Ein Leben mit Freunden. Cornelia Weidner

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Название Ein Leben mit Freunden
Автор произведения Cornelia Weidner
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783866749061



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verstärkte sich noch in den Jahren, da Morgenstern als Gymnasiast in Tarnopol lebte, wo er zunächst vorwiegend Gastspiele des jiddischen Theaters aus Lemberg besuchte. Später, »mit wachsender Leidenschaft für die Bühne«37, wie er es in den Erinnerungen bezeichnet, sah er auch Stücke polnischer und ukrainischer Wandertruppen. In seinen Erinnerungen widmet er allein vier Kapitel den Theatererlebnissen seiner Jugend, ein Zeichen dafür, wie nachhaltig ihn diese beeindruckt und geprägt haben. Resümierend heißt es dort: »Alle diese Theatererlebnisse meiner Jugendzeit habe ich in dankbarer Erinnerung. Sogar die, die ich in späteren Jahren im Wachsen der Erfahrungen und Reifen des Geschmacks als ›Schmieren‹ belächeln mußte, möchte ich nicht vermißt haben. Es waren meine Theaterlehrjahre.«38

      Angesichts dieses früh geweckten Interesses für die Bühne verwundert es nicht, daß es sich bei Morgensterns literarischen Erstlingen um Dramen handelt. Sein erstes Stück, das ›Spiel in 4 Akten‹ ER oder ER, entstand in den Jahren 1921/22. Das Stück spielt vorwiegend in der Traumwelt der weiblichen Hauptfigur Elva Blinde, einer kunstliebenden Frau, wie das Personenverzeichnis Aufschluß gibt. Die von ihrem Leben an der Seite ihres Mannes, des Psychoanalytikers Dr. Richard Blinde, gelangweilte Elva träumt sich während ihrer Nachmittagsruhe in eine opernhafte Welt hinein. Dort erscheinen ihr die vom Tod für kurze Zeit auferstandenen Gestalten der Kunstfiguren Don Juan Tenorio, bekannt aus Tirso de Molinas Schauspiel Der Wüstling und Wolfgang Amadeus Mozarts Oper Don Giovanni, und der historische Giacomo Girolamo Casanova, Chevalier de Seingalt. Im Traum wetteifern die legendären Frauenhelden um die Gunst der Schlafenden: der kalt berechnende Don Juan, ein »Feldwebel der Liebe«, wie Casanova ihn im Stück abschätzig bezeichnet39, »liebesleer, doch voller Gier«, für den nur der schnelle Erfolg zählt, um die Liste der von ihm verführten Frauen um eine weitere Trophäe erweitern zu können, und der stolz von sich behauptet, keine der unzähligen Frauen je geliebt zu haben – »ich habe immer mit kalter Nadel gearbeitet«40 – und der heißblütige Casanova, »Ritter der Sehnsucht«, von nie gestillter Sehnsucht getrieben und jede einzelne seiner zahllosen Frauen inbrünstig liebend. Sie stellen Elva vor die Wahl: ER oder ER. Diese entscheidet sich für die moderne Form der Liebe: Er UND Er – denn als praktisch denkende Frau weiß sie: »Lieber zwei als keiner.«41

      In der Gestalt des Ehegatten, des Psychoanalytikers Dr. Blinde, der Elvas Traum sofort fachmännisch als »erotische Traumarbeit« deutet, flicht Morgenstern einen parodistischen Seitenhieb auf die Psychoanalyse Sigmund Freuds ein, die zu jener Zeit immer größere Bekanntheit erlangte. Morgenstern stand Freud und dessen Lehre nicht so bedingungslos ablehnend gegenüber wie sein Freund Joseph Roth. Aus seinen Lebenserinnerungen geht allerdings auch hervor, daß er kein großer Verfechter oder gar Anhänger dieser neuen Wissenschaft war.

      Morgensterns zweiter Bühnentext, das dreiaktige Drama Im Dunstkreis, spielt in den Wiener Künstlerkreisen zwischen den Weltkriegen. Nach eigenen Angaben hatte Morgenstern das Stück im Jahr 1924 beendet.42 In den Erinnerungen an Alban Berg findet sich auch der Hinweis, daß er sein zweites Stück ursprünglich Im Kunstkreis hatte nennen wollen. Den endgültigen Titel erhielt es erst später. Alban Berg war im übrigen so angetan von dem neuen Drama des Freundes, daß er es sogleich vertonen wollte. Dazu ist es jedoch nie gekommen, da Morgenstern mit dem Stück noch nicht vollends zufrieden war, so daß er dem Freund diese Idee ausredete. Zudem befürchtete er, als Librettist abgestempelt zu werden und infolge dessen nur noch als solcher arbeiten zu können.

      Der ›Dunstkreis‹, den Morgenstern in seinem Drama beschreibt, ist das Milieu, in dem er sich zu jener Zeit selbst bewegte. Er läßt den ersten Akt des Stücks in einem Wiener Kaffeehaus spielen, einem »Künstlercafé«, so Morgensterns Regieanweisung. Mit scharfem, sarkastischem Blick zeichnet er die künstlerische Gesellschaft seiner Umgebung nach – mit all ihren moralischen und geistigen Abgründen. Der ›Glossentisch‹ repräsentiert die oberflächliche und klatschsüchtige Wiener Kaffeehausgesellschaft. Auch auf seine eigene Zunft, die der Feuilletonisten und Kritiker, wirft er einen äußerst kritischen Blick. Nicht von ungefähr heißt der im Stück vorkommende Literatur- und Theaterkritiker Willy Besser, der zudem noch die Meinung vertritt: »Ein richtiger Kritiker muß sich vor Objektivität hüten.«43 Womöglich schlägt sich bereits hier jene Unzufriedenheit mit der eigenen Tätigkeit als Journalist nieder, die wenige Jahre später zur endgültigen Abkehr von diesem Metier führen sollte. Die bitterböse Satire auf das Milieu, in dem Morgenstern sich selbst bewegte, endet tragisch mit dem Selbstmord des jungen Schriftstellers Hans Einhold, der zum Opfer der ehrgeizigen und karrieresüchtigen Bestrebungen seines älteren Liebhabers und Mentors, des bereits etablierten Schriftstellers Franz Gavor, wird. »In diesem Drama handelt es sich hauptsächlich um die Beziehung zwischen Meister und Schüler, die ein fatales Ende für den Schüler nimmt«, formuliert Morgenstern in Alban Berg und seine Idole den Plot des Dramas.44 Auch die immer stärker werdende antisemitische Stimmung dieser Zeit greift Morgenstern in seinem Stück auf. Nicht Franz Gavor wird für Einholds Tod zur Rechenschaft gezogen, sondern der Außenseiter der Gesellschaft, der Jude Gad Jahir, der nach einem der zwölf Stämme Israels benannt wurde.

      Im Herbst 1926 folgte Morgenstern Joseph Roth nach Berlin, der bereits im Jahr 1920 in die Theater- und Zeitungsstadt übergesiedelt war. Morgenstern hoffte, hier bessere Möglichkeiten vorzufinden, um sich seinen Lebensunterhalt als freier Literatur- und Theaterkritiker zu verdienen. Er war zunächst als Buchkritiker für die Zeitschrift Die Literatur und für die Vossische Zeitung tätig. 1927 bekam er eine Stelle in der Kulturredaktion der renommierten Frankfurter Zeitung, für die Joseph Roth bereits seit 1923 als Feuilletonist beschäftigt war. Morgenstern siedelte zunächst nach Frankfurt über, bevor er Mitte 1928 als Kulturkorrespondent der Frankfurter Zeitung nach Wien zurückkehrte. Dort erhielt er endlich die österreichische Staatsbürgerschaft, die ihm vor seinem Berlin-Aufenthalt noch verwehrt worden war. Wie Joseph Roth lebte Morgenstern in den Jahren 1919/1920 in Wien im VIII. Bezirk. Die christlichsoziale Mehrheit in diesem Bezirk hatte beider Option auf das neue Österreich zurückgewiesen, so daß sie als Kriegsflüchtlinge bis zu diesem Zeitpunkt noch im Besitz polnischer Pässe waren.

      Im September 1928 heiratete Morgenstern Ingeborg von Klenau, die Tochter des dänischen Dirigenten und Komponisten Paul von Klenau und Nichte Heinrich Simons, des Herausgebers der Frankfurter Zeitung. Beide hatten sich im Jahr 1924 im Hause Alban Bergs kennengelernt. »Mit meinem zukünftigen Schwiegervater habe ich gleich bei dieser ersten Begegnung eine scharfe Debatte über Literatur geführt – ich glaube, über Oscar Wilde. Papa Klenau war damals schon von seiner ersten Frau geschieden, und zum Beginn unserer Bekanntschaft hat er ein Jahr lang es gern gesehen, daß ich mit seiner ältesten Tochter in Verbindung blieb.«45 Knapp ein Jahr später, im Oktober 1929, kam beider Sohn Dan Michael zur Welt. Es sollte Morgensterns einziges Kind bleiben.

      In Wien pflegten die Morgensterns einen ausgedehnten Freundeskreis, der sich in erster Linie aus den namhaften Wiener Künstlerkreisen der zwanziger Jahre rekrutierte. Zu Morgensterns engsten Freunden dieser Jahre gehörten neben Alban Berg und Joseph Roth die Komponisten Karol Rathaus, Eduard Steuermann und Hanns Eisler, der Rezitator Ludwig Hardt sowie der Schriftsteller Robert Musil. Daneben war er mit dem Schönberg-Schüler Anton Webern, den Dirigenten Otto Klemperer und Jascha Horenstein, dem Wiener Architekten Josef Frank und dem aus Melník bei Prag stammenden Journalisten Karl Tschuppik bekannt. Zudem verkehrten die Morgensterns häufig bei Anna Mahler, der Tochter Gustav Mahlers, deren Wohnatelier ebenfalls ein Treffpunkt für zahlreiche Wiener Künstler war.

      Auch wenn dies nur ein kurzer Einblick in den Freundes- und Bekanntenkreis ist, den Morgenstern während seiner Wiener Jahre pflegte, so ist er dennoch repräsentativ und ein Zeichen für Morgensterns reges Interesse am kulturellen Leben seiner Zeit. Er zeigt zudem, daß sich der Freundeskreis aus den unterschiedlichsten, zumeist künstlerischen Kreisen zusammensetzte. Auf der Liste der eben genannten Namen, die keineswegs Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, finden sich neben Journalisten und Schriftstellern auch Komponisten, Dirigenten und bildende Künstler. Dementsprechend breitgefächert war auch Morgensterns Einblick in die künstlerischen und intellektuellen Strömungen seiner Zeit.

      Anfang der dreißiger Jahre ließ Morgensterns journalistisches Interesse zunehmend nach. In Joseph Roths