Gestalt im Schatten. Luiz Antonio de Assis Brasil

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Название Gestalt im Schatten
Автор произведения Luiz Antonio de Assis Brasil
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783962026172



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war nicht Rousseaus edler Wilder. Er nahm viel Geld für die beiden Früchte. In sein gebrochenes Spanisch mischte er lateinische Ausdrücke aus der Messe. Gekleidet war er so wie die Mestizen. Und er stieß wohl überlegte Verwünschungen gegen die Portugiesen aus.

      An diesem Nachmittag sah ihn Aimé Bonpland auf einem Stein sitzen. Ihm gegenüber richtete Humboldt das Wort an ihn. Der Indianer hörte ihm mit einem unterwürfigen Blick zu. Dies war es, was Humboldt ihm auf Französisch sagte:

      „Mein lieber Freund, Sie sind Teil eines Universums von Dingen, welche die Natur benötigt. Sie sind nicht weniger bedeutend als der Papst, und Sie sind wichtiger als der König, Sie könnten seinen Namen tragen. Sie sind so wichtig wie eine Blume oder ein Vogel. Sie, als Teil der Natur, haben dieselbe Freiheit, wie es sie in der Natur gibt. Niemand kann Sie domestizieren oder versklaven, so wie man Gewitter und Stürme oder wilde Tiere nicht zähmen kann. Wenn Sie verschwänden, würde es die Natur große Mühe kosten, Sie zu ersetzen. Ihre Freiheit ist kein Geschenk Gottes, sondern eher die bloße Konsequenz dessen, dass Sie am Leben sind.“

      „Alexander“, sagte Aimé Bonpland, „er versteht kein Wort.“

      „Natürlich nicht.“

      17

      Cumaná war die erste Stadt der Neuen Welt, die sie zu Gesicht bekamen. Ihre Lage am Golf von Cariaco, umgeben von Bergen und durch eine Festung geschützt, hatte in Europa nicht ihresgleichen.

      Cumaná war entsprechend dem Geschmack und den Wünschen der Reichen gebaut worden; es hatte gewundene Gassen und mit einem grünen Schleim bedeckte Ziegeldächer.

      Aimé Bonpland und Humboldt ließen sich dort nieder. Sie ließen einen Führer kommen. Humboldt mietete ein Haus mit Blick auf das Meer. Weiter zurück lag der erschütternde Sklavenmarkt.

      Sie zogen Tag für Tag aus, um zu botanisieren. Nachts beschäftigten sie sich damit, die Pflanzen zu pressen, am nächsten Morgen musste man sie in die Sonne legen, damit sie schneller trockneten, um sie dann auf Papierbögen kleben und klassifizieren.

      Sie trugen prächtige Orchideen am Revers.

      Wegen der Hitze entledigten sie sich schon bald der Jacken. Sie zogen die Westen aus. Sie legten die Krawatten ab. Sie falteten den Kragen ihres Hemdes nach unten und krempelten die Ärmel hoch. Sie ließen sich Hemden aus weißem Leinen nähen. Sie tauschten ihre schwarzen Filzhüte gegen solche aus hellem Stroh aus, deren durchscheinende Krempen ihr Gesicht in einem vagen Halbdunkel ließen.

      Die Haut von Aimé Bonpland wurde dunkler, die von Humboldt dagegen rot, als ob er vor Scham errötete.

      Humboldt zeichnete den Luftdruck, die Temperatur, die Feuchtigkeit und die Flora auf. Er stellte die genaue geographische Lage der Stadt nach Länge und Breite fest. Die Karten waren unkorrekt.

      Sie lernten den Puma kennen und die Klapperschlange sowie Hunderte von Pflanzen. Sie krochen in Höhlen hinein, wo ihnen Fettschwalme begegneten, jene großen Vögel mit ihrem schauerlichen Schrei. Sie hörten die Klagelaute der Brüllaffen.

      Sie erstiegen Berge von großer Höhe, und je höher sie kamen, desto ähnlicher wurde die Vegetation jener Europas.

      „Das ist logisch“, sagte Humboldt. „Hier oben ist es kalt.“

      Sie drangen in den nahen Urwald ein.

      Eine Gruppe lärmender Kreolen, Schwarzer und Indianer folgte ihnen.

      Aimé Bonpland zeigte ihnen die Blumen, die sie schon von Kindesbeinen an kannten. Aber in den Händen von Aimé Bonpland und in seinem Munde bekamen sie neue Namen. Sie gewannen metaphysische Dimensionen.

      Die Jüngsten unter ihnen liefen, um die Blüten von Kakteen, Orchideen, Glyzinien mit der Farbe von Kardinalsstrümpfen, Bambus, Begonien, Passionsblumen, Farnen und den seltsamen Chinarindenbäumen sammeln.

      Sie zeigten Aimé Bonpland diese Flora, wie Kinder den Älteren die von ihnen gemalten Bilder bringen.

      Es machte ihnen Freude, die neuen Namen der altbekannten Pflanzen zu hören.

      Sie bestaunten den Klang der Wörter, die Aimé Bonpland für sie hatte. Und sie kniffen die Augen vor Anstrengung zusammen, wenn sie diese hörten.

      18

      Aimé Bonpland ging, sobald sie in Cumaná angekommen waren, in eines der vielen von den Behörden tolerierten Freudenhäuser. Der Cabildo kassierte von ihnen Steuern, die unter der Hand an das Waisenhaus für Mädchen weitergereicht wurden, das die Diözese des Heiligen Thomas von Guayana unterhielt.

      Diese Lasterhöhlen lagen um den Hafen herum. Selbst aus der Ferne hörte man schlüpfrige Lieder und Gitarrenklänge. Dort konnte man seinen Ruf verlieren und alle Krankheiten der Welt erwerben.

      Aimé Bonpland verspürte einen unwiderstehlichen Drang, er war jung, und die Reise war lang und gefährlich gewesen. Seine Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt.

      Binnen einer halben Stunde kam sein Körper zur Ruhe.

      Auf dem Rückweg hatte er noch den Duft von Vetiveröl im Haar. Er ging durch die von Laternen, die man in die Nischen des Mauerwerks gestellt hatte, nur spärlich beleuchtete Straße. Er trällerte ein Lied.

      Als er die Haustür öffnete, sah er, dass im Salon Licht war.

      Humboldt saß in Unterhosen und Pantoffeln mit nacktem Oberkörper da, wedelte mit einem Strohfächer, um die Moskitos zu verscheuchen, und las in einem unglaublich dicken Buch. Jacke und Hemd hingen über der Lehne eines Sessels. Er hob den Blick nicht, als Aimé Bonpland hereinkam, aber er sagte:

      „Aimé könnten Sie einen Augenblick Platz nehmen?“

      Aimé Bonpland setzte sich Humboldt gegenüber. Er schlug die Beine übereinander. Er sah, wie der andere das Buch schloss, es auf den Tisch legte, die Brille abnahm, langsam die goldenen Bügel einklappte und sie in das Schildpattetui steckte, und wartete ab.

      Humboldt schaute ihm in die Augen.

      „Aimé, mein lieber Aimé, hochgeschätzter Aimé, niemand entwickelt eine Theorie, wenn er sich unkontrolliert der Fleischeslust hingibt. Das Gehirn muss sich auf seine edlen Aufgaben konzentrieren.“

      Noch bevor Aimé Bonpland antworten konnte, setzte er hinzu:

      „Frauen verdienen, dass man sie in der Gesellschaft in Ehren hält, und sie sind uns willkommene Gefährtinnen, besonders wenn sie klug sind. Aber nur Männer können uns wirklich verstehen, denn sie sind wie wir. Das mag Ihnen abwegig erscheinen.“

      „In der Tat.“

      „Ich weiß schon, dass ich niemals überwachen sollte, was Sie tun. Ich bin tolerant und habe stets für die Freiheit gekämpft. Ich bin ein Mann der Wissenschaft. Ich kenne die biologischen Funktionen. Es muss zwei gegensätzliche Geschlechter geben, damit die Arten überleben.“

      „Ja.“

      „Ich bitte Sie, keine Befürchtungen zu hegen. Ich habe die Abstinenz schätzen gelernt. Es genügen mir Ihre angenehme Gegenwart, Aimé, Ihre Gesellschaft, Ihre schöne Stimme und Ihre Worte, Ihr Talent und Ihr Wissen. Es genügt mir, dass Sie mir treu sind und dem, was wir zusammen aufbauen werden. Gestatten Sie mir indessen, mich von dem Schönen anrühren zu lassen, wo es mir begegnet.“

      Humboldt stand auf und reichte ihm die Hand.

      „Bleiben wir dabei, für immer?“

      „Ja, Alexander.“ Aimé Bonpland drückte Humboldt die Hand.

      Aimé Bonpland sagte nichts mehr. Aber etwas war geschehen.

      Im Bett wartete er auf den Schlaf. Er dachte an diesen Abend und die Stunden, die er seit dem Anbruch der Dämmerung erlebt hatte.

      Er verließ das Zimmer mit einer angezündeten Lampe in der Hand, ging in den dunklen Flur und blieb