nichts frei.

      Erst jetzt fiel ihm in dem Gewirr von Leitungen und Schläuchen eine Schnur auf, die etwas links von seinem Kopf hing, eine Schnur mit einem roten Knopf am Ende. Mit seinem freien linken Arm konnte er die Schnur erreichen. Ungeduldig drückte er den roten Knopf. Ausgiebig und dreimal hintereinander. Endlich, er hörte, wie die Tür in seinem Rücken geöffnet wurde, und er hörte Schritte. Schwester Lore kam wieder ins Blickfeld. Unwirsch wies Harry auf die Schläuche in seinem Mund. Lore lächelte besänftigend und streichelte Harry leicht an der Schulter.

      „Seien Sie nicht so ungeduldig, junger Mann. Der Doktor war noch im OP. Aber er ist jetzt fertig und wird gleich bei Ihnen sein. Bitte haben Sie noch ein paar Minuten Geduld.“ Sie lächelte wieder, warf noch einen Blick auf die Apparaturen und ging wieder.

      Resigniert schloss Harry die Augen. Er fühlte sich ungeheuer müde und schlapp, obgleich er doch nur lag und offensichtlich seit Tagen auch nur gelegen hatte. Gleichzeitig fühlte er trotz aller Mattigkeit eine grenzenlose Unruhe. Er war aufgedreht, hochgefahren vor Ungeduld und Ungewissheit. Was war mit ihm los, was war nur geschehen? Da, endlich wieder ein Geräusch, das nicht von den verdammten Apparaturen kam. Die Tür hinter ihm öffnete sich erneut. Wieder Schwester Lore, nein, die Schritte waren anders. Endlich, der Doktor. Ein hoch aufgeschossener Mann in einem weißen Kittel kam in sein Blickfeld. Der große Mann in den mittleren Jahren hatte ein ernstes, etwas müde wirkendes Gesicht. Er beugte sich über Harry und zeigte ein etwas bemühtes Lächeln.

      „Guten Tag, junger Mann. Ich bin Doktor Kreft. Es freut mich, dass Sie wieder da sind. Die Aufzeichnungen der Kontrollgeräte zeigen, dass Ihre Körperfunktionen wieder normal und selbstständig arbeiten. Schwester Lore berichtete mir, dass auch Ihre geistigen Aktivitäten wieder da und Sie schon ungeduldig seien. Das ist ein gutes Zeichen. Ich werde Sie jetzt erst einmal von dem Beatmungsschlauch und der Magensonde befreien und Ihnen dann alles erklären.“

      Die Entfernung der Schläuche war eine schmerzhafte und eklige Prozedur. Harry würgte entsetzlich, musste husten, konnte aber nicht, glaubte zu ersticken, aber irgendwann, wie ihm schien, nach unendlich langer Quälerei, war er befreit.

      „Danke, Herr Doktor. Was ist mit mir geschehen?“, wollte Harry sagen, es kam aber nur ein schwer verständliches Krächzen. Er machte wohl ein entsetztes Gesicht.

      Lächelnd meinte der Doktor: „Keine Angst, Ihre Stimmbänder sind von den Schläuchen noch gereizt. Ihre Stimme wird in einigen Tagen wieder normal sein.“ Dann wurde er ernst. „Aber nun zu dem Grund, warum Sie hier sind. Sie hatten einen sehr ernsten Krampfanfall. Sie haben wohl mit Ihren Freunden bei‚ Remmer‘ sehr viel Alkohol getrunken. Das hat bei Ihnen den Krampfanfall ausgelöst, das heißt, Sie sind umgefallen und Ihr Körper hat sich verkrampft. Sie haben in Ihrer Bewusstlosigkeit um sich geschlagen, waren nicht ansprechbar und waren eine Gefahr für andere und vor allem für sich selbst. Ihre Freunde haben den Notarzt gerufen und Sie sind mit dem Rettungswagen hierhergekommen. Trotz entkrampfender Spritzen haben Sie weiter epileptisch um sich geschlagen und wir mussten Sie fixieren und weiter sedieren. Ihre Körperfunktionen sind kollabiert, die Atmung hat ausgesetzt. Wir mussten Sie künstlich beatmen, Ihre Herztätigkeit kontrollieren und mit Infusionen steuern. Seit drei Tagen versuchen wir, Sie aus dem Koma, aus Ihrer Bewusstlosigkeit herauszuholen. Gott sei Dank, jetzt sind Sie wieder da. Vorsichtshalber werden Sie noch bis morgen hier auf der Intensivstation bleiben, damit wir Atmung und Herztätigkeit weiter kontrollieren können.“ Er zeigte auf die verschiedenen Kabel, die mit Saugnäpfen an Harrys Oberkörper angebracht waren. „Deshalb bleiben Ihnen diese Anschlüsse noch erhalten. Wenn es keine Komplikationen gibt, kommen Sie morgen auf die normale Station und dann unterhalten wir uns weiter.“ Damit ließ er Harry alleine.

      Der fühlte sich ungeheuer erleichtert. Er war kein Anhängsel mehr von Apparaturen. Gut, da waren noch die Kontrollkabel, aber die überwachten eben nur. Die Funktionen konnte und durfte sein Körper wieder selbst ausführen. Aber parallel zu der Erleichterung war da auch so ein Gefühl der Ungläubigkeit, ja, fast der Verzweiflung. Warum hatte er diesen lebensbedrohenden Anfall erlitten und warum konnte er sich an gar nichts erinnern? Er wusste noch, wie sie mit ihren Prüfungszertifikaten die Handelskammer verließen, sich auf dem Rathausplatz versammelten und beratschlagten, wie sie ihren Erfolg gemeinsam feiern wollten. Das sah er noch genau vor sich. Aber dann war nichts mehr, so als wenn ein Film plötzlich gerissen war. Er wusste nicht einmal mehr von dem Entschluss, ins „Remmer“ zu gehen, nichts von dem Aufenthalt dort und schon gar nichts von großen Mengen Alkohol, wie Doktor Kreft sie angesprochen hatte. Das war unerklärlich, mehr noch, das war beängstigend. Das musste der Arzt ihm morgen erklären. Harry war konfus, fühlte sich alleine, einsam und hilflos.

      Er hörte die Tür aufgehen. Jetzt konnte er sich umdrehen. Schwester Lore kam. Wie schön, zwar verwechselte er sie nicht mehr mit einem Engel, aber er war genauso froh, als wenn ein Engel erschienen wäre.

      „So, nun wollen wir doch mal sehen, ob Sie wieder etwas essen können“, sagte sie strahlend und brachte ein Tablett mit einer kleinen Schüssel Milchsuppe.

      „Schwester Lore, bitte sagen Sie mir, wie mir dieser Anfall passieren konnte und warum ich keine Erinnerung habe.“ Es war mehr ein leises Raspeln als ein Sprechen, aber mehr gaben die Stimmbänder noch nicht her.

      Lore lächelte wieder sanft. „Jetzt essen Sie erst einmal Ihre Milchsuppe. Erklären kann ich es Ihnen nicht. Ich kenne Ihre Krankengeschichte nicht. Entspannen Sie sich, seien Sie ganz ruhig und erholen Sie sich. Wenn Sie morgen auf der Normalstation sind, wird der Arzt alles mit Ihnen besprechen. Können Sie schlucken?“

      Harry versuchte es. Die Milchsuppe schmeckte herrlich und es schmerzte kaum beim Schlucken. Erst jetzt bemerkte er, dass er einen Riesenhunger hatte. Mit einem „Na wunderbar, bis später“ verließ Lore den Raum. Die Schüssel war bald leer. Harry fühlte sich gut, satt und fast zufrieden. Seine Gedanken kreisten noch ein wenig. Was war bloß los? Wie konnte so etwas passieren? Aber nach wenigen Minuten schlief er ein.

      Irgendwann schreckte Harry hoch. Er war verwirrt. Die Umgebung hatte er schnell als die Intensivstation eingeordnet. An der großen Wanduhr sah er, dass es fünf Uhr morgens war. Er hatte zehn Stunden geschlafen. Aber es fühlte sich an, als hätte er gar nicht richtig geschlafen. Ich habe doch nur geträumt. Wirre Träume, was war das denn alles? Aber erst einmal konnte er nicht darüber nachdenken, er musste nach der Nachtschwester klingeln, er konnte ja noch nicht alleine zur Toilette wegen seiner Verkabelung.

      Hinterher lag er ermattet da und versuchte, sich zu erinnern. Aber er bekam nichts mehr zusammen, bis auf eine Szene, einen Traum. Den aber sah er überdeutlich vor seinem geistigen Auge, so deutlich wie eine ganz besondere Filmszene, die man schon mehrere Male gesehen hat. Er, Harry, stand vor dem lieben Gott. Er stand da ganz klein und demütig und der liebe Gott saß auf einem großen Thron, umgeben von einem hellen, gleißenden, sicherlich heiligen Schein. So, als wenn hinter seinem Thron eine unsichtbare Batterie von extra starken Scheinwerfern in den Himmel gerichtet war. Der liebe Gott sah aus, wie Harry ihn sich als fünfjähriger Junge vorgestellt hatte. Ein großer, gütiger, alter Herr mit weißem Bart in einer kostbaren weißen Robe. Der liebe Gott sprach mit lauter, wohl tönender, tiefer Stimme: „Harry, du hast jetzt eine ernste, eine sehr ernste Warnung erhalten. Nimm sie dir zu Herzen und handle danach oder du musst schrecklich büßen. Geh in dich. Vergeude dein Leben nicht, sondern nimm es dir.“

      Das war die einzige Traumerinnerung,