Bewegungen, die heilen. Harald Blomberg

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Название Bewegungen, die heilen
Автор произведения Harald Blomberg
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783954841400



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die schwedischen Steuerzahler weiter zahlen müssen. Und schwedische Kinder werden ohne Einschränkungen und ohne positive Wirkungen auf lange Sicht weiterhin unter Medikamente gesetzt werden. Doch diese Medikamente werden zweifellos eine Menge Schaden anrichten, der im Einzelfall umso größer sein wird, je länger die Medikation fortgesetzt werden darf.

      KAPITEL 2

      Eine alternative Sichtweise und Behandlung von ADHS

      Durch sorgfältige Beobachtung unserer Kleinsten ist es möglich, die Aufmerksamkeitsstörung und ihre Behebung von einer anderen Seite zu betrachten: Es ist normal, dass Kinder im Alter von etwa 1 Jahr ein ähnliches Verhalten wie ADHS-Kinder zeigen, wenn sie sich frei bewegen dürfen und nicht lange Zeit am Stück in Babystühlen oder Auto-Kindersitzen sitzen müssen!

      Sie sind in Bewegung, klammern sich fest und klettern und haben Probleme damit, still zu sitzen. Sie sind impulsiv, leicht abzulenken und verlieren schnell das Interesse an dem, was sie tun. Sie können schlecht zuhören und haben Schwierigkeiten damit, Anweisungen zu befolgen und ihre Aktivitäten zu organisieren. Sie können ihre Emotionen und ihr Temperament schlecht steuern.

      „Aufmerksamkeitsprobleme“ und Überaktivität bei normalen Babys

      Anders als ältere Kinder mit einer ADHS-Diagnose können normale Kinder ihre Aufmerksamkeitsstörung und Hyperaktivität mit zunehmendem Alter ganz allein bewältigen und überwinden. Wie kommt es, dass Kinder, deren Verhalten sich normal entwickelt, sich von Kindern mit ADHS unterscheiden, und welches „geheime“, den Experten unbekannte Wissen ermöglicht es ihnen, ihre Aufmerksamkeitsprobleme zu überwinden?

      Sollte es etwa stimmen, dass Kinder mit ADHS unter einem genetisch bedingten Mangel an Transmittern im Gehirn leiden, oder könnte es noch andere, einleuchtendere und weniger weit hergeholte Erklärungen geben?

      Das plastische Gehirn

      Der englische Geburtshelfer und Forscher Robert Winston hat viele populärwissenschaftliche Bücher geschrieben und Fernsehserien gemacht. In seinem Buch The Human Mind [zu Deutsch etwa: Der menschliche Verstand] beschreibt er die Regenerationsfähigkeit des Gehirns und bezeichnet es als plastisches Gehirn.

      Bereits in den 1940er-Jahren haben Hirnforscher herausgefunden, dass die Kommunikation zwischen Neuronen in beide Richtungen verläuft: Wenn eine Hirnnervenzelle (ein Neuron) ein Signal von einem anderen Neuron erhält, gibt es das Signal an andere Neuronen weiter und meldet gleichzeitig ein Signal an die ursprünglich aussendende Zelle zurück.

      Ist dieser erste Prozess vorüber, beginnt ein anderer. Die betroffenen Neuronen vervielfältigen ihrerseits die Verbindungen miteinander, indem sie neue Nervensynapsen bilden und ihr Angebot an Transmitterstoffen erhöhen, wobei das Feuern von Nervensignalen im neuen Muster erleichtert wird:

      „Dieser Feedback- und Lernmechanismus des Gehirns bedeutet, dass jede Nervenverbindung des Gehirns darüber informiert wird, in welchem Ausmaß sie zum Endergebnis der Kommunikation beigetragen hat, … um das nächste Mal neue Nervenverbindungen zu schaffen und mehr Transmitterstoffe freizusetzen.“17

      Das Gehirn eines Babys ist noch nicht entwickelt

      Das Gehirn von Babys ist noch sehr unreif. Beim Neugeborenen funktioniert nur der Hirnstamm ordnungsgemäß, während die anderen Teile nur in geringem Maße genutzt werden. Bevor ein Mensch sein ganzes Gehirn nutzen kann, müssen sich Axone zwischen den Gehirnnervenzellen entwickeln und die Nervenfasern eine isolierende Myelinscheide bilden, sodass ein Netz entsteht. Die Gehirnreifung findet während der gesamten Kindheit statt; der wichtigste Zeitraum, in dem der Grund für die spätere Entwicklung gelegt wird, ist jedoch das allererste Lebensjahr. Schätzungen zufolge bilden sich im Gehirn eines Neugeborenen in jeder Lebensminute mehr als 4 Millionen Axone.

      Nervenzelle mit Axon und Myelinscheide

      Dieser Prozess geschieht nicht von selbst. Damit die Verzweigung und Myelinisierung stattfinden kann, muss das Gehirn von den Sinnen stimuliert werden, insbesondere von Gleichgewichtssinn, Tastsinn und Tiefensensibilität. [Tiefensensibilität = Wahrnehmung bestimmter Reize aus dem Körperinneren; auch als Eigenwahrnehmung des Körpers bezeichnet; sie umfasst im Einzelnen Lagesinn, Kraftsinn und Bewegungssinn. – Anm. d. Übers.] Das Baby erhält diese Stimulation durch die Berührung und das Wiegen der Eltern sowie durch ständige alterstypische rhythmische Eigenbewegungen. Diese entwickeln sich in bestimmter Reihenfolge nach einem angeborenen Programm mit individuellen Variationen. Umdrehen, Robben, Schaukeln und Krabbeln auf allen Vieren sind wichtige Abschnitte dieser Entwicklung. Die Stimulation, die das Gehirn des Babys im ersten Lebensjahr durch solche rhythmischen Bewegungen erfährt, ist für die spätere Entwicklung und Reifung des Gehirns von fundamentaler Bedeutung.

      Mit der zahlenmäßigen Zunahme der Nervenverbindungen und Synapsen des Gehirns nehmen weitere Gehirnteile ihre Funktionen auf, in neuen Nervenmustern, die durch die Bewegungen des Kindes stimuliert werden. Wie oben beschrieben, setzt sich dieser Prozess automatisch fort, selbst wenn die Nervenzellen nicht direkt stimuliert werden. Gleichzeitig werden alten Verhaltensmustern entsprechende Nervenverbindungen, die das Kind nicht mehr braucht, reduziert.

      Bei Kindern, die auf diese Weise nicht genügend stimuliert wurden, ist die Gehirnreifung verzögert oder beeinträchtigt. Eine so verzögerte Entwicklung kann sich in Gestalt der Aufmerksamkeitsstörung mit oder ohne Hyperaktivität zeigen.

      Das dreigliedrige Gehirn

      Der amerikanische Wissenschaftler Paul MacLean hat – wie bereits erwähnt – die Gehirnentwicklung von Reptilien, Säugetieren und Menschen studiert. Nach seinen Erkenntnissen besteht das menschliche Gehirn aus drei Schichten, die den Hirnstamm umgeben bzw. überlagern. Der Hirnstamm ist Teil des „neuronalen Fahrgestells“, von dem MacLean sprach und zu dem auch das Rückenmark gehört. Die drei Schichten des dreigliedrigen Gehirns umgeben den Hirnstamm sozusagen wie Zwiebelschalen.18

      Laut MacLean könnte man das „neuronale Fahrgestell“ mit einem fahrerlosen Auto und die drei den Hirnstamm umgebenden Strukturen mit drei „Maschinenführern“ oder Fahrern vergleichen – jeder mit einem eigenen Intellekt, einer eigenen Speicherbank und anderen Funktionen ausgestattet.

      Oberhalb des Hirnstamms liegt das reptilienhafte Gehirn, das den im Zuge der Evolution von Reptilien entwickelten neuen Hirnteilen entspricht. Beim Menschen besteht das reptilienhafte Gehirn unter anderem aus den Basalganglien, zu deren Aufgaben die Steuerung der Haltungsreflexe gehört, das heißt, unsere Fähigkeit zu gehen, zu stehen und das Gleichgewicht zu halten.

      Das reptilienhafte Gehirn muss auch die „primitiven“ Reflexe hemmen, angeborene, stereotype, vom Hirnstamm gesteuerte Bewegungsmuster. Die primitiven Reflexe bilden die Bewegungen des Fötus und des Neugeborenen und müssen in die Haltungsreflexe umgewandelt werden, damit das Kind aufstehen, laufen und das Gleichgewicht halten kann. Die Basalganglien regulieren auch den Aktivitätsgrad des Kindes und sorgen dafür, dass es nicht die meiste Zeit „auf Touren“ ist.

      Auf dem reptilienhaften Gehirn sitzt das limbische Gehirn, das unter anderem unsere Emotionen, unser Gedächtnis, das Lernen und Spielen steuert. Dieses wird vom Neokortex umschlossen, dem Sitz unserer rationalen, kognitiven Funktionen. Signale aus den Sinnesorganen müssen beim Neokortex ankommen und dort verarbeitet werden, damit wir wahrnehmen, was um uns herum vor sich geht, und bewusst handeln können. Der vorderste Teil des Neokortex, der präfrontale Kortex, ist für Urteilsfähigkeit, Aufmerksamkeit, Entschlusskraft und Impulskontrolle von entscheidender Bedeutung.

      Die Bedeutung der rhythmischen Bewegungen für die Vernetzung des Gehirns

      Bei der Geburt sind alle Bestandteile des dreigliedrigen Gehirns ausgebildet, arbeiten aber noch nicht ordnungsgemäß. Damit sie als Einheit