Ein Leben mit Freunden. Cornelia Weidner

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Название Ein Leben mit Freunden
Автор произведения Cornelia Weidner
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783866749061



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haben, jedoch nur eines, eben die Kindheitserinnerungen, deutliche Züge einer Autobiographie trägt.

      An dieser Stelle sei noch auf eine Problematik hingewiesen, die sich grundsätzlich bei der Beschäftigung mit autobiographischen Texten ergibt – die Frage nach der Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit der Darstellungen. Autobiographisches Schreiben impliziert eine Grundspannung zwischen dem Anspruch des Autobiographen, eine historische Realität wiederzugeben, und seiner subjektiven Autorposition. Diese steht zuweilen einer dokumentarischen und objektiven Schilderung entgegen. Morgenstern war sich offensichtlich dieser Problematik bewußt. So schreibt er in einem Manuskriptentwurf zu Alban Berg und seine Idole: »Damals war ich schon alt, meine besten Freunde waren tot. Sie vertrugen bereits die ganze Wahrheit. Dennoch beschloß ich eine Autobiographie zu schreiben die erst nach meinem Tode veröffentlicht werden sollte. Da stand der ganzen Wahrheit noch ein Freund entgegen: ich. Erst als ich beschloß, von mir selber so rückhaltlos zu schreiben als bestünde keine Wahrscheinlichkeit, mir selbst auf einem anderen Planeten zu begegnen, floß mir die Wahrheit so ungehemmt aus der Feder […].«18

      Nach außen hin vertritt Morgenstern den Anspruch, nach bestem Wissen und Gewissen zu schreiben und die Dinge wahrheitsgemäß darzustellen. Inwieweit ihm das wirklich gelingt, wo ihn das Unterbewußtsein, das Gedächtnis oder auch die konkrete Absicht dazu verleiteten, Sachverhalte und Ereignisse beschönigend darzustellen, zu seinen Gunsten auszulegen oder ganz zu verschweigen, kann nicht mehr nachvollzogen werden. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß mit der Stilisierung der Freundschaft auch eine Vernachlässigung anderer Lebensbereiche einhergeht. Es ist überdies ein bekanntes Phänomen, daß der Mensch dazu neigt, im Rückblick Dinge zu verklären und vor allem positive Erlebnisse im Gedächtnis zu behalten, wohingegen die negativen verdrängt werden. Darüber hinaus besteht häufig eine Diskrepanz zwischen dem Selbstbild, das ein jeder – auch der Autor einer Autobiographie – von sich hat, und dem Bild, das die Umwelt von dieser Person entwickelt. Jeder autobiographische Text muß vor dem Hintergrund dieser grundlegenden Problematik gelesen werden.

      Im Falle der Morgensternschen Erinnerungen wird die Sachlage noch durch den Umstand erschwert, daß es kaum verläßliche Quellen gibt, anhand derer sich seine Schilderungen überprüfen ließen. Der informative und dokumentarische Gehalt ist seinen ›autobiographischen Schriften‹ bei allen Vorbehalten jedoch nicht abzusprechen und soll im Zuge dieser Arbeit aufgezeigt werden. Als ein Zeitzeuge der ›Wiener Moderne‹, der in den intellektuellen Kreisen verkehrte und mit zahlreichen prominenten Zeitgenossen aus Literatur, Musik, Architektur und bildender Kunst befreundet war, sind seine Erinnerungen ein unschätzbares Dokument ihrer Zeit.

      Zum Abschluß dieses Einleitungskapitels sei kurz die weitere Vorgehensweise erläutert. Morgensterns vergleichsweise geringe Bekanntheit erfordert es, den Lebensweg des Autors nachzuzeichnen und sein schriftstellerisches Gesamtwerk dem Leser vorzustellen. Dies wird in Kapitel 2 geschehen. Das dritte Kapitel versucht, den literaturgeschichtlichen Hintergrund – den Bereich der sogenannten Exilliteratur – und insbesondere das Genre der Exil-Autobiographie in großen Zügen zu umreißen. Es kann sich hierbei nur um eine erste Annäherung an den Themenkomplex handeln, da das Gebiet der Exilliteratur Gegenstand eines eigenständigen Forschungsbereichs innerhalb der Literaturwissenschaft darstellt und eine auch nur annähernd erschöpfende Darstellung desselben im Rahmen dieser Untersuchung nicht möglich wäre.

      Das vierte Kapitel bildet das Zentrum der Arbeit und nimmt dementsprechend den größten Raum innerhalb der Untersuchung ein. Es werden zunächst Kriterien zur Klassifizierung von Morgensterns ›autobiographischen Schriften‹ und eine Typologie derselben entwickelt, bevor die vier Werke vor dem Hintergrund dieser Einteilung und in Hinblick auf die unterschiedlichen autobiographischen Verfahren im einzelnen vorgestellt und ihre besonderen stilistischen und formalen Merkmale erörtert werden.

       2. »Ein geistvoller und dem Geiste dienender neuer Dichter«19 – Leben und Werk Soma Morgensterns

      2.1 »Ein Intellektueller und Kosmopolit«20 – Wer war Soma Morgenstern?

      Salomo Morgenstern wurde am 3. Mai 1890 als jüngstes von insgesamt fünf Kindern des Gutsverwalters Abraham Morgenstern und dessen Frau Sara in einem Dorf der ostgalizischen Gemeinde Budzanów geboren. Das Dorf lag etwa fünfzig Kilometer südlich der Stadt Tarnopol am Fluß Sereth im österreich-ungarisch-russischen Grenzgebiet. Galizien gehörte seit der ersten polnischen Teilung von 1772 als Kronland zur österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie. Nach der Einnahme Lembergs durch die polnische Armee im Jahr 1918 wurde dieses Gebiet zunächst Teil des unabhängigen Polen. Heute ist nur noch der westliche Teil Galiziens polnisch. Morgensterns Heimat, das frühere Ostgalizien, fiel nach dem Zweiten Weltkrieg an die UdSSR und gehört heute zur Ukraine. Die im Anhang befindlichen Karten 1 und 2 zeigen die Situation im südöstlichen Europa um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert und die Lage der heutigen Ukraine. Sie sollen dem Leser das Gebiet, in dem Morgenstern seine Kindheit und Jugend verbracht hat, anschaulich machen.21

      Morgensterns Vater, ein streng gläubiger und gelehrter Chassid, ließ seine Kinder nach den Lehren der jüdisch-orthodoxen Tradition erziehen. Ab seinem dritten Lebensjahr wurde Salomo durch einen jüdischen Hauslehrer unterrichtet, danach im Cheder.22 Der junge Salomo wuchs mehrsprachig auf. In der Familie wurde Jiddisch gesprochen. Die vorherrschenden Umgangssprachen in Ostgalizien waren Polnisch und Ukrainisch. Da Salomo von einer ukrainischen Amme großgezogen wurde, war die erste Sprache, die der Knabe sprechen lernte, Ukrainisch, so daß er zeit seines Lebens einen leichten ukrainischen Akzent behielt, gleich welche Sprache er auch erlernte. In seinen Kindheitserinnerungen, die 1995 unter dem Titel In einer anderen Zeit erschienen, beschreibt Morgenstern die Vorteile und Nachteile, die ihm diese Erziehung bereitete: »Ich habe früher vom Nachteil und vom Vorteil dieses Familienzuwachses gesprochen. Der Nachteil war, daß die erste Sprache, die ich gelernt habe, nicht meine Muttersprache, sondern die Sprache meiner Amme war, nämlich Ukrainisch. Mit dem Erfolg, daß ich sämtliche Sprachen, die ich später gelernt habe – und es sind nicht wenige –, mit einem ukrainischen Akzent sprach. Jiddisch lernte ich schon als zweite Sprache teils von meiner Mutter, teils von meiner Schwester, die die Älteste in der Familie war, um zehn Jahre älter als ich.«23 Da der Vater eine besondere Vorliebe für die deutsche Sprache hegte, ließ er seine fünf Kinder bereits vor der Schulzeit im Hausunterricht auch in Deutsch unterweisen. Daneben lernte Salomo bereits ab seinem dritten Lebensjahr die Bibelsprache Althebräisch, ein obligatorischer Bestandteil einer jeden jüdischen Erziehung. Später sollten noch Griechisch, Latein, Französisch und Englisch hinzukommen.

      Gegen den erbitterten Widerstand des Vaters, der den Richtlinien der jüdisch-orthodoxen Erziehung folgend den Besuch einer weltlichen Schule ablehnte, setzte Morgenstern seinen innigsten Wunsch durch und besuchte von 1904 bis 1912 das Gymnasium in Tarnopol. Der Vater hatte sein Einverständnis zum säkularen Bildungsweg des Sohnes allerdings nur unter der Bedingung gegeben, daß dieser auch weiterhin vor der Schule am morgendlichen Gebet in einem Bethaus teilnehme und nach Abschluß des Gymnasiums Jura studieren und Richter werden würde.

      Im Jahr 1908 starb Abraham Morgenstern an den Folgen eines Schlaganfalls. Der frühe und unerwartete Tod des Vaters, dem Morgenstern besondere Liebe und Verehrung entgegengebracht hatte, traf den achtzehnjährigen Salomo schwer. Zudem befand sich der junge Gymnasiast zu jener Zeit in einer Phase der Orientierungslosigkeit. Die Lektüre von Ludwig Büchners Buch Kraft und Stoff hatte ihn in eine tiefe Glaubenskrise gestürzt, ihm »zeitweise seinen Glauben genommen.«24 Die Bekanntschaft mit dem Atheismus ließ ihn an seinem Glauben zweifeln. Er vernachlässigte die morgendlichen und abendlichen Gebete. Auf der anderen Seite wirkte in ihm immer noch die tiefreligiöse Atmosphäre seines Elternhauses nach. Morgenstern selbst bezeichnet die Wirkung, die die Lektüre dieses Buches auf ihn ausübte, als »traumatisch«.25 Der Tod des Vaters verschärfte den Gewissenskonflikt des jungen Gymnasiasten noch zusätzlich. Als gläubiger Jude hätte er nach dem Vater Kaddisch, das jüdische Totengebet, sagen müssen. Da er sich selbst nicht mehr als Gläubiger empfand, wäre das Beten dem Aufsagen einer leeren Formel gleichgekommen. So suchte er in den ersten Jahren einen Mittelweg zwischen