Ich glaube an die Tat. Hatune Dogan

Читать онлайн.
Название Ich glaube an die Tat
Автор произведения Hatune Dogan
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783765573422



Скачать книгу

sehen bekomme, geht es erst einmal nach draußen.

      Die Gartenfläche, die zum Grundstück gehört, ist gar nicht sehr groß und der Boden sieht mir auch nicht so aus, als zeichne er sich durch besondere Fruchtbarkeit aus. Rissig und hart ist die Erde an etlichen Stellen. Die meisten Menschen würden so einen kleinen Streifen Land rund ums Haus wohl mit etwas dekorativem Rasen einsäen oder mit „sauberen“ Steinen belegen und einen Sonnenschirm und Gartenmöbel daraufstellen. Schwester Hatune dagegen hat dem widerspenstigen Land eine beträchtliche Menge an Blumen und Nutzpflanzen abgetrotzt. Ich sehe Rucola, Petersilie, Pfefferminze und Sauerampfer. Kürbis, Porree, Radieschen, Kohlrabi, Zucchini und Mangold sind hier auf kleinster Fläche angebaut und es gibt ein großes Zwiebelbeet, das, wie ich erfahre, in acht Stufen bebaut wird. Die Tomaten sind noch grün, aber die Erdbeeren leuchten schon rot zwischen den Blättern hervor, dahinter Mango, Paprika, weiße Gurken und Kapioka aus Indien. Auch die Anzahl der Obstsorten ist beachtlich: Da gibt es Johannisbeeren, Stachelbeeren, Weintrauben. Neben älteren Apfel- und Pflaumenbäumen behaupten sich tapfer ein Mandelbäumchen und ein Granatapfelbaum – Grüße aus und lebendige Erinnerung an die nie vergessene Heimat in der Osttürkei und an ein Leben, das ganz vom Land und seinen Früchten abhängig war. Ein kleines Fleckchen Zuhause. Sogar der „Schuttstreifen“ zwischen Zaun und Straßenrand ist vom Unkraut befreit und mit Zucchini bepflanzt. Überall leuchten farbenfroh die Blüten der Sommerblumen und Rosenduft steigt mir in die Nase. „Ohne Erde halte ich es nicht aus“, lächelt Schwester Hatune. „Ich bin eine echte Bauerntochter.“

      Nach dem Garten, sichtlich Schwester Hatunes Stolz, geht die Führung weiter, durch die Räume des Hauses. Was mir von außen für ein Kloster als recht klein erschien, erweist sich, wie das Gartenland drum herum, als ein Ort ungeahnter Möglichkeiten. Schwester Hatune bereitet das Haus dafür vor, hier einen eigenen kleinen Konvent zu gründen. Einige Schwestern werden bald einziehen und Raum für Gäste soll es auch geben. Und natürlich eine Kapelle, Bibliothek und Seminarraum. Ich bin überrascht zu sehen, wie viele Zimmer sie dem von außen bescheiden erscheinenden Bau abgerungen hat: Immer geht es noch eine Treppe hinauf und noch eine Tür weiter zum nächsten Raum und wieder zum nächsten. Die Zimmer sind meist klein, bieten nur Platz für das Nötigste: Bett, Stuhl, vielleicht einen kleinen Tisch oder ein Regal. „Aber jeder soll die Möglichkeit haben, sich zurückzuziehen“, erklärt Schwester Hatune.

      Viele Stunden mit Gesprächen und zahlreiche Geschichten und Erlebnisse später erscheinen mir Haus und Garten wie ein Schlüssel zu dieser Frau, die mir in den vergangenen Tagen so viel aus ihrem Leben und dem Leben der Menschen erzählt hat, für die sie sich einsetzt. Ganz besonders sind das zurzeit die Christen, die im Nahen Osten, in Syrien und im Irak Verfolgung oder Unterdrückung und Benachteiligung erfahren, und darüber hinaus alle Flüchtlinge, die dort Heimat und Besitz verlassen mussten, um ihr bloßes Leben zu retten.

      Klosterleben, das ist für Schwester Hatune nicht der Rückzug aus einer zu lauten und zu hektischen Welt in ein beschauliches Innenleben. Wie ihr Haus beinahe mitten auf der Straße steht, so steht auch sie immer wieder mitten in dieser Welt, da, wo die Not am größten ist. Und es scheint, als sei in ihrem Herzen immer noch ein Raum mehr verfügbar für ein weiteres Menschenschicksal, als trotze sie jeder kleinen Chance auf Leben und Wachstum das nur irgend Mögliche ab.

      „Ich glaube an die Tat“, sagt sie irgendwann in unseren Gesprächen. „Und daran, dass Gott immer noch eine Möglichkeit mehr hat, als wir sehen können. Solange es etwas zu tun gibt, packe ich an.“

      Dies ist ihre Geschichte.

       Tonia Riedl

       Teil 1: Weil ich selbst ein Flüchtling bin …

image

       Flucht

       1984, Zaz im Tur Abdin, Südosttürkei

      Niemand hatte an das Gewehr gedacht. Weder mein Vater noch ich. Das Gewehr trug ich immer bei mir, wenn ich nachts zu meinem Vater auf den Weinberg ging. Erst schützte es mich auf dem Weg durch die Dunkelheit, dann uns beide bei der Nachtwache. Doch in dieser Nacht, in der Nacht vom 14. auf den 15. September 1984, sollte ich nicht wie sonst auf den Weinberg kommen.

      „Bleib heute zu Hause“, sagte mein Vater. „Du wirst hier mehr gebraucht.“ Er blickte kurz zum Haus, in dem meine Mutter gerade das Abendessen zubereitete. Meine älteste Schwester war mit ihrem Mann zu Besuch. Sie wohnten viele Kilometer entfernt, an der Grenze zum Irak, und kamen nicht oft zu uns. Zur Feier des Tages hatte mein Vater am Morgen zwei Hühner geschlachtet. Da mein Schwager nur Kurdisch und Ostsyrisch sprach, meine Mutter jedoch nur Aramäisch, sollte ich dableiben, um zu übersetzen.

      „Und du?“, fragte ich.

      „Ich werde gehen.“

      Ich merkte, wie schwer es meinem Vater fiel, uns mit dem Besuch allein lassen zu müssen. Für jeden Fremden öffnen wir unser Haus, bewirten ihn mit unserem Brot und unseren Früchten, schenken ihm Wein und Säfte ein, tränken seine Pferde und richten ihm die Bettstatt her. Es ist diese selbstverständliche Gastfreundschaft, die man gern mit den Orientalen verbindet. Dabei haben die sie einst von uns gelernt. Und wir wiederum von Abraham, der selbstlos und ohne jede Absicht die Gäste Gottes empfing, großzügig bewirtete und beherbergte. Für meinen Vater als Christen ist Gastfreundschaft keine bloße Tugend, sondern ein tiefes Bedürfnis. Und ausgerechnet jetzt, wo seine älteste Tochter mit ihrem Mann gekommen war, musste er das Haus verlassen.

      Er hatte keine Wahl. Die Trauben waren fast reif. Nur wenige Sonnenstrahlen brauchten sie noch, bis sie die richtige Süße und pralle Größe erreicht hätten und wir sie ernten könnten. Aus den Trauben machten wir Wein, Säfte und Sirup oder ließen sie zu Rosinen trocknen. Dreihundert Liter Wein produzierten wir im Jahr. Rosinen hatten wir oft tonnenweise, manchmal füllten die Säcke zwei ganze Räume, während sich in den Regalen der Weinkuchen stapelte. Den Weinkuchen stellten wir aus Sirup her, gossen dafür die dicke Soße über schweres Leinen, ließen die Masse in der Sonne gehen und falteten dann die getrockneten und elastischen Fladen in Dreiecke zusammen. Den ganzen Winter über hatten wir eine nahrhafte Süßigkeit – eine Art Weingummi, wenn man so will.

      Bis heute lasse ich mir den Weinkuchen aus der Türkei mitbringen. Wenn ich ihn hier, fern der Heimat, auseinanderzupfe und mir der schwache Geruch, in dem neben der Frucht auch das frische Leinen zu ahnen ist, entgegenströmt, muss ich nur die Augen schließen und bin wieder in meinem Heimatdorf Zaz im Südosten der Türkei. Dann spaziere ich durch die fruchtbaren Weinberge, klettere durch die Kronen unserer achtundvierzig Mandelbäumchen, die so dicht beieinanderstehen, dass man sie nacheinander erreicht, ohne den Boden zu berühren, und gehe über unsere Felder, auf denen nahezu alles wächst, was man zum Leben braucht – Auberginen, Tomaten, Paprika, Melonen, Granatäpfel, Oliven, Getreide …

      Wir hatten von allem reichlich. Doch wenn die Früchte reif wurden, mussten wir aufpassen, damit uns keiner so kurz vor der Ernte alles zunichtemachte. So wie es erst wenige Wochen vor dem Besuch meiner Schwester in unserem Dorf geschehen war.

      Drei junge Männer waren von der Armee zurückgekommen und das ganze Dorf feierte ihre unversehrte Heimkehr. Ein solches Ereignis ist bei uns immer Anlass für ausgelassene Freudenfeste. Werden Christen in die türkische Armee eingezogen, glauben ihre Angehörigen in der Regel nicht, dass sie sie jemals wiedersehen. Unter Tränen werden die Söhne verabschiedet. Nicht, weil ein Krieg ausbrechen und sie als Soldaten fallen könnten. Sondern weil sie den Krieg vom ersten Fahnenappell an haben – und zwar in der eigenen Kompanie. Vom ersten Tag an sind sie der Feind, das Opfer von Schikane, Misshandlung und Folter, sowohl seitens der Kameraden wie der Offiziere. Ich kenne die Geschichten von meinem Vater und meinen Brüdern. Es sind immer dieselben, auch wenn ein paar Jahrzehnte dazwischenliegen.

      So fand sich mein Vater am Anfang seiner Armeezeit eines Abends nach dem Duschen achtzig Männern gegenüber, die ihn beschimpften und bespuckten, weil er als Christ nicht beschnitten war. Sie schrien ihn an,