Название | Gestalt im Schatten |
---|---|
Автор произведения | Luiz Antonio de Assis Brasil |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783962026172 |
Vor ihnen lagen der Geruch der Meeresluft und der Atlantische Ozean, in dichter Finsternis.
An den Tagen mit starkem Wind hörte man die Takelage zwischen den gewachsten Masten knarren.
Der Bug senkte sich bis ins Meer hinab. Das Wasser schoss über das Deck, floss bis zum Heck und in den Laderaum. Dann hob sich der Bug wieder, bis das aufgewühlte Wasser Regenbögen aufleuchten ließ, die sich in bunte Teile auflösten.
Humboldt maß die Temperatur und die Luftfeuchtigkeit, die Wassertemperatur, den Luftdruck, die Stellung der Sterne und die Position des Schiffes nach Längen- und Breitengrad.
Man sah ihn auf das Deck steigen, gleichgültig gegenüber Seegang und Seekrankheit. Er war unermüdlich. Niemand tat es ihm gleich, aber es beneidete ihn auch keiner; hinter dieser eisernen Gesundheit musste etwas Furchtbares stecken.
Es war eine schwüle Nacht, die einen Sturm ankündigte.
Schlaflos ging Aimé Bonpland an Deck. Humboldt bemerkte ihn und machte ihm ein Zeichen, langsam zu kommen. Er legte den Finger auf die Lippen.
Aus der Ferne beobachtete sie der Steuermann.
Leicht hob Humboldt den Finger vom Mund, zeichnete das Segment einer Ellipse und zeigte nach oben zur Spitze der Masten.
Da waren sie: In einer verwirrenden Choreographie flogen weiß-bläuliche Lichter von einem Mast zum anderen, verschmolzen miteinander, tanzten, zitterten, bildeten Knäuel, die herumwirbelten und sich wieder auflösten, um sich dann wieder zu verschlingen. Sie hielten inne und pulsierten. Dann nahmen sie ihren Tanz wieder auf, in einer unaufhörlichen, sich ständig verändernden Bewegung. Aimé Bonpland kannte sie. Es waren die Elmsfeuer.
Humboldt entzündete eine Kerze. Er zeigte auf seinen Taschenkompass. Die Nadel zitterte fiebrig.
„Man sieht, dass es ein elektromagnetisches Phänomen ist“, sagte er.
„Warum wollten Sie, dass ich kein Geräusch mache?“
„Es gibt gewisse Dinge, die so schön sind, dass man sie schweigend betrachten muss.“
So standen die Dinge, als sie an den Kanarischen Inseln anlegten und den Vulkan El Teide bestiegen. Von den vergangenen Ausbrüchen waren Ströme erkalteter Lava und große Mengen schwarzer Asche zurückgeblieben.
Nur mit Mühe konnten sie atmen, ihr Gehirn war von der dünnen Luft und dem steilen Aufstieg leicht benebelt, sie zitterten vor Kälte; so betrachteten sie das Meer und die Inseln um sie herum.
„Psst!“, sagte Humboldt und flüsterte: „Das ist das erste Mal, das jemand mit unseren Kenntnissen diese Szenerie sieht.“
Bald darauf begann Humboldt aufzuzeichnen, wie sich die Vegetation in dem Maße, wie sie tiefer hinabstiegen, veränderte: Auf das Fehlen von Leben ganz oben folgten Büsche, Kiefern, Wälder von Pappeln und Lorbeerbäumen, Weinberge, Feigenbäume und Dattelpalmen.
Am Fuße des Berges sagte er zu Aimé Bonpland inmitten von üppigen Bananenplantagen in großer Hitze:
„Sehen Sie! Die Bananenstauden hier würden auf dem Gipfel des Berges nicht gedeihen, nur auf dieser Höhe.“
15
Eine Typhusepidemie an Bord des Schiffes führte dazu, dass der Kapitän den Plan aufgab, nach Kuba zu segeln. Sowohl Mitglieder der Besatzung als auch Passagiere erlagen der Krankheit und wurden über Bord geworfen.
Humboldt begleitete unter Deck das Leiden und Sterben eines neunzehnjährigen jungen Mannes, den er ins Herz geschlossen hatte.
Es fiel ihm schwer, wieder an Deck zu gehen. Er hatte rotgeweinte Augen. Lange betrachtete er den Horizont.
„Er war so jung, Aimé“, sagte er, „so jung und so schön. Aber das ist wohl das Los der Schönheit.“
Als Aimé Bonpland ihn am nächsten Tag tief die Morgenluft einatmen sah, betrachtete er ihn als genesen.
Sie nahmen Kurs auf Cumaná im Norden von Südamerika.
Das dortige Meer kennen die Seeleute gut. Da sind die Seewege wie Straßen auf offenem Gelände.
„Die Änderung unseres Ziels soll uns recht sein“, sagte Humboldt, „Für das, was wir brauchen, ist jedweder Landstrich von Nutzen. Das gibt uns die Gelegenheit, den Orinoco und seine Verbindung mit dem Amazonas zu erforschen. Den Casiquiare, erinnern Sie sich?“
Schon am Vortag hatte der Kapitän der Pizarro angekündigt, dass sie bald Land sichten würden. Indessen war nichts davon zu sehen. Das Schiff segelte in einer weißen Wolke von Nebel.
Sie hörten die Schiffsglocke am Heck läuten und das Geschrei der Männer.
Aimé Bonpland und Humboldt liefen zur Reling an der Backbordseite. Es war der Hafen von Cumaná.
Endlich waren sie in der Neuen Welt.
Das Schiff legte ohne Schwierigkeiten an.
„Schön“ riefen beide wie aus einem Munde. Aber Wörter sind nur Schall.
Aimé Bonpland spürte Humboldts Arm auf seiner Schulter.
„Sehen Sie nur! Schauen Sie sich das mit mir zusammen an! Eine solche Schönheit ist zu viel für einen einzelnen Menschen.“
Die Neue Welt, das war ein tiefblauer Himmel, eine angenehme Temperatur, eine Vegetation aus Dattel- und anderen Palmen, Mangobäume zuhauf, Sklaven mit bunten Tüchern um die Taille, Kolonialherren mit breiten Hüten. Aber außerdem gab es dort das Weiß der Kalkfelsen, Kakteen, rosafarbene Flamingos, Pelikane mit weißlichem Gefieder und über der Landschaft umherschweifende Reiher.
Aimé Bonpland wandte sich zu Humboldt um. Starr vor Staunen schaute dieser das Land an. Sein Blick sagte: „Ich sehe, ich höre, ich fühle, aber ich kann es nicht glauben.“
Aimé Bonpland wusste:
Alsbald würde Humboldts Blick beginnen, diese verwirrende Vielfalt zu sichten und ihren Sinn zu erfassen. Alles würde seinen Platz in der weltumspannenden Ordnung finden.
Sie gingen von Bord. Die anderen Passagiere versuchten, sich aus dieser infizierten Umgebung in Sicherheit zu bringen.
Die Windstille im Hafen bewirkte, dass die Gerüche schwer in der Luft hingen: Es roch nach Gebratenem, dazu kamen Körperausdünstungen, vermischt mit aromatischen Düften nach Moschus und Weihrauch.
Aimé Bonplands Blicke verloren sich in dem Geflecht der harten Blätter, das seine Finger ertastet hatten, und den Kondenswassertropfen auf den Zweigen der Mimosen.
Sie verließen den Hafen. Aimé Bonpland pflückte die erste Art der Neuen Welt. Es war eine Mangrove: die Avicennia tomentosa.
Benommen von so viel Neuem, hielten sie sich nicht bei einer Pflanze auf, sie eilten zur nächsten. Sie liefen Gefahr, sich nie mehr auf etwas konzentrieren zu können.
Die Luft war gesättigt von Feuchtigkeit. Das Hemd klebte ihnen auf dem Rücken und an der Brust.
Aimé Bonplands Blick blieb an dem schwirrenden Flug der Kolibris hängen, die er nur von den blassen Abbildern auf Aquarellen kannte. Jetzt sah er sie in all ihrer Farbenpracht, der ein wenig Purpur mit einem irisierenden Seidenglanz beigemischt war: Grün, Kobaltblau, intensives Rot, Gelb und Tiefschwarz.
„Das ist ein einzigartiger Vogel, Alexander. Es ist unmöglich, dass er fliegen kann, und dennoch fliegt er“, sagte er.
16
Sie erblickten zum ersten Mal in ihrem Leben einen Indianer.