Der Pfeiler der Gerechtigkeit. Johanna von Wild

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Название Der Pfeiler der Gerechtigkeit
Автор произведения Johanna von Wild
Жанр Исторические детективы
Серия
Издательство Исторические детективы
Год выпуска 0
isbn 9783839268988



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bei dem bärtigen Hünen bedankt hatten, begleitete Simon seine Schwester zu Melchior Bernbecks Haus.

      »Geht es dir gut?«, wollte Simon wissen.

      »Ja, mach dir keine Sorgen. Seit du fort bist, muss Vater wieder selbst mehr Zeit in der Backstube verbringen, und manchmal glaube ich«, sie senkte ihre Stimme zu einem Flüstern, »er bereut, was er dir angetan hat.«

      Simon versetzte es einen Stich, als Barbara von Bernbeck als ›Vater‹ sprach.

      »Mag sein, aber das wird er nie zugeben. Wieso hat er Berta nicht zum Markt geschickt?«

      »Weil sie ein dickes Geschwür am Bein hat und kaum laufen kann. Es sieht ganz schauderhaft aus und stinkt. Sibylla und ich gehen ihr bei allem zur Hand. Waschen, kochen, das Haus sauber halten. Mutter fehlt mir so, Simon. Und du auch.«

      »Ich wünschte, ich könnte dich in Sterzings Haus holen, aber das geht nicht«, erwiderte Simon traurig.

      Als sie Bernbecks Haus erreichten, trat ihnen Wulf entgegen.

      »Was hast du hier zu suchen? Verschwinde auf der Stelle!«, feindete er Simon an und zischte Barbara zu: »Solltest du nicht Eier und ein Huhn besorgen?«

      »Sie kann froh sein, dass sie die Börse noch hat …«

      »Ja, das stimmt, Wulf. Ein Dieb hat sie mir aus der Hand gerissen. Wenn Simon nicht da gewesen wäre, dann …«

      »Dann pass besser darauf auf. Und nun geh zurück und bring, was ich dir aufgetragen habe.« Drohend machte er einen Schritt auf Barbara zu.

      Simon schob seine Schwester ein Stück hinter sich. »Geh doch selbst, du elender Faulpelz. Was hast du dir dabei gedacht, Barbara allein loszuschicken? Bist du verrückt geworden? Du weißt ganz genau, wie viel Gesindel sich dort herumtreibt.«

      »Ich habe genug in der Backstube zu tun, und es geht dich einen Dreck an.«

      Plötzlich packte er Barbara grob am Arm und zerrte sie hinter Simon hervor.

      »Los, mach, dass du zum Markt kommst.«

      Barbara kreischte laut auf, und Simon versetzte Wulf eine Ohrfeige. Wutentbrannt ließ Wulf Barbara los und rammte Simon seine Faust in den Magen, der sich daraufhin keuchend zusammenkrümmte. Der Beutel rutschte von seiner Schulter und glitt mit leisem Scheppern zu Boden. Augenblicke später gingen beide aufeinander los, rauften und prügelten sich, bis sie am Boden lagen. Simon gewann die Oberhand und setzte sich rittlings auf Wulf, hielt dessen Arme mit den Knien nieder und packte ihn an der Kehle.

      »Nie wieder wirst du meiner Schwester wehtun, hast du das verstanden?« Er verstärkte den Druck seiner Hände. Wulfs Gesicht lief rot an. »Hast du mich verstanden?«, wiederholte Simon diesmal lauter und drückte noch etwas fester zu.

      Zwei starke Arme rissen ihn von Wulf herunter, und ein gewaltiger Schlag unter das Kinn schickte ihn zu Boden.

      »Willst du ihn umbringen?«, brüllte Bernbeck.

      Simon rappelte sich auf, wischte sich das Blut von der Unterlippe und den Staub von den Kleidern.

      »Lass dich hier nie wieder blicken! Verschwinde von hier, auf der Stelle!«

      »Aber Vater, Simon hat nichts ge…«

      »Geh zurück ins Haus, Barbara«, unterbrach Melchior sie wütend.

      Der Zorn in seinen Augen ließ sie augenblicklich verstummen, und sie machte auf dem Absatz kehrt. Simon sah ihr unglücklich nach. Er wusste, es war zwecklos, Melchior zu erklären, was vorgefallen war.

      Hoffentlich sind die Gefäße heil geblieben, dachte er, als er den Lederbeutel aufhob und sich davonmachte.

      Gesenkten Hauptes betrat Simon die Lilien-Apotheke. Zuvor hatte er einen Blick in den Beutel geworfen und erleichtert festgestellt, dass nichts zu Bruch gegangen war.

      »Wo hast du so lange gesteckt?«, wollte Sterzing wissen, als Simon die irdenen Töpfe auspackte.

      »Ich habe meine Schwester getroffen, verzeiht, Herr«, murmelte er.

      »Sieh mich an, wenn du mit mir sprichst«, mahnte der Apotheker. »Geht es ihr gut?«

      Seufzend hob Simon den Kopf, doch bevor er eine Antwort geben konnte, sog Konrad scharf die Luft ein. »Du hast dich geprügelt. Warum und mit wem?«

      Simon schluckte. »Mit Wulf Bernbeck. Er hat meine Schwester allein zum Markt geschickt. Sie ist erst neun! Nur weil er zu faul ist, selbst zu gehen!«

      Konrad rieb sich müde über die Augen. »Wir reden später darüber, Simon. Es gibt noch jede Menge zu tun. Ich treffe mich noch mit einem Kaufmann, und solange ich weg bin, wirst du die Elixiere und das Aqua vitae abfüllen und danach die Gerätschaften im Laboratorium säubern.«

      Nach dem Abendbrot rief Sterzing Simon zu sich in die Stube. Verzagt setzte sich der Junge auf einen Stuhl, rutschte unruhig darauf hin und her.

      »Es ist besser, du verlässt die Stadt«, eröffnete ihm der Apotheker. »Es wird immer wieder zum Streit zwischen dir und Wulf kommen.«

      Simon schien wie vom Donner gerührt, vermochte nichts darauf zu sagen.

      »Du wirst mit einer Gruppe von Kaufleuten nach Venedig reisen. Dort lebt ein Vetter meiner Frau. Francesco Tardelli ist Bäcker. Teresa wird dir einen Brief mitgeben, in welchem sie ihn bittet, dich aufzunehmen.«

      »Venedig?«

      »Es wird dir gefallen, vertrau mir. Dort ist es warm und fast immerzu scheint die Sonne, und du wirst den salzigen Geruch des Meeres riechen können«, geriet der Apotheker ins Schwärmen.

      »Aber, meine Schwester …«, wandte Simon ein.

      »Sie ist bei Bernbeck gut aufgehoben.«

      »Meine Mutter und mein Vater sind hier begraben, ich will nicht von hier fort.« Fest presste Simon die Lippen aufeinander.

      Konrad ging nicht darauf ein. »Der Kaufmann Philipp Hansen wird dich mitnehmen, ich kenne ihn gut. Du kümmerst dich um das Pferd, hilfst ihm, den Wagen zu beladen, und passt auf die Waren auf. Dafür bekommst du zu essen und vielleicht auch ein paar Pfennige.«

      »Und wenn ich mich weigere?«, traute sich Simon zu fragen.

      Sterzing seufzte. »Hör mir gut zu, Simon. Du kannst dich weigern, aber ich werde dich nicht länger unter meinem Dach wohnen und arbeiten lassen. Was dann mit dir geschieht, liegt in deiner und Gottes Hand. Wovon willst du leben, wo wirst du schlafen? Du bist klug und lernst schnell, wie du in den letzten Wochen bewiesen hast. Aber du bist auch ein Hitzkopf, deswegen habe ich diese Entscheidung getroffen. Die Möglichkeit, ein Stück mehr von der Welt zu sehen und viel Neues zu lernen, wird dich reifen lassen wie einen guten Apfel. Denk darüber nach.«

      Wie betäubt ging Simon in seine Kammer, setzte sich auf das Bett und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Venedig? Wo sollte das sein? Es hörte sich an wie das Ende der Welt. Tränen schossen ihm in die Augen, und er begann, jämmerlich zu schluchzen. Alles stürzte auf ihn ein. Der Tod seines Vaters, den er immer noch nicht verwunden hatte. Er vermisste seine Mutter, der er zuletzt garstige Worte an den Kopf geworfen hatte. Die Möglichkeit, sie dafür um Verzeihung zu bitten, hatte er vertan. Was sollte aus ihm werden? Warum hatte er nicht, wie viele andere Lehrjungen, einfach stillschweigend die Ungerechtigkeiten hingenommen und gebetet, die Lehrzeit möge schnell vorbei sein? Warum hatte er sich immer wieder aufs Neue von Wulf reizen lassen? Sterzing hatte recht: Er war ein Hitzkopf.

      Eine Hand legte sich sachte auf seine Schulter.

      »Warum weinst du so bitterlich?«, fragte eine zarte Stimme.

      Peinlich berührt sah er mit geröteten Augen auf. Julia stand vor ihm, die Stirn sorgenvoll gefurcht. Er hatte ihr Hereinkommen nicht bemerkt, so versunken war er in seinem Seelenschmerz. Mit dem Ärmel wischte er über sein Gesicht, zog geräuschvoll die Nase hoch.

      »Es ist nichts.«

      Julia hob vielsagend die dunklen Augenbrauen, setzte