Ich glaube an die Tat. Hatune Dogan

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Название Ich glaube an die Tat
Автор произведения Hatune Dogan
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783765573422



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Stimme.

      Besorgt blickte mein Vater mich an: „Was ist geschehen, mein Kind?“

      Es dauerte ein paar Augenblicke, bis ich mich so weit gefangen hatte, dass ich wieder sprechen konnte. Dann erzählte ich ihm, was die Nachbarn gehört hatten und dass sie ihm dringend rieten, nicht mehr ohne Waffe aufs Feld zu gehen.

      „Aber stell dir vor, du bist auf dem Feld und von hinten wird auf dich geschossen, was nutzt dir da deine Waffe?“, fragte ich ihn, „und was wird dann aus uns, wenn du nicht mehr bist? Werden uns die Muslime entführen, vergewaltigen und töten? Und was nutzen uns dann unsere Ländereien, die Tiere, der Weinberg, unsere Häuser? Was nutzt uns unsere Habe, wenn sie dich töten und uns entführen? Ist unser Leben nicht wichtiger?“

      „Bitte, bitte, Papa!“, schluchzten meine Geschwister im Chor.

      Noch am selben Tag begann mein Vater damit, unsere Lämmchen zu verkaufen. Innerhalb einer Woche hatte er das gesamte Vieh zu Bargeld gemacht. Ich erinnere mich noch, wie wir jeden Abend Hunderte von Hühnern einfingen. Das ging nur am Abend, wenn sich die Tiere schon auf die Nachtruhe einstellten und nicht mehr wie am Tage aufgeregt durch die Häuser und über den Hof rannten. Wir verkauften ausschließlich an unsere Nachbarn im Dorf, schließlich musste unsere Flucht geheim bleiben, wir durften kein Aufsehen erregen. Ein Geschäft machten wir nicht mit diesen Notverkäufen, wir bekamen gerade mal ein Viertel des Marktwertes für all unser Vieh. Am Ende blieben nur noch ein Hund, drei Katzen und zwei Esel auf unserem Hof.

      Dann packten wir unter Tränen und in Eile unsere Sachen. Wir nahmen nur das Notwendigste mit und ein paar Lebensmittel. Um den Rest würde sich meine Schwester kümmern, die an der Grenze zum Irak lebte und wenige Wochen später unseren Haushalt endgültig auflösen sollte.

      Für unsere Flucht mieteten wir einen kleinen Omnibus. Schließlich waren wir zu neunt. Es kam noch der Schwiegervater meiner Schwester mit. Der kannte sich in Istanbul gut aus und wollte uns helfen, dort die Pässe, Papiere und Tickets zu besorgen.

      Dann ein letzter Blick auf unser Haus, das gerade erst fertig geworden war. Ein letzter Blick auf die Mor-Dimet-Kirche. Zaz, unser Dorf, meine geliebte Heimat, in der ich unbeschwerte und glückliche Kindheitsjahre verlebt hatte und die mir ins Herz gepflanzt war, wurde immer kleiner, bis es hinter dem Berg nicht mehr zu sehen war. Es war alles so schnell gegangen, dass wir es gar nicht verstanden, nicht denken konnten, keine Tränen hatten.

      Als wir nach drei langen Tagen endlich in Istanbul angekommen waren und ich nach der quälenden Fahrt schon lange beschlossen hatte, nie wieder in einen Bus zu steigen, erfuhren wir von Nachbarn in Zaz, dass uns die Plünderer bis in die Stadt Mardin gefolgt waren. Sie hatten irgendwie Wind davon bekommen, dass wir vor ihnen flüchten wollten. Doch sie waren auf der falschen Fährte. Sie hatten geglaubt, wir wollten mit dem Linienbus nach Istanbul, und hatten nicht damit gerechnet, dass wir uns einen eigenen Bus mieten würden. Während sie also mit ihren Waffen an der Bushaltestelle auf uns lauerten, waren wir schon auf dem Weg in eine neue Heimat – in ein Land, in dem man kein Gewehr mehr braucht, um sich und sein Eigentum zu schützen. An das Gewehr hatten wir in der Eile ohnehin wieder nicht gedacht. […]

       Schicksalsmoment in Indien

      Fünfzehn Jahre später. Inzwischen lebte ich mit meiner Familie in Deutschland. Ich hatte mich in meiner neuen Umgebung eingelebt, hatte dort meine Ausbildung in Krankenpflege gemacht und ein Studium in Psychologie und Religionspädagogik absolviert. Und ich war in einen Orden eingetreten – 1987, mit siebzehn Jahren.

      Jetzt, 1999, war ich zu einer Konferenz nach Kottayam in Indien eingeladen, wo ich seit 1991 tätig war. Kottayam liegt im Bundesstaat Kerala im Südwesten Indiens und ist das Zentrum der syrisch-orthodoxen Christen von Kerala. Bereits im 4. Jahrhundert waren die ersten Christen in die Region gelangt. „Thomaschristen“ nennt man die Angehörigen der indischen christlichen Kirchen, die ihre Geschichte auf eine Erstmission durch den Apostel Thomas zurückführen. Dieser Apostel hatte im Jahr 53 Nordindien erreicht und war – einer späteren Legende zufolge – entlang der südwestlichen Küste Indiens, dem heutigen Kerala, bis nach Madras gereist, wo er von einem Speer tödlich getroffen wurde. Bis heute betrachten die alten christlichen Kirchen Indiens den Apostel Thomas als ihren Gründer und spirituellen Vater und bezeichnen sich als „Töchter des heiligen Thomas“.

      Im Laufe der Jahrhunderte kam es – nach der gewaltsamen Katholisierung der indischen Christen durch die Portugiesen – zu verschiedenen Kirchenspaltungen, in deren Folge sich der nichtkatholische Teil der Thomaschristen der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien annäherte. Die Christen haben Kottayam sehr geprägt, vor allem das Bildungswesen. So war das Priesterseminar der Malankara Orthodox-Syrischen Kirche das erste mit einer englischen Ausbildung in ganz Südindien. 1817 entstand hier die erste Highschool Keralas, vielleicht gar Indiens, drei Jahre später mit der „Baker Memorial Girls Highschool“ eine der ersten Mädchenschulen des Landes. Heute gilt Kottayam aufgrund der großen Zahl an überdurchschnittlich guten Bildungsinstitutionen als das akademische Zentrum Südindiens. Eine der zahlreichen Institutionen ist das „St. Ephrem Ecumenical Research Institute (SEERI)“, ein wissenschaftliches Zentrum für syrische Sprache und Kultur. Hier sollte ich mein Referat über die pädagogisch-psychologische Sicht auf die sieben Sakramente halten.

      Das SEERI befindet sich auf dem Baker Hill, einem Hügel im Stadtzentrum. Es ist ein moderner, lichtdurchfluteter Backsteinbau mit drei Stockwerken und großzügigen Fenstern und Räumen. Doch hinter dem Institut sah die Welt ganz anders aus: Vierzehn Familien hausten hier, insgesamt zweiundachtzig Personen – darunter viele Kleinkinder, Ältere, Kranke – allesamt unter den ärmlichsten Bedingungen. Sie hatten kein Dach über dem Kopf, keine Kleider, nichts zu essen. Es regnete und der Monsun schüttete Wassermassen über ihre notdürftig aus Planen zusammengebastelten Behausungen. Verzweifelt versuchten die Menschen, die Planen so zu halten, dass das Wasser die Zelte nicht völlig überschwemmte. Ein sinnloses Unterfangen. Überall Pfützen, so groß wie Badewannen.

      Und dann kam der Moment, der mein Leben maßgeblich verändern sollte. In einer der vielen Wasserlachen sah ich ein kleines Kind. Es war vielleicht eineinhalb Jahre alt. Es lag friedlich da und schlief. Ich beobachtete, wie die Eltern einen flachen Stein unter den Körper des Kindes schoben, damit es nicht mehr im Wasser liegen musste. Ganz vorsichtig und liebevoll gingen sie dabei vor, damit das Baby nicht aufwachte. Das war das Einzige, was sie für ihr Kind tun konnten.

      Ich schaute dieses Kind und die hilflosen Eltern an und spürte sofort, dass dieser Moment einen Auftrag für mich enthielt. Was, so fragte ich Gott, was willst du mir mit diesem Anblick sagen? Verschiedene Verse aus der Bibel schossen mir durch den Kopf. Jesus sagt, in meinem Garten gibt es viel Arbeit, aber nur wenige Arbeiter. Jesus sagt, wenn du den Niedrigsten siehst, dann siehst du mich. Und Jesus sagt: „Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“

      Und genau danach wird er mich einmal fragen: Hast du das getan? Hungernden zu essen gegeben, Kranke besucht, Durstige getränkt, wie es in Matthäus 25,31-40 beschrieben ist?

      Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Was hatte ich in meinem Leben eigentlich bisher geschafft? Ich hatte mich für ein Leben entschieden, das sich am Wort Gottes orientiert. Ich trug einen Schleier, auf den ein Weg eingestickt ist – eine Erinnerung daran, dass Leben in der Nachfolge Jesu heißt, die Welt hinter sich zu lassen und Jesus zu folgen, ohne Wenn und Aber. Aber dann hatte ich doch erst einmal nur meine Ausbildung im Blick gehabt. Ich war in die Krankenpflegeschule gegangen, danach an die Uni, und hatte zuletzt in einem Hospiz gearbeitet, wo ich mich monatlich über ein fürstliches Gehalt von 8000 DM freute. Doch konnte es das gewesen sein? War es das, was Gott mit mir vorhatte? Hatte er mir nicht die Fähigkeit und die Kraft gegeben, mich für die Schwächeren einzusetzen, ihnen zu helfen, ihnen Perspektiven aufzuzeigen? War das nicht wertvoller als Geld?

      Es war ein Schicksalsmoment. In dieser Situation gab ich Jesus ein Versprechen: „Ich werde nicht mehr für Geld arbeiten, solange es irgend möglich ist. Und ich lege mein Leben ganz in deine Hände. Ich schenke es dir und stelle es dir ganz zur Verfügung. Aber ich habe eine Bedingung. Du musst mich begleiten. Ich