Gestalt im Schatten. Luiz Antonio de Assis Brasil

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Название Gestalt im Schatten
Автор произведения Luiz Antonio de Assis Brasil
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783962026172



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Freunde geworden. Sie gingen dazu über, sich nicht mehr förmlich mit dem Familiennamen anzureden, sondern beim Vornamen zu nennen.

      Humboldt erklärte, er sei Anhänger der Aufklärung und Parteigänger der Revolution. Er hatte dabei geholfen, die Kulissen für das Fest zum ersten Jahrestag des 14. Juli auf dem Marsfeld aufzubauen. Er hatte eine Gärtnerkarre mit Zement für die Errichtung des Altars des Vaterlandes dorthin gebracht. Er war gegen jedwede Form der Unterdrückung und Vorurteile.

      Aimé Bonpland vertrat dieselben Ideen, aber er war weniger praktisch. Erst später würde er über die theoretischen Überlegungen hinausgehen.

      Alexander von Humboldt hatte sich auch für die Expedition Baudin gemeldet, aber er spielte mit dem Gedanken, seine Pläne zu ändern.

      Dies war der Anfang.

      Und so ging es weiter: Während der letzten Wochen des Sommers zogen sie gemeinsam aus, um Pflanzen zu sammeln.

      Sie fuhren in Humboldts Einspänner, auf dem Kutschbock saß ein korpulenter Bretone. Sie amüsierten sich über seine schwerfällige Art. Sie fuhren zur Porte de Charenton hinaus und kamen in den Bois de Vincennes.

      Zu gegebener Zeit stiegen sie aus, gelegentlich am Ufer des Sees, und befahlen dem Kutscher, sie an der Porte de Charenton zu erwarten.

      Wenn man den Bois de Vincennes hinter sich ließ, öffnete sich vor einem eine liebliche Straße, an deren Seiten Birken standen. Durch die stehende heiße Luft drang das Geräusch ferner Zikaden.

      Sie stimmten ihre Uhren miteinander ab, vereinbarten einen Treffpunkt und trennten sich. Sie meinten, so sei es leichter, etwas zu entdecken.

      Das Ergebnis war nicht immer ermutigend. Humboldt zog folgenden Schluss:

      „Lieber Aimé, ich muss Gegenden fern von diesem dekadenten Europa aufsuchen, dessen Jahrhunderte alte Vergangenheit mir das Gemüt verfinstert. Du hast sicherlich das Buch von Desfontaines gelesen.“

      Sie suchten auch die Parks von Fontainebleau und Rambouillet auf.

      Eines Tages trafen sie sich mit beinahe leeren Körben wieder. Humboldt zeigte auf eine bläuliche Blume.

      „Weißt du, was für eine Blume das ist?“

      „Eine Pfingstrose, Alexander?“

      „Hier an diesem Ort, um diese Jahreszeit? Nie und nimmer, mein lieber Botaniker.“

      Humboldt befestigte sie am Revers von Aimé Bonpland. „Da macht sie sich gut. Ich werde sie Parisii bonplandia nennen.“

      Sie brachen in Lachen aus.

      Aimé griff eine kleine gelbe Blume aus seinem Korb. Er tat dasselbe wie vorher Humboldt.

      „Und dies ist eine Parisii humboldtiana.“

      Sie lachten wieder. Es war eine Albernheit.

      Untergehakt kehrten sie zu ihrer Kutsche zurück.

      Sie fanden den Kutscher im Gespräch mit einem Dienstmädchen vor, das sofort davonlief.

      Der Bretone trieb die Pferde an und erzählte ihnen den Witz von der Barfüßerin, die versehentlich in einem Bordell um Almosen bat: „Da sagte die Hure der Nonne, verlass das Kloster, liebe Schwester, hier verdienst du im Liegen mehr Geld als dort beim Knien.“

      Beide mussten lachen, dann wurden sie nachdenklich.

      „Schau dir diesen vulgären Menschen an, Aimé“, sagte Humboldt, „es gibt Leute, die nach dem Vergnügen der Sinne leben. Für uns sind die ernsthaften Dinge und ganz besonders das Studium der Natur Hindernisse für die Sexualität.“

      Dann wechselten sie kein Wort mehr miteinander, bis sie im Hotel Boston ankamen.

      8

      Aimé Bonpland schlief, er war erschöpft.

      Seine Jacke, seine Hose, die Weste, das Hemd, die langen Unterhosen, die Strümpfe, seine gesamte Kleidung hing unordentlich übereinander auf der Stuhllehne. Sein Kopfkissen war schweißgetränkt. Das Fenster des Zimmers stand offen für die duftende Augustnacht, es ließ das Summen der Insekten herein. Aimé war fast sofort in die friedlichen Träume derer abgetaucht, die früh schlafen gehen. Mit den Füßen schob er das Baumwolllaken zusammen. Er atmete rhythmisch, als wäre es Musik. In seinem Traum hallte jetzt ein leises Klopfen wider.

      Er lauschte, es hörte nicht auf.

      Es waren Finger, die auf Holz trommelten.

      Jemand klopfte an die Tür.

      Als er wach war, richtete Aimé Bonpland sich auf, zündete die Kerze an und blickte auf die Uhr.

      Dann sah er: Die Klinke bewegte sich, Humboldts Hand zögerte, dann stieß er die Tür auf. Er trug einen Leuchter mit einer brennenden Kerze. Er kam herein, nahm ein Taschentuch und warf es über Bonplands Blöße, er setzte sich auf die Bettkante:

      „Wir haben viel Mühe auf unsere Sammlungen verwendet, aber wenn Sie mir den Freimut gestatten, es ist reine Zeitverschwendung, diese Pflanzen zu klassifizieren. Linné, Buffon und andere haben das Notwendige schon erledigt. Begleiten Sie mich am Sonnabend in den Jardin des Plantes? Auf dem Weg essen wir ein Eis im Café des Savants. Auf meine Kosten.“

      Aimé Bonpland nahm die Einladung an. Humboldt verabschiedete sich mit einem knappen Kopfnicken und warf, bevor er hinausging, einen flüchtigen Blick auf den halbnackten Körper seines Freundes. Leise schloss er die Tür. Der Lavendelgeruch blieb hängen.

      Aimé Bonpland blies die Kerze aus.

      Er versuchte, wieder einzuschlafen und zu träumen. Er drehte sich zur Wand. Er nahm den starken Kalkgeruch wahr.

      Er verschwendete seine Zeit? Er?

      Er fiel in einen leeren, weißen Schlaf.

      Bei Sonnenaufgang erwachte er.

      Er schaute auf die Pflanzenproben auf seinem Schreibtisch.

      Er warf einen Blick auf die Presse.

      Dann auf die Stapel von Papierbögen, die auf die gepressten Pflanzen warteten.

      Er stand auf. Er trat an den Tisch heran und blätterte die Papierbögen durch, auf denen bereits Pflanzenproben befestigt waren. Er las sich einige der Bestimmungen vor, die er vorgenommen hatte.

      Der Satz von Humboldt fiel ihm wieder ein.

      Er war sehr verunsichert. Und was noch schlimmer war, was er gesammelt und bestimmt hatte, die Anlage der Herbarien, alles das kam ihm von einem Augenblick auf den anderen als sinnloses Bemühen vor. Eine Zwangsarbeit, ein unheilvolles Geschick, zu dem er sich selbst im Namen von etwas verurteilt hatte, von dem er nicht wusste, was es sollte.

      Aber er hatte sein Leben ja noch vor sich.

      9

      Den Löffel neben der leeren Kristallschale, schaute Humboldt ihn an.

      „Hören Sie, hören Sie doch, Aimé, Sie sind hochintelligent. Sie wissen einiges über die Natur und viel über Botanik sowie Krankheiten, sie verfügen über einen perfekten, gesunden Körper, auf den Sie sich verlassen können.“

      Verlegen sah er hinaus zum Tor des Jardin des Plantes. Dann wandte er sich wieder an Bonpland. „Sie könnten Ihrem Leben eine andere Richtung geben.“

      Jetzt wanderten sie zwischen den Beeten des Jardin des Plantes herum.

      Sie wiederholten sich gegenseitig die wissenschaftlichen Namen der Pflanzen. „Gehen wir ins Gewächshaus“, sagte Humboldt.

      Ein sonniger Tag ließ die Farben der Blumen leuchten und ineinander übergehen. Von dort ging ein zwiespältiger Geruch starker Düfte aus und mischte sich mit dem ekelhaften Gestank von Blüten, die auf ihrem Stängel verfault waren.

      Der