Tatort Alpen. Michael Gerwien

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Название Tatort Alpen
Автор произведения Michael Gerwien
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783734994869



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      Dann kam der Geruch und mit ihm Birne was Verwegenes in den Sinn: Kebab. Er war erwachsen, er konnte sich alles zum Essen kaufen, er konnte sich überall hinsetzen, er konnte asiatisch haben, doch Kebab, den roch er jetzt, Kebab wollte er jetzt haben und sich vorstellen, wie Werner darüber schimpfte, dass man so etwas aß, dass man so etwas überhaupt kaufen könne, sich vorzustellen, wie Tim, wäre er jetzt bei ihm, darüber sein Gesicht knetmassenverziehen würde, dann doch mitginge und die halbe Semmel angeekelt liegen ließe und die andere, die eben verzehrte Hälfte mit Cola-light wegspülte, zumindest den Geschmack, zumindest aus dem Mund. Und Sigrid? Sigrid würde ihn für verrückt erklären. Kebab! Da könnte er ja gleich den Rinderwahnsinn mit Löffeln fressen.

      Birne betrat den kleinen, blau gekachelten Laden und richtete seine Augen nach oben, über die Theke, von wo ihn das Angebot anstrahlte. Er konnte vieles haben, auch Vegetarisches und Pommes, aber er wollte Kebab im Fladenbrot, Döner für 3,30 in der Tasche. Er senkte seinen Blick nicht so weit, dass er auf den Salaten und Süßgebäcken der Auslage vor ihm zu ruhen kam, nein, nur so weit, dass er der Verkäuferin, die allein war, in die tiefmelancholischen Augen sehen konnte. Und Birne müsste sich täuschen, wenn in ihrem Blick nicht mehr lag als das gewöhnliche Interesse einer Verkäuferin am Wunsch eines sicheren Kunden. Da lagen ein größeres Wollen, ein tieferes Kennen und ein Drang zu reden darin, die Birne verwirrten, weil er nicht wusste, woher das herrührte, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass jemand etwas mehr von ihm wollte. Woher auch? Birne sagte: »Kebab bitte.«

      Sie sagte: »3,30 bitte, zahlen Sie beim Gehen«, und machte sich ans Werk, schnitt Fladenbrot und schaute kurz zu ihm auf, schob Fladenbrot in den Ofen und schaute, schnitt Fleisch mit einem großen Messer vom Drehgrill und hätte geschaut, doch Birne setzte sich jetzt an einen Barhocker an der Wand vor einem großen Stehtisch und drehte zum Spielen den Chilipulverstreuer in dem Aschenbecher, in dem er stand, nur um nicht angeblickt zurückblicken zu müssen und den Beschluss »heute Kebab« zu bereuen. Er wollte vor allem und wie gesagt viel Ruhe vor den Menschen. Vor allem vor den fremden.

      Aber die hier schaute ihn an, als ob sie ihn kennen würde. Woher nur?

      Es war übrigens sonst niemand in dem Laden. Ob der Döner hier nicht gut war? Birne war das egal, er fand Leute albern, die sich Tage darüber streiten konnten, wo Kebab besser war, welches Bier trinkbar, welches bestenfalls Radler-geeignet war, welche Comics nur früher gut waren und welche man heute immer noch lesen konnte. Waren ihm alle zu albern, diese Diskussionen. Aber diese Gedanken freuten ihn, die kamen ihm nur, weil er allein war im Kebabladen und nicht redete.

      Warum schaute die ihn dauernd an?

      Die Tür ging auf, zwei Kinder stürzten herein, konnten acht und zehn sein, und beinahe hatte Birne ein Aha- Gefühl, das verflog, bevor es sich manifestierte, als die Mutter und Kebabverkäuferin die Kleinen auf Deutsch fragte, wie es in der Schule gewesen sei und das Mädchen fröhlich antwortete: »Wir haben eine Probe geschrieben, die war kinderleicht.« Die Mutter freute sich, strich ihrer Tochter übers Haar, und der Bub sagte etwas Wütendes auf Türkisch, was die Mutter mit einer strengen Frage beantwortete, auf die der Junge wiederum im verteidigenden Ton antwortete. Einen Satz sagte die Mutter noch auf Türkisch und dann auf Deutsch und, Birne war sich sicher, nur für ihn: »Nur weil wir Türken sind. Ich werde mit ihm reden, und jetzt macht eure Hausaufgaben.«

      »Was ist mit Papa?«, wollte das Mädchen wissen.

      »Es ist alles in Ordnung, Papa kommt bald wieder nach Hause, macht euch keine Sorgen, macht Hausaufgaben. Bitte.« Und wieder ein Blick zu Birne, düster und mit dem Hauch eines Begehrens, keines fleischlichen.

      Die Kinder verschwanden nach hinten. Die Frau legte ihm seinen Kebab auf einen Teller und stellte diesen vor ihn hin.

      »Schlimm, was passiert ist, nicht?«

      Birne wusste nicht, was gemeint war und hielt es für sicher »Ja, schlimm« zu sagen.

      Die Frau begann zu schluchzen. Birne wurde verlegen. Was war Schlimmes passiert? Während er überlegte, fiel es ihm ein: die Kinder, die dunkle Frau, die Treppe. Er hatte es hier mit seiner Nachbarin aus dem Erdgeschoss zu tun. Sie hatte Angst, weil ein Mord in ihrem Haus begangen worden war und weil ihr Mann nicht da war, verstand Birne. Wieso hatte er eigentlich keine Angst? Weil er ein kräftiger junger Mann war, der Schränke aus Kellern in erste Stockwerke tragen konnte, weil bei ihm nichts zu holen war, weil ein Mörder nicht zweimal im gleichen Haus zuschlägt? Wieso eigentlich nicht?

      »Ich glaube, es ist überstanden«, versuchte er zu beruhigen.

      »Gar nichts«, sagte die Frau unter nicht mehr zurückhaltbaren Tränen.

      »Nana.« Birne. »Zufällig kenne ich den Kommissar; der sagt, sie haben den Mörder wahrscheinlich.«

      »Ja«, jetzt schrie die Frau laut auf, und Birne wusste, dass er was Falsches gesagt hatte, bevor sie sagte: »Sie haben meinen Mann.«

      Sie hatten ihren Mann. Wie kamen sie denn darauf?

      »Wie kommen die auf Ihren Mann?«

      »Weil wir Türken sind.«

      Irgendetwas hatte Birne noch nicht begriffen oder wusste er noch nicht.

      Birne biss in seinen Kebab, während er der weinerlichen Stimme der Frau zuhörte. Ihr Mann sei unschuldig, sie sei ein Opfer, was solle denn aus den Kindern werden, der Einzige, der ihr noch bleibe, sei der Bruder, sie, die ganze Familie seien immer in bester Stimmung mit Frau Renate Zulauf gewesen, sie habe ihr sogar verraten, wo ihre Ersparnisse seien, falls mal was sei. Wenn ihr Mann aus Habgier geräubert hätte, dann wäre das Geld doch jetzt weg.

      Da war was dran, das musste Birne zugeben.

      »Uns geht es nicht schlecht mit dem Geld, nicht rosig, aber auch nicht schlecht. Kinder können auf die Schule, unser Laden läuft. Schauen Sie. Mein Mann hätte nie wegen Geld einen Einbruch gemacht und schon gar nicht einen Mord. Schauen Sie, es geht uns gut.«

      Kundschaft – drei Jugendliche mit amerikanischen Pullovern und weiten Hosen und kurz rasierten Köpfen – betraten den Laden und einer schrie: »Mahlzeit! Döner an die Männer!« Sie lachten jugendlich, hielten sich für die Könige des Humors und die Könige des Humors für die der Welt. Sie stemmten ihre krummen Rücken mit den Ellbogen auf einen Stehtisch in der Ecke Birne gegenüber. Einer, ein Blasser, grinste zu Birne herüber. Birne wusste nicht, was der wollte und grinste nicht zurück. Der Junge sagte etwas Leises, das klang wie »Sag halt ›Hallo‹, du Arschloch«, oder so ähnlich. Birne bekam ein bisschen Angst und konzentrierte sich auf seinen Döner.

      »Sofort«, sagte die kleine Frau und verschwand hinter der Theke. Sobald die drei Buben am Stehtisch mit Gewürzen ihre Sandwichs verschärften, war sie wieder bei Birne.

      »Wieso erzählen Sie das nicht der Polizei?«

      »Das hat keinen Sinn. Die hören nicht auf eine kleine Frau wie mich und erst recht nicht auf eine ausländische und auch nicht auf meinen Mann. Die sind alle rechtsradikal.« Sie senkte ihre Stimme bei diesen Worten, damit die andere Kundschaft sie nicht hören konnte. Die Buben hatten doch was verstanden und spitzten die Ohren. »Helfen Sie mir.«

      »Was kann ich tun?«

      »Ihr Essen geht aufs Haus. Wollen Sie noch was trinken?«

      »Nein, danke.«

      Sie ging zum Kühlschrank, nahm eine Plastikflasche Fanta heraus und brachte sie Birne.

      »Hey, wir wollen auch Fanta!«, brüllte einer der Drei, ein ziemlich Dicker mit dunklem Haar und rotem Gesicht und Kugelaugen, die ihm beinahe davon kullerten.

      »Könnt ihr haben, müsst ihr bezahlen«, sagte die Herrin des Ladens mit schwacher Stimme, die auch Angst verriet, eine Angst, die sie nie gehabt hätte, wäre ihr Mann da gewesen.

      »Nein, wir wollen sie umsonst wie der Spacko da drüben«, schrie der junge Fettsack.

      »Nein, ihr müsst bezahlen.«

      Zivilcourage, dachte sich Birne, Zivilcourage.

      Auf