Ich glaube an die Tat. Hatune Dogan

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Название Ich glaube an die Tat
Автор произведения Hatune Dogan
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783765573422



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ich konnte, während mir die Tränen über die Wangen strömten. Während ich rannte, dachte ich unentwegt an meinen Vater. An sein gütiges, liebevolles Gesicht. An seine Wärme und Zärtlichkeit. An seine Frömmigkeit und Ernsthaftigkeit, wenn er sonntags für uns Schulkinder, denen es – quasi als Soldaten des Staates – verboten war, zur Kirche zu gehen, die Predigt des Pfarrers wiederholte. Wie er uns dann zur Eile mahnte, sagte: „Setzt euch schnell hin, ihr wisst, noch sind die Worte frisch in meinem Kopf. Und ein zweites Mal bekomme ich die Predigt sicher nicht mehr zusammen.“ Wie liebte ich meinen Vater in dieser frommen Verantwortung für seine Familie. Und jetzt war er in Gefahr!

      Jetzt hatten wir die kleine Mauer, die den Weinberg umgab, erreicht, doch die Stimmen waren nicht mehr zu hören. Wir lauschten in die Dunkelheit, Unheil ahnend, gingen vorsichtig und suchend weiter. Furchtbare Momente der Ungewissheit und Angst waren das. Josef, unser Nachbar, rief den Namen meines Vaters. Ich betete in meinem Herzen. Und er kam von oben und wir von unten, und auf einmal stand er vor uns: mein Vater. Ich fiel ihm um den Hals, unendlich glücklich und erlöst. Ich wollte ihn nie wieder loslassen. Mein Vater zitterte am ganzen Körper. Dann erzählte er uns, was geschehen war.

      Auf dem Grundstück des Nachbarn waren Diebe eingedrungen und hatten sich an den Trauben zu schaffen gemacht. Mein Vater dachte erst, es handle sich nur um gewöhnlichen Mundraub. Der war bei uns gestattet. Ganze vier Familien in unserem Dorf – Muslime, die sich 1915 in den Höfen ermordeter oder geflohener Christen einquartiert hatten – lebten allein vom Mundraub, von den Früchten unserer Arbeit. Wir hatten uns daran gewöhnt. Eine halbe Stunde hatte mein Vater darauf gewartet, dass die Diebe sich endlich wieder vom Acker machten. Bis dahin blieb er still und gab sich nicht zu erkennen. Doch nach einer halben Stunde wüteten die Diebe immer noch im Weinberg. Mein Vater musste einschreiten. „Ich kann nicht zulassen, dass diese Diebe die Früchte meines Mitbruders klauen. Es sind nicht nur Trauben!“, dachte er.

      Doch er war allein und hatte keine Waffe bei sich. Die anderen waren zu sechst und ganz bestimmt bewaffnet. Was tun? Er bekreuzigte sich und betete. Dann sammelte er ein paar Steine von einer Größe, dass es ordentlich wehtat, wenn man sie abbekam, und zielte auf einen der Diebe. „Aua“, schrie der. Mit einem Schlag wurde den Dieben bewusst, dass sie nicht allein auf dem Weinberg waren.

      Mein Vater befand sich in großer Gefahr. Doch er besann sich auf eine List. Er tat einfach so, als wären die anderen, die Besitzer der Weinstöcke, auch in der Dunkelheit mit ihm auf Wache. Er unterhielt sich mit den fiktiven Freunden, rief: „Danho, sie laufen in deine Richtung!“ Oder: „Lahdo, hier sind sie!“ Daraufhin hatten die Diebe einen ordentlichen Schreck bekommen und waren geflohen.

      „Hier war es“, sagte mein Vater und zeigte uns die Stelle, wo die Diebe gewütet hatten. Wir kletterten über die Mauer, um den Schaden zu begutachten.

      Doch plötzlich, ich stand gerade auf der Mauer, wurde auf uns geschossen. Die Plünderer hatten gemerkt, dass sie hereingelegt worden waren und kehrten zurück, um sich zu rächen. Josef rief, wir sollten uns alle auf den Boden werfen, damit uns nichts geschehe. Dann beschimpfte er die Diebe in kurdischer Sprache: „Ich bin ein Schwein und ficke eure Mutter.“ Muslime hassen ja Schweine, und die Schändung der Familie ist in etwa das Schlimmste, was man ihnen antun kann. Josef hatte auch ein Gewehr dabei und schoss damit in die Luft. Bald kam das ganze Dorf zusammen, alle wollten wissen, was vor sich ging. Doch da waren die Diebe schon längst wieder weg.

      Die Polizei wurde gerufen und mein Vater nannte den Beamten die Namen der Plünderer. Er hatte sie erkannt, es waren Leute aus einem der Nachbardörfer. Auf einmal merkte ich, dass meine Zehen nass waren. Ich schaute an mir herunter und stellte fest, dass der ganze Boden mit Weintrauben bedeckt war. Die Polizisten hatten Strahler dabei und leuchteten damit die Reihen der Rebstöcke entlang. Und dann sahen wir die großen Körbe, in denen die Diebe ihre Beute gesammelt hatten: riesige Kiepen, manche zum Teil schon randvoll. Offensichtlich hatten sie vorgehabt, alles restlos abzuernten. Wir konnten es nicht fassen.

      Die Polizisten nahmen die Körbe mit. Damit schien der Fall für sie erledigt.

      „Papa“, fragte ich, „warum stecken sie die Weintrauben ins Gefängnis und nicht die Diebe?“

      „Weil es für die Polizisten besser ist, die Weintrauben festzunehmen als die Muslime. Ein Muslim darf nämlich nicht wegen eines Christen bestraft werden und im Gefängnis landen.“

      Ich wusste nicht, ob ich weinen oder lachen sollte.

      Nach zwei Wochen wurde die Angelegenheit vor Gericht verhandelt. Es blieb bei dem, was mein Vater vermutet hatte: Die Weintrauben waren schuld, nicht deren Diebe. Doch obwohl die Plünderer ungestraft davonkamen, ließen sie die Sache nicht auf sich beruhen. Sie waren zum Gespött der Leute geworden. „Wie, ihr wart sechs Männer mit Waffen und habt euch von einem einzigen Ketzer, der noch nicht mal ein Gewehr dabeihatte, in die Flucht schlagen lassen?“ Sprüche wie diese mussten sich die Plünderer häufiger anhören. Das kratzte an ihrer Ehre. Eines Tages versammelten sie sich in der Stadt Midyat in der Nähe einer Bushaltestelle. Der Zufall wollte es, dass zwei Christen aus unserem Dorf in der Nähe waren und Zeugen wurden.

      „Wenn wir den Sohn Josefs in die Hände kriegen“, so schworen die sechs Muslime auf den Koran, „zerkleinern wir seinen Leib in Stücke so groß wie sein Ohrläppchen.“

      Und was ein Muslim auf den Koran schwört, tut er auch. Sonst verliert er seinen Glauben und seine Ehre.

      Die beiden Nachbarn, die den Schwur mitgehört hatten, eilten sofort zu unserem Haus.

      „Ist dein Mann daheim?“, fragten sie meine Mutter. Ich war auch im Haus, da Ferien waren und wir Kinder nicht in die Schule mussten.

      „Nein, er ist auf den Feldern.“

      „Dann hör gut zu, was wir dir zu berichten haben, Cousine“, sagten die beiden und erzählten von der Versammlung der sechs Plünderer und was sie sich geschworen hatten. „Sag deinem Mann, dass er nicht mehr ohne Waffe auf dem Feld arbeiten soll. Sein Leben ist in höchster Gefahr!“

      Meine Mutter schaute mich an und uns beiden schossen die Tränen in die Augen. Wir sagten nichts, wir verstanden uns ohne Worte. Uns war schlagartig bewusst geworden, dass wir in diesem Moment unsere Heimat verloren hatten. Dass wir unseren Hof und unsere Ländereien verlassen mussten, so wie es schon viele unserer Brüder und Schwestern vor uns getan hatten, die nach Europa, Australien oder Nordamerika ausgewandert waren, oder nach Syrien, in den Libanon, den Irak.

      Wir bedankten uns bei den beiden Männern für die Information und überlegten, wie wir es meinem Vater beibringen sollten.

      „Du musst es machen, du musst ihn davon überzeugen, dass er in Lebensgefahr ist“, sagte meine Mutter. „Auf mich hört er doch nicht.“ Und das war leider Gottes die Wahrheit. Mein Vater hatte schon lange aufgehört, meine Mutter, die immer rasch besorgt und von ängstlicher Natur war, mit ihrem häufigen Gejammer ernst zu nehmen. Irgendwann hatte er sogar begonnen, sich einen Spaß daraus zu machen, die Verbote meiner Mutter vor unseren Augen zu missachten. So steckte er sich zum Beispiel immer dann, wenn sie ihn wieder ermahnte, dass er endlich mit dem Rauchen aufhören solle, erst recht eine neue Zigarette an, zog genüsslich daran und blies mit einem breiten Grinsen die Rauchkringel in die Luft.

      Damit keine Missverständnisse aufkommen: Zwischen meinen Eltern gab es eine tiefe Liebe. Ich würde sogar sagen: eine besondere Liebe. In vielen Dingen waren sie ein Herz und eine Seele und verstanden sich ohne Worte, waren sich einig in ihren Zielen und boten uns Kindern ein liebevolles und geborgenes Zuhause. Aber was den Hang meiner Mutter zu übergroßer Ängstlichkeit anging, so weigerte sich mein Vater einfach, sich davon bestimmen zu lassen.

      Mir fiel also die schwere Aufgabe zu, meinem Vater die schlechte Nachricht zu überbringen. Ich überlegte, wie ich es am besten anstellen sollte. Dann versammelte ich meine Geschwister um mich herum und erzählte ihnen, was passiert war. Alle weinten, alle hatten Angst um unseren Vater. „Hört zu“, sagte ich dann, „wenn Papa heute Abend nach Hause kommt, macht genau, was ich sage. Wir werden alle vor ihm knien. Ich werde reden. Und ihr werdet sagen: ‚Bitte, bitte, Papa!‘ Mehr müsst ihr nicht sagen.“

      Als der Vater vom Feld kam, knieten