Gestalt im Schatten. Luiz Antonio de Assis Brasil

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Название Gestalt im Schatten
Автор произведения Luiz Antonio de Assis Brasil
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783962026172



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stets unvollendete Fröhlichkeit.

      In Paris brachte der Staatsstreich vom Thermidor die Hoffnung auf inneren Frieden. Aimé Bonpland nahm wieder Verbindung zu den Wissenschaftlern auf, deren Namen unsterblich zu werden begannen. Er wohnte Vorlesungen von Jussieu bei, der im Jahre des Sturms auf die Bastille das Werk Genera Plantarum Secundum Ordines Naturales Disposita veröffentlicht hatte, in dem er eine Vereinfachung von Linnés Systematik vorschlug. Er besuchte Lamarcks Vorträge im Amphitheater.

      Die wichtigste Neuerscheinung war für seinen volkstümlichen Geschmack indessen die Flora Atlantica von Desfontaines, Ergebnis von dessen Reisen durch Algerien und Tunesien. Er hatte tausend fünfhundert Arten und dreihundert Unterarten von Pflanzen registriert. Er hatte Hunderte von Herbarien ins Museum gebracht. Seine Bücher wurden mit so viel hingebungsvoller Sorgfalt ausgestellt wie die Aquarelle von Redouté. Man trennte die Illustrationen heraus und rahmte sie ein. Poetische Namen kamen sowohl unter den Intellektuellen als auch in den anrüchigen Salons in Umlauf.

      Linum grandiflorum. Linum tenue.

      Lonicera biflora.

      Milium coerulescens.

      Nigella hispanica.

      Ornithogalum fibrosium.

      Panicum numidianum. Passerina nitida.

      Passerina virgata.

      Pimpinella lutea.

      Aimé Bonpland erwarb beide Bände. Er studierte die Illustrationen und fragte sich niedergeschlagen: „Was könnte größer und schöner sein als das?“

      6

      Bevor Aimé Bonplands Vater ihn nach La Rochelle und zu seinen Pflichten zurückholte, meldete dieser sich, den Kopf von Defontaines Beschreibungen erfüllt, als Freiwilliger zu der wissenschaftlichen Expedition unter Führung von Nicolas Baudin. Dieser hatte zwar einen heldenhaften Charakter, aber er dachte auch an sich selbst; er fuhr zur See, und er hatte im Unabhängigkeitskrieg für die Vereinigten Staaten gekämpft. Er sollte mit einer beachtlichen Reihe von Wissenschaftlern zu dem gerade erst entdeckten Australien segeln. Die Reise würde für das Ansehen der Revolution werben, aber seine Interessen waren kommerzieller Natur.

      Baudin hatte gelernt, wie man Tiere und Pflanzen an Bord seiner Schiffe am Leben erhalten konnte.

      Während die Reise immer weiter aufgeschoben wurde, widmete sich Aimé Bonpland der Vervollkommnung der Methoden zur Aufbewahrung botanisierter Pflanzen.

      Im Ministerium lernte er Baudin kennen. Nachdem der Kapitän durch Loblieder milde gestimmt worden war, geruhte er zu erläutern, wie es ihm gelang, Pflanzen drei Monate auf dem Schiff überleben zu lassen: die richtigen Gefäße für die Reise übers Meer, Ölhäute, um sie zuzudecken. Sogar die Art, sie zu beschneiden war anders.

      Aimé Bonpland lernte die exotischen Gewächse kennen, die eine jede Expedition in die Treibhäuser brachte. Er begriff die Eigenarten des Wachstums dieser Pflanzen. Er fand Gefallen an ihren Blüten. Sie waren Boten der weiten Welt.

      Noch bevor er das dreißigste Lebensjahr vollendet hatte, durfte man ihn einen Weisen nennen.

      „Ein Wissenschaftler“, sagte Jussieu ihm, „muss seine kindlichen Neigungen bewahren.“

      Woche für Woche sollte Aimé Bonpland Bescheid erhalten, wann Baudins Expedition aufbrechen würde, und die Auskunft war stets dieselbe. In den Briefen an seine Familie erfand er Ausreden, warum er nicht nach La Rochelle zurückkam.

      In seinem Zimmer lag er auf dem Bett, die Arme im Nacken gekreuzt, und beobachtete die schwerfällige Gangart und die Sprünge der kleinen Spinnen, die sich von Fliegen ernährten.

      Er suchte Zerstreuung in dem Buch von Desfontaines, das er abwechselnd mit Gedichten von Chateaubriand las. Weil er es so klangvoll und dramatisch fand, lernte er auswendig: „Dans les airs frémissants j’entends le long murmure de la cloche du soir qui tinte avec lenteur…“

      Dieser Augenblick, in dem man die Abendglocke läuten hört, erfüllte ihn mit Schmerz, Wollust und Angst.

      Er schaute auf die Uhr. Er stand auf. Es war Zeit, sich mit den Pflanzen zu beschäftigen. Er würde arbeiten, bis ihm die Augen zufielen und er das Bewusstsein verlor.

      Aber er war dabei nicht immer glücklich.

      Die Tochter des Hoteliers, die nur zwei Bücher gelesen hatte, liebte ihn. Sie schrieb ihrer Freundin in La Rochelle: „…du hast ihn doch in der Kindheit gut gekannt, du musst wissen, dass er noch viel von einem Kind hat, er schaut so versonnen drein, und wenn er durch den Flur geht und mir zerstreut einen guten Tag wünscht, treffen meine Augen auf die seinen, die wunderschön sind, grün, und sein Körper ist stattlich, kräftig, er ist schwer, aber nicht fett, er hat kurze, schwarze Haare, er ist höher gewachsen als der Durchschnitt, er hat starke Hände wie mein Vater. Er hat nur einen Anzug, der ihm zu weit ist und an den Ärmeln abgescheuert; wenn er nicht gerade Pflanzen untersucht oder Schmetterlinge, Käfer oder Steine und die ganze Zeit in seinem Zimmer verbringt, praktiziert er als Arzt, aber die Arbeit gefällt ihm nicht, ich glaube, er ist im Kopf nicht ganz richtig, aber ich bin so verrückt nach ihm, dass ich mich eines Tages noch vergesse…“

      7

      Hotel Boston, Paris.

      Das letzte Jahr im Jahrhundert der Aufklärung.Das kommende Jahrhundert würde ungeordnet werden und trivial.

      Es war ein Sonnabend im Sommer. Im Herbst sollte der junge Bonaparte nach der Rückkehr vom Ägyptenfeldzug angesichts des politischen Durcheinanders erklären:

      „Citoyens, la révolution est terminée!“

      Aimé Bonpland betrat das Hotel. In der Hitze der Empfangshalle fühlte er sich unwohl.

      Er kam von einem langen Ausflug zum Sammeln von Pflanzen an der Straße nach Versailles zurück. Er hatte beschlossen, sich bis zur Erschöpfung zu verausgaben, weil er keine Nachrichten erhielt, wann die Expedition Baudin aufbrechen würde.

      Er übergab seinen Hut dem Hoteldiener und holte von seinem Rücken den Korb hervor, aus dem die Zweige der Pflanzen herausguckten. Er verströmte den kräftigen Geruch der versengten Felder. Aimé Bonpland wischte sich den Schweiß von der Stirn.

      Ohne übertriebene Hast wandte er seine Aufmerksamkeit davon ab und richtete sie auf den jungen Ausländer, der im einzigen Sessel saß und mit einem spöttischen Lächeln im Journal des Dames et des Modes las, das er nur mit den Fingerspitzen berührte. Er mochte etwa dreißig Jahre alt sein, nur wenig mehr als Aimé Bonpland. Er war Deutscher und ein Mann der Wissenschaft, das sah man ihm an. Abgezehrt, aber nicht schwächlich. Seine Finger waren spitz, doch wohlgeformt. Ein Siegelring mit einem Wappen glänzte am kleinen Finger seiner linken Hand. Die blauen Augen machten einen angenehmen, freundlichen Eindruck. Die Locken fielen ihm in die Stirn, wie es damals üblich war.

      Der Fremde blickte Aimé Bonpland an.

      Er ließ die Zeitschrift auf der Armlehne des Sofas liegen und erhob sich geschmeidig und gefällig. Er kam auf Aimé Bonpland zu. Ein frischer Lavendelgeruch ging ihm voraus.

      Der Hoteldiener machte sie miteinander bekannt.

      Aimé Bonpland verneigte sich und erhielt einen kräftigen Händedruck. Er erklärte, dass er Arzt sei.

      Alexander von Humboldt stellte sich in fließendem Französisch als Preuße, Freiherr und Mann der Wissenschaft vor. Er war Eigentümer des Schlosses Tegel. Auch wenn die Mineralogie sein Hauptbetätigungsfeld war, schätzte er die Botanik; daher rührte sein Interesse an dem Korb voller Pflanzen. Er war Astronom und Geograph sowie Physiker und Chemiker.

      Er strahlte Wohlstand aus und elegante Ungezwungenheit. Ein weißes Satinband schloss den eine Handbreit hohen, weißen Kragen, darauf war ein winziger Tintenfleck zu sehen. Er trug Manschettenknöpfe aus Topas.

      Sie tauschten Visitenkarten aus. Aimé Bonpland