Der Pfeiler der Gerechtigkeit. Johanna von Wild

Читать онлайн.
Название Der Pfeiler der Gerechtigkeit
Автор произведения Johanna von Wild
Жанр Исторические детективы
Серия
Издательство Исторические детективы
Год выпуска 0
isbn 9783839268988



Скачать книгу

wegen ›nichts‹ bist du so traurig?«, ein winziges erheitertes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel.

      Unwillkürlich verzogen sich Simons Lippen zu einem zaghaften Grinsen.

      »Dein Vater schickt mich fort, Julia, und ich habe Angst davor.«

      »Ich weiß, Simon«, antwortete sie traurig. »Er hat vorhin mit uns darüber gesprochen. Meine Mutter war dagegen, aber er wollte nichts hören.«

      Er entzog ihr seine Hand. »Du solltest nicht hier sein. Wenn dein Vater dich sucht und hier findet, wird er mich noch heute auf die Straße werfen.«

      »Nein, das wird er nicht. Vater hat mir erlaubt, zu dir zu kommen, weil er dir vertraut, dass du nicht …« Julia stockte.

      »Was?«

      »Etwas Unanständiges versuchst.« Flüsternd beendete sie den Satz. Dann räusperte sie sich.

      »In fünf Tagen brechen die Kaufleute auf, soll ich dir sagen.«

      »Julia, was soll ich tun? Ich will nicht von hier weg, aber wenn ich bleibe, weiß ich nicht, wie es weitergehen soll.«

      Wieder nahm sie seine Hand. »Du musst dich entscheiden, Simon. Ich will auch nicht, dass du fortgehst.« Plötzlich beugte sie sich vor, nahm sein Gesicht in beide Hände und drückte einen Kuss auf Simons Lippen. Mit hochrotem Gesicht stand sie auf, fuhr sich mit beiden Händen durch die schwarze Lockenpracht. »Wenn du gehst, werde ich warten, bis du zurückkommst.« Mit diesen Worten eilte sie aus der Kammer.

      Verblüfft starrte Simon ihr hinterher, spürte dem süßen Geschmack ihrer Lippen auf den seinen nach. Ein eigenartiges Ziehen machte sich in seinen Lenden breit, ein neues und aufregendes Gefühl, das ein breites Grinsen auf sein Gesicht zauberte. Sterzings Vertrauen in ihn war gerechtfertigt, niemals hätte er gewagt, Julia zu küssen. Doch wüsste der Apotheker, was seine Tochter soeben getan hatte, würde er sie wahrscheinlich einsperren und den Schlüssel in die Fluten des Mains werfen.

      In den folgenden Tagen nutzte Julia jede Gelegenheit, um zu ihm zu kommen, wann immer ihr Vater außer Haus war. Ein verstohlener Kuss zwischen Kräutertöpfen und Flaschen mit Elixieren, ein weiterer im kühlen Keller, wo die Salben und Öle aufbewahrt wurden, damit sie nicht so schnell ranzig wurden. Das Verlangen nach mehr war immer stärker geworden, und ihrer beiden Hände hatten sich gegenseitig durch die Kleidung erforscht. Gestern Nacht hatte sich Julia auf Zehenspitzen in Simons Kammer gestohlen, ihr Kleid aufgeschnürt und sein Gesicht an ihre zarte nackte Brust gedrückt. Simon hatte alle Mühe gehabt, nicht ihre Röcke anzuheben und seinen Gefühlen nachzugeben.

      Schwer atmend hatte er sich von ihr gelöst, sie gebeten, ihre Blöße zu bedecken.

      »Julia, bitte geh, bevor ich die Beherrschung verliere und uns dein Vater noch erwischt.«

      Seufzend hatte sie nachgegeben, ihn lange geküsst und war ohne ein weiteres Wort gegangen.

      Die Augustsonne brannte auf Simon herab, der mit geschnürtem Bündel vor der Lilien-Apotheke stand und sich verabschiedete. Konrad hatte ihm bereits in der Offizin Lebewohl gesagt und ihm aufmunternd auf die Schulter geklopft.

      Teresa Sterzing drückte ihn kurz an ihre Brust. »Leb wohl, Simon, gib auf dich acht. Hast du den Brief für meinen Vetter wohl verstaut?«

      »Sicher verwahrt in einer Lederhülse, damit ihm nichts geschieht«, antwortete Simon. »Habt Dank für alles, was Ihr für mich getan habt.«

      Damit wandte er sich Julia zu, die ihm ihre Rechte entgegenhielt. Ihre langen schlanken Finger verschwanden beinahe in seiner großen Hand. Tränen schimmerten in den dunklen Augen, eine Einzelne löste sich wie eine Perle von ihren langen Wimpern und rann ihre Wange hinunter.

      »Bleib nicht zu lange, Julia«, mahnte Teresa und ging hinein. Ihr war wohl bewusst, wie es um die beiden stand, und sie wollte ihnen einen kurzen Augenblick der Zweisamkeit gönnen.

      »Ich komme wieder, Julia, versprochen«, sagte Simon.

      »Jeden Tag werde ich an dich denken, vergiss mich nicht.« Eine weitere Träne machte sich auf den Weg.

      »Niemals. Wie könnte ich das schönste Mädchen in ganz Franken, nein, im ganzen Reich vergessen?«

      Zumindest entlockte er ihr damit ein Lächeln. Am liebsten hätte er sie hier auf der Straße vor aller Augen in die Arme geschlossen, doch allein darüber nachzudenken, verbot sich.

      »Du weißt doch gar nicht, wie viele schöne Mädchen dir begegnen werden, die alle hübscher sind als ich«, entgegnete Julia.

      »Keine. Denn ich werde sie gar nicht bemerken, weil ich immerzu dein Gesicht sehen werde.« Er schluckte. »Es wird Zeit für mich. Leb wohl.«

      Widerstrebend ließ sie ihn gehen. Simon stapfte los, den Blick fest geradeaus geheftet, die Kiefer zusammengepresst, um nicht loszuheulen wie ein Kind.

      1575

      Würzburg

      Die Sonne strahlte von einem hellblauen Maihimmel, als ob der Herr selbst sich daran erfreute, dass Fürstbischof Julius Echter von Mespelbrunn zum Bischof geweiht wurde. Nur zwei Wochen zuvor war endlich die Bestätigung des Kaisers erfolgt. Auch hatte Julius bei Maximilian und Papst Gregor um die erforderlichen Rechte zur Neugründung der Universität gebeten. Sehr zum Missfallen des Domkapitels. Die Domherren schätzten es nicht, wenn sie übergangen wurden, zumal wenn es sich um solch kostspielige Unterfangen handelte. Neidhart von Thüngen, der ihm noch zugestimmt und ihm Unterstützung zugesagt hatte, war ihm in den Rücken gefallen und hatte sich auf die Seite des Domkapitels gestellt.

      Im ganzen Fürstbistum sollte die Bischofsweihe gefeiert werden. Läden, Handwerkstätten und Schulen hatten geschlossen, Bauern ihre Arbeiten niedergelegt, und jeder war in seine beste Kluft gestiegen. Die Luft duftete nach den Blüten der Obstbäume, Bienen und Hummeln brummten, bunte Schmetterlinge taumelten nektartrunken vom weißen Wiesenschaumkraut zu den roten Blüten des Mohns und hinüber zu den zartvioletten Kissen der Witwenblumen.

      Drei Tage zuvor hatte sich Echter zurückgezogen und viele Stunden in Buße verbracht. Nur in ein härenes Hemd gehüllt, war er bäuchlings auf dem kalten Steinfußboden der Kapelle gelegen, die Arme zur Seite ausgebreitet. Keinen Bissen und keinen Tropfen hatte er zu sich genommen. Fasten war für Julius noch nie eine wirkliche Buße gewesen. Den Tag darauf war er zum Priester geweiht worden.

      Jetzt lag seine linke Hand auf der Bibel und Julius schwor den Gehorsamseid gegenüber dem Papst.

      »Ich glaube an den einen Gott, den Vater, den Allmächtigen, der alles geschaffen hat, Himmel und Erde, und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn …«

      Mit einem inbrünstigen »Amen« beendete er schließlich das Glaubensbekenntnis. Die Mitra wurde ihm aufs Haupt gedrückt, er erhielt einen reich verzierten Krummstab, den goldenen Bischofsring und ein mit Juwelen besetztes Kreuz um den Hals. Julius Echter fühlte sich, als ob die erhaltenen Weihen ihn Gott noch näher als bisher gebracht hätten. Der Chor sandte seine Klänge durch die Marienkirche, Weihrauch erfüllte die Luft, und der frisch geweihte Bischof zelebrierte die Heilige Messe. Am Ende wurde gemeinsam das Te Deum gesungen, und Julius Echter verließ als Erster das Gotteshaus, gefolgt von den Würdenträgern.

      Draußen wurden Pferde bereitgehalten, um den Marienberg hinunter in die Stadt zu reiten. Julius legte den mit Goldfäden gewirkten Chormantel und die reich bestickte Kasel – das ärmellose Messgewand – ab. Beides verstaute Johann Voit von Rieneck zusammen mit der Mitra und den Insignien sorgsam in einer Truhe, die auf eine Kutsche geladen wurde. Julius Echter lenkte seinen Schimmel den Berg hinab, über die Mainbrücke bis zum Dom, wo er aus dem Sattel stieg und das Ehrfurcht gebietende Gotteshaus betrat. In der Krypta schritt er zu Bischof Brunos Grab, neben welchem sich der Veitsbrunnen befand. Dem Wasser des Brunnens wurden Heilkräfte zugeschrieben, ebenso wie dem Luciabrunnen, dessen Platz unter der Vierung lag. Bruno hatte den Dombau vor mehr als fünfhundert Jahren in Auftrag gegeben, und der Tag, an dem die Krypta geweiht worden war, war gleichzeitig der Tag seiner Grablege.

      Voit von Rieneck