Ich glaube an die Tat. Hatune Dogan

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Название Ich glaube an die Tat
Автор произведения Hatune Dogan
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783765573422



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der ärmsten Länder der Erde. Über 300 Millionen Menschen leben hier in absoluter Armut, das sind 25 Prozent der Gesamtbevölkerung und gut ein Drittel der weltweit Armen insgesamt.

      Ich stornierte den Rückflug, kündigte meinen Job und bevollmächtigte meine Schwester, mein ganzes Erspartes nach Indien zu transferieren. Von dem Geld kaufte ich Schuhe für die Familien hinter dem Institut. Für alle 84 Menschen. Nie werde ich vergessen, wie mich die Beschenkten anstarrten, als sie die Schuhe in Händen hielten. Erst wussten sie gar nicht, was sie damit anfangen sollten. Ich musste ihnen vormachen, wie man sich Schuhe anzieht. Ich musste ihnen zeigen, dass sie an die Füße gehören und nicht etwa unter die Achseln, wo sie sich viele mittels der Schnürsenkel hinplatziert hatten.

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      Mit dieser Schuh-Aktion begann 1999 meine karitative Arbeit in Indien. In den folgenden Monaten baute ich vor Ort ein Team aus Helfern auf und sammelte Spenden. Von dem Geld ließ ich Häuser, Brunnen, Schulen bauen und versorgte all jene mit Lebensmitteln, denen es aus gesundheitlichen oder altersbedingten Gründen nicht möglich war, für sich selbst zu sorgen.

      Was damals klein begann, ist bis heute zu einer internationalen Organisation herangewachsen, die Sektionen in Europa, dem Mittleren Osten, Asien und den USA unterhält. Seit 2005 ist die Stiftung Schwester Hatune – Helfende Hände für die Armen in Deutschland und Indien registriert und international anerkannt. Die indische Regierung hat sie im selben Jahr ausgezeichnet als diejenige Stiftung, die die Lebensverhältnisse der Armen am besten kennt und deren Hilfe wirklich effektiv ist.

      Im Jahr finanzieren wir den Bau von 500 Häusern und ebenso vielen Brunnen. 2000 Familien werden monatlich mit Nahrungsmittelsäcken versorgt. 300 Waisenkinder erhalten Unterkunft und Nahrung, 1300 Schülerinnen eine Schulbildung. Und wir sind in vielen weiteren Bereichen tätig, von denen dieses Buch berichtet.

      Der Schlüssel zum Erfolg der Sister Hatune Foundation, wie die Stiftung auf Englisch heißt: Die Spender wissen, dass ihr Geld garantiert bei den Bedürftigen ankommt und nicht in irgendwelchen dunklen Kanälen versickert. Von Anfang an bemühte ich mich, für größtmögliche Transparenz zu sorgen. Die Spender sollen genau erfahren, was mit ihrem Geld passiert. Sie können es sogar selbst bestimmen, wenn sie wollen. Wer zum Beispiel fünf Euro (250 Rupien) überweist, kann damit eine ganze Familie einen Monat lang ernähren. Sechs Euro kostet die Einkleidung eines Kindes mit einer Schuluniform, für 120 Euro kann es ein Jahr lang zur Schule gehen und an der Schulspeisung teilnehmen. Eine Nähmaschine für eine Familie, die sich damit ihren Lebensunterhalt verdienen kann, gibt es für 60 Euro. Einen Leprapatienten kann man mit 50 Euro monatlich unterstützen. Wer mehr spenden möchte, kann sogar ein ganzes Haus oder einen Brunnen finanzieren: 450 Euro kostet die Stiftung ein Haus (der Restbetrag – etwa 1350 Euro – wird durch den Staat, regionale Institutionen und private Gönner finanziert), 500 Euro ein Brunnen. Und die Transparenz ist auch für die Empfänger gegeben: Jedes Haus, jeder Brunnen wird mit dem Namen des Spenders versehen.

      Neben der Versorgung mit dem Nötigsten – einem Dach über dem Kopf, Trinkwasser und Nahrung – liegt mir die Ausbildung der Kinder besonders am Herzen. Sieben Schulen habe ich in Kerala bisher eröffnet. 1300 Mädchen lernen dort – alle aus Familien, die sich die Schuluniform ohne Unterstützung nicht leisten und somit ihre Kinder nicht zur Schule schicken könnten. Hilfe zur Selbsthilfe ist mein Anliegen. Wie ein altes asiatisches Sprichwort schon sagt: Es ist immer besser, den Menschen zu zeigen, wie man den Fisch fängt, als ihnen den Fisch auf den Tisch zu legen.

       Ich gehe meinen Weg

       Frühjahr 2004, Flug Delhi – Frankfurt

      Seit 1999 bin ich in der Regel die Hälfte des Jahres in Indien. Wieder einmal war ich nach einem solchen Indienaufenthalt auf dem Rückflug nach Deutschland. Die Wochen waren so angefüllt mit Begegnungen und Terminen, dass ich noch gar nicht zur Besinnung gekommen war. Aber nun auf dem Rückflug hatte ich Zeit zu verarbeiten, was ich in den letzten Wochen erlebt hatte. Jetzt drängten sich all die Bilder auf einmal vor mein geistiges Auge und wetteiferten um meine Aufmerksamkeit wie eine Gruppe vernachlässigter Kinder um die der Mutter, die sich nach langer Abwesenheit endlich wieder um sie kümmern kann. Und so schenkte ich jedem etwas Zeit. Da waren die Mädchen in der Schule, die ganz vertieft in ihre Schneiderarbeit waren und mich gar nicht bemerkten. Da war die Familie, die stolz ihr neues, kleines Haus bezog, finanziert von den Spendengeldern eines britischen Ehepaars. Dann der leprakranke Mann, der trotz seiner entstellten Glieder und offensichtlichen Schmerzen ein Lächeln auf den Lippen hat.

      Dann stieg das Gesicht von Bobby vor meinem inneren Auge auf. Unwillkürlich musste ich lachen. Mein alter Freund Bobby, der Fabrikbesitzer. Ich war zu ihm gegangen, um ihn um eine Spende zu bitten. Meistens gelingt es mir, in Indien rund 100 000 Euro zu sammeln – etwa die Hälfte dessen, was ich über die Stiftung in der ganzen Welt jährlich für Indien zusammenbekomme. Bobby ist sehr wohlhabend und hat mir bisher immer eine nicht unbeträchtliche Summe für meine Arbeit gegeben. Er schätzt sehr, was ich tue, und sagt mir das auch oft. Dass er mir auch diesmal etwas geben würde, war so sicher wie das Amen in der Kirche. Daher fiel ich ohne Umschweife mit der Tür ins Haus: „Hör zu, Bobby, ich brauche wieder deine Hilfe. Wie viel Geld kannst du mir geben?“

      Unser Verhältnis, so dachte ich, verträgt diesen Ton. Wir kennen uns schließlich schon so lange, dass wir nicht mehr um den heißen Brei herumreden müssen. Bobby fand das offensichtlich auch.

      „Schwester, ich gebe dir kein Geld!“, antwortete er. Ich war wie vor den Kopf gestoßen. Dass man mir Hilfe abschlug, erlebte ich selten. Bisher hatte ich doch nahezu jeden davon überzeugen können, meine Arbeit zu unterstützen. Allein die Ärzte, die ich regelmäßig abklappere und stets mit dem gleichen Spruch dazu bewege, in meinen Siedlungen kostenlose Sprechstunden zu halten. „Ich komme aus Europa, ich will deinem Volk helfen“, sage ich immer, „doch jetzt brauche ich deine Hilfe.“ Keiner, der meinen Wunsch abschlägt. Und schneller, als die Ärzte überhaupt einen Kuli zücken können, habe ich sie schon in die Liste der medizinischen Sprechstunden des nächsten Monats eingetragen. Ich zwinge sie nicht, aber ich gebe ihnen keine Chance, Nein zu sagen.

      Bobby aber hatte mir tatsächlich eine Abfuhr erteilt. Ausgerechnet Bobby! Wie konnte er mir das antun und nicht wenigstens einen kleinen Betrag spenden? Völlig entgeistert starrte ich ihn an. Bobby hielt meinem prüfenden Blick stand. Allerdings nicht lange. Auf einmal verzog sich sein verkniffener Mund zu einem breiten Grinsen und er sagte: „Ich gebe dir wirklich kein Geld! Aber ich gebe 5000 deiner Schüler einen Job in meiner Fabrik!“

      Jetzt war ich wieder baff. Bobby erzählte, dass er eine neue Abteilung eröffnet habe und die Arbeiter dafür sollten ausschließlich von meinen Schulen kommen. Sie würden dort schlafen können und neben einem Lohn auch Essen bekommen, sie wären versorgt. Ich hätte Bobby küssen können, so glücklich war ich über sein Angebot.

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      Es sind Momente wie diese, in denen ich auf meinem Weg bestärkt werde. Die mich erneut davon überzeugen, dass meine Entscheidung, mein Leben ganz dem Dienst an den Armen und der Nachfolge Jesu zu widmen, die einzig Richtige war.

      Und wie hatte ich dafür kämpfen müssen! Was hat es mich an Kraft gekostet, meine Bischöfe zu überzeugen, damit ich das ewige Gelübde noch aufschieben kann. Habe ich es erst einmal abgelegt, ist mein Platz nämlich im Kloster. Dann kann ich mich nicht mehr für die Armen und Kranken dieser Welt einsetzen.

      Hatte ich meine Bischöfe endlich überzeugt, begann das Gerede in meiner Familie. „Was ist mit Hatune?“, werden meine Verwandten zuweilen gefragt. „Warum ist sie keine normale Nonne hinter Klostermauern, sondern reist in der Welt herum und führt so ein wildes Leben? Will sie nicht wirklich Nonne sein oder was ist los?“ Und meine Verwandten geben diese Fragen, wenn auch in leicht gemilderter Form, an mich weiter. „Hast du denn nicht schon genug für die anderen getan, reicht es nicht langsam?“, fragte mich eines Tages eine meiner Schwestern.

      „Ob