Ich glaube an die Tat. Hatune Dogan

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Название Ich glaube an die Tat
Автор произведения Hatune Dogan
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783765573422



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als die der Muslime. Wenn ein christliches Haus auch nur zehn Zentimeter höher war als die muslimischen, wurde es zerstört, ebenso wie die Kirchtürme. Bis zum Jahr 1000 bestand die Bevölkerung im gesamten Orient schätzungsweise zu 96 % aus Christen. Heute sind es insgesamt 6 Prozent.

      Seit dem Genozid in der Türkei an den Christen von 1915 waren die syro-aramäischen Gläubigen für den Staat und die Welt kaum noch existent. Anders als den griechisch-orthodoxen Christen, den armenischen Christen und den Juden wurde der syrisch-orthodoxen Religionsgemeinschaft im Friedensvertrag von Lausanne 1923 nicht der Status einer offiziell anerkannten religiösen Minderheit zuerkannt. Deshalb haben wir in der Türkei noch weit weniger Rechte als andere Minderheiten. Wir dürfen keine Schulen einrichten und unterhalten. Wir müssen staatliche Schulen besuchen und am muslimischen Religionsunterricht teilnehmen.

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      Der staatliche Stundenplan sah zwei Stunden wöchentlich für muslimische Religionskunde vor. Auch in meiner Schule, obwohl nur Christen sie besuchten und der einzige Muslim der Religionslehrer war. Wir Schüler hatten uns von Anfang an darauf verständigt, den Religionsunterricht zu boykottieren, wir wollten unter keinen Umständen daran teilnehmen. Das blieb natürlich nicht ungestraft. Wenn die Schulglocke am Freitag die Religionskunde ankündigte, mussten wir alle an die Tafel und die Hände vorstrecken. Der Lehrer zückte sein langes Lineal – es war aus schwerem, scharfkantigem Metall – und schlug uns auf die Hände. Vier Schläge auf die linke Hand, vier Schläge auf die rechte. Hatten alle ihre Prügel erhalten, waren wir entlassen und durften die nächsten zwei Stunden spielen, lesen oder malen – sofern die geschwollenen Finger den Stift überhaupt noch ohne Zittern halten konnten.

      In der Schule mussten wir Türkisch sprechen. Aramäisch, unsere Muttersprache, war strengstens verboten. Nicht einmal in den Pausen durften wir uns auf Aramäisch unterhalten. Eines Tages – wir waren in der dritten Klasse und hatten Pause − ging Habib zur Tafel. Von seinem älteren Bruder, der Diakon war, hatte er gelernt, seinen Namen auf Aramäisch zu schreiben. In der Schule lernten wir nur Türkisch lesen und schreiben; in unserer Muttersprache blieben viele von uns, wie meine Eltern, Analphabeten. Sogar unsere Namen hatte man türkisiert, Dogan ist nicht mein ursprünglicher Familienname. Früher hießen wir Josef. Und auch Zaz ist in den türkischen Schulatlanten nicht zu finden, dafür an seiner Stelle ein Ort namens Ižbrak.

      Habib also war stolz auf seine ersten aramäischen Buchstaben und wollte uns zeigen, was er gelernt hatte. Er schrieb gerade das H mit dem A darüber an die Tafel – in der aramäischen Sprache sind die Vokale über den Buchstaben –, als wir auf dem Flur die schnellen Schritte des Schuldirektors hörten. Wir stürmten an unsere Plätze; es blieb keine Zeit, die verbotenen Lettern wegzuwischen. Der Direktor trat ein, entdeckte den aramäischen Buchstaben an der Tafel und geriet in Rage. „Welcher Ketzer hat diesen ketzerischen Buchstaben geschrieben?“, schrie er in den Raum, der Kopf puterrot vor Wut.

      Wir schwiegen, alle. Wir wussten, wenn wir Habib verraten, hat der Direktor das Recht, ihn totzuschlagen. Der Direktor wiederholte seine Frage, lief ungeduldig vor uns auf und ab wie ein Tiger in einem Käfig. Im Raum war es unerträglich still. Nur die Schritte des Direktors waren zu hören. Dann brüllte er: „Ihr habt es nicht anders gewollt! Alle nach vorn an die Tafel!“

      Wir stellten uns auf, wie wir es auch freitags immer zum Boykott der Religionsstunde taten, streckten die Hände vor und erwarteten unsere Schläge. Doch mit den gewohnten Freitagsschlägen waren die, die der Direktor uns jetzt verpasste, nicht zu vergleichen. Heute schlug er härter zu, brutaler, voller Wut. Habibs Bruder, der neben mir stand, zog aus Reflex immer seine Hände vor dem Stock zurück. Daraufhin wurde der Direktor immer wütender. „Ein Ketzerschüler versteckt seine Hand nicht vor mir!“, brüllte er, ergriff mit seiner linken Hand die des Jungen und schlug mit der rechten zu. Ich sah fassungslos, wie die kleine Hand des Jungen rot wurde, sich eine große Blase auf ihr erhob und platzte. Und der Direktor prügelte immer weiter, als wäre der arme Junge schuld am ganzen Unglück dieser Welt.

      Später gehörte es zu meinen Aufgaben als Schulsprecherin, die Namen derjenigen Schüler aufzuschreiben, die in den Pausen Aramäisch sprachen, damit der Lehrer sie dann bestrafen konnte. Ich wollte das nicht machen. Ich wollte auch nicht Schulsprecherin sein. Aber dazu wurde immer der Schüler oder die Schülerin mit den besten Noten bestimmt. Und das war leider ich. Es war eine ausweglose Situation, ein klassisches Dilemma: Wenn ich die Namen der Schüler nicht aufschrieb und der Lehrer hörte, dass sie sich in ihrer Muttersprache unterhielten, war ich es, die er schlug. Schrieb ich die Namen jedoch auf, bekam ich ebenfalls Prügel: von meinen Mitschülern, in deren Augen ich eine Verräterin war. Ich habe schließlich die Schläge der Lehrer vorgezogen. Die der anderen Kinder haben mehr wehgetan. Der Schmerz ging da nämlich tiefer – direkt ins Herz.

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      Während mein Vater nun also allein und ohne Waffe auf dem Weinberg war, aßen wir zu Hause zu Abend, tauschten die neuesten Geschichten aus und genossen die laue Sommernacht. Da meine Schwester und ihr Mann von der langen Reise müde waren, gingen wir jedoch bald zu Bett. Im Sommer schliefen wir immer auf den Dächern unserer Häuser, da es im Tur Abdin dann durchschnittlich sechsunddreißig Grad warm ist und in geschlossenen Räumen nachts schon mal bis zu sechzig Grad heiß wird. Von Mai bis Oktober regnet es praktisch nicht, sodass wir nicht fürchten müssen, von einem Sommerregen aus dem Schlaf gerissen zu werden.

      Für mich war es ungewohnt, so früh ins Bett zu gehen. Seit meinem elften Lebensjahr, als meine vier älteren Geschwister aus dem Haus waren und ich die Verantwortung für meine fünf jüngeren Geschwister übernahm, schlief ich nur noch sehr wenig. Im Sommer, wenn wir keine Schule hatten – der Unterricht fand nur im Winter statt, dafür aber ganztägig –, sah mein Tag in etwa so aus: Vor Sonnenaufgang stand ich auf, melkte das Vieh und brachte es zur Herde. Dann bepackte ich den Esel und das Pferd mit dem Proviant sowie den Arbeitsgeräten und ging mit meinen Eltern und Geschwistern auf das Feld, wo wir bis zum Abend arbeiteten. Kamen wir heim, melkte ich das Vieh, während mein Vater schon zur Wache ging. Er wollte vor Sonnenuntergang auf seinem Posten sein. Ich folgte ihm, sobald ich mit meiner Arbeit fertig war.

      Bis eins blieben wir draußen. Doch wenn wir dann nach Hause kamen, war unser Tagwerk noch lange nicht vollbracht: Mein Vater baute ein neues Haus und da wir tagsüber nicht dazu kamen, mussten wir eben in der Nacht daran weiterbauen. Es sollte unser größtes Haus werden, mit dreizehn Zimmern und einem Dach – so groß, dass wir alle und auch unsere Gäste bequem darauf Platz hätten. Ein paar Stunden lang füllten wir Erde in Eimer, die wir über eine Winde nach oben zogen, um das Flachdach aufzufüllen. Als meine Schwester und mein Schwager zu Besuch kamen, war das Dach noch nicht ganz fertig. Wir schliefen auf dem Dach des alten Hauses.

      Ich war gerade eingeschlafen, als ich plötzlich von lauten Stimmen geweckt wurde. Der Nachbar stand unten am Haus und rief meiner Mutter zu: „Nichte, wo ist dein Mann?“ Meine Mutter stillte gerade meine jüngste Schwester Hadiya.

      „Der ist am Weinberg“, rief sie hinunter.

      Ich war auf einen Schlag hellwach und auf den Beinen. Unser Haus stand am Dorfrand und war das letzte vor den Weinbergen. Ich blicke hinüber, doch in der Dunkelheit war nichts zu sehen. Aber dann hörte ich die Stimmen. Viele laute, aufgebrachte Stimmen schallten vom Weinberg herüber. Mein Vater, dachte ich nur, er ist in Gefahr!

      Für meine Mutter war schon alles zu spät. „Oh ihr Armen“, jammerte sie und wiegte das weinende Kind an ihrer Brust, „euer Vater ist getötet worden.“

      Doch das wollte und konnte ich nicht glauben. Hatte ich nicht auch gerade noch die Stimme meines Vaters gehört? Wir mussten zu ihm. Alles war in heller Aufregung. Mein Schwager wäre fast vom Dach gesprungen, weil er in der Dunkelheit die Treppe nicht fand. Wir konnten ihn gerade noch zurückhalten. Und dann rannten wir, als wären Verfolger hinter uns her. Der Nachbar wollte mich und meine Schwester noch aufhalten: „Ihr Mädchen dürft da nicht hin“, schrie er, „ihr werdet vergewaltigt und entführt!“

      Doch mir war in dem Moment alles egal. „Mein Vater ist in Gefahr!“, schrie ich unter Tränen. Und rannte weiter.