Bewegungen, die heilen. Harald Blomberg

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Название Bewegungen, die heilen
Автор произведения Harald Blomberg
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783954841400



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die das Wachstum und die Verzweigung der Nervenzellen sowie die Myelinisierung der Nervenfasern stimulieren.

      Dazu ist ein ausreichender Muskeltonus erforderlich. Damit dieser sich ausbildet, muss das Kind berührt, umarmt und geschaukelt werden und es muss sich frei bewegen dürfen. Diese Art der Stimulation sendet Signale aus den Sinnesorganen zum Tastsinn, dem Gleichgewichtssinn und zur Tiefensensibilität, zu denjenigen Zentren des Stammhirns, deren Aufgabe die Regulation des Muskeltonus ist. Wird ein Baby in dieser Hinsicht wenig stimuliert, ist der Tonus seiner Streckmuskeln schwach.19 Dadurch kann es Schwierigkeiten haben, den Kopf und die Brust zu heben und sich zu bewegen, was wiederum die Stimulation weiter herabsetzt, sodass es in einen Teufelskreis gerät …

      Kann sich das Baby nicht frei bewegen, wird der Neokortex über das retikuläre Aktivierungssystem des Stammhirns (RAS) zu wenig stimuliert. Die Aufgabe dieses Systems ist es, den Neokortex anzuregen, in Gang zu setzen. Geschieht dies nur ungenügend, wird das Kind schwerfällig und unaufmerksam gegenüber sensorischen Signalen. Außerdem entwickeln sich dann die Nervenzellen und Nervennetze des Neokortex nicht richtig.

      Auch das Kleinhirn ist wichtig für die Vernetzung des Gehirns und die Fähigkeit, aufmerksam zu sein. Die Aufgabe des Kleinhirns besteht darin, für rhythmische, koordinierte und fließende Bewegungen zu sorgen. Vom Kleinhirn aus führen wichtige Nervenverbindungen zum präfrontalen Kortex und zu den Sprachzentren im Frontallappen der linken Hemis­phäre.

      Bei der Geburt ist das Kleinhirn noch nicht entwickelt; es wächst ab dem sechsten Monat beträchtlich. Die rhythmischen Bewegungen des Babys entwickeln die Nervennetze und Nervenzellen des Kleinhirns und seine Verbindungen zu den Frontallappen. Das ist ein Grund dafür, dass diese rhythmischen Bewegungen so wichtig sind für die Vernetzung des Stirnhirns und für Fähigkeiten wie Aufmerksamkeit und Sprechen.

      Warum es Babys schwerfällt, still zu sitzen und aufmerksam zu sein

      Die Nervennetze des Gehirns sind, wie erwähnt, noch nicht entwickelt und die verschiedenen Schichten des Gehirns sind noch nicht verbunden; das erklärt, dass Kinder sich nicht wie kleine Erwachsene verhalten. Kinder können ihre Aufmerksamkeit nicht lange aufrechterhalten und sich nicht lange auf eine bestimmte Aufgabe konzentrieren oder ihre Impulse steuern, weil eben die Nervennetze des Neokortex und insbesondere der Frontallappen noch nicht entwickelt sind.

      Kinder haben Probleme damit, ihren Aktivitätsgrad zu steuern; normalerweise sind sie im Alter von 10 bis 12 Monaten die meiste Zeit in Bewegung und tun sich schwer damit, still zu sitzen. Eine Aufgabe der Basalganglien ist es, den Aktivitätsgrad zu steuern. Da sie sich noch nicht richtig entwickelt haben und nicht mit den anderen Ebenen des Gehirns vernetzt sind, wirken die meisten normalen Babys in diesem Alter überaktiv.

      Dagegen werden Babys, die sich aufgrund eines schwachen Muskeltonus nicht ausreichend bewegen können, eher schwerfällig, hypoaktiv, unaufmerksam und sie entwickeln sich spät.

      Ähnlichkeiten zwischen Babys und ADHS-Kindern

      Wie aufgezeigt sind Aufmerksamkeitsdefizit-Probleme und Hyperaktivität gemeinsame Merkmale von ganz kleinen Kindern und solchen, die unter ADHS leiden. Bei beiden Gruppen gibt es viele Anzeichen dafür, dass die Basalganglien (noch) nicht richtig arbeiten; dazu gehören Schwierigkeiten, den Aktivitätsgrad zu steuern, sowie Probleme mit primitiven Reflexen und dem Gleichgewicht.

      Es ist außerdem bekannt, dass Kinder mit Aufmerksamkeitsstörungen nicht in der Lage sind, einfache Bewegungen rhythmisch und fließend auszuführen, was darauf hinweist, dass die Nervennetze des Kleinhirns sich nicht richtig entwickelt haben. Da das Kleinhirn für die ordnungsgemäße Funktion der Frontallappen von wesentlicher Bedeutung ist, kann dieses Unvermögen ein entscheidender Faktor hinter den Problemen mit Aufmerksamkeit und Impulsivität sein.

      Viele Kinder mit ADHS haben einen schwachen Muskeltonus und eine vorn übergebeugte Körperhaltung; das führt zu Flachatmigkeit und ungenügender Aktivierung des Neokortex. Solche Kinder können zwischen Hyperaktivität und Passivität schwanken, wobei die Hyperaktivität eine Möglichkeit darstellt, den Neokortex durch Bewegung zu stimulieren.

      Die Aufmerksamkeitsstörung als verzögerte Gehirnreifung

      Wie wir gesehen haben, betrachten die „Experten“ ADHS als genetisch bedingt. Eine alternative Betrachtungsweise wäre, dass die entsprechenden Verhaltensmerkmale Folgen eines verzögerten oder behinderten Gehirnreifungsprozesses sind. Aus irgendeinem Grund wurde das Gehirn des Kindes nicht genügend stimuliert, sodass die Neuronen zu wenig Axone und neue Synapsen bilden konnten. Ein Mangel an Stimulation kann auch die Myelinbildung um die Nervenfasern blockieren. Reicht die Myelinisierung nicht aus, wird die Geschwindigkeit der Weiterleitung von Nervensignalen beeinträchtigt. Zusammen kann dies die Entwicklung der verschiedenen Hirnteile und ihre Vernetzung blockieren und die Gesamtfunktion des Gehirns behindern.

      Alles, was die motorische Entwicklung des Kindes blockiert und seine Bewegungen behindert, blockiert auch die Entwicklung des Gehirns. Es gibt viele Umstände, die die motorische Entwicklung eines Kindes beeinträchtigen können: Frühgeburt, Verletzung des Gehirns bei der Geburt, erbliche Faktoren, Impfungen, elektromagnetische Felder und Mikrowellen von Mobiltelefonen, Toxine oder Krankheiten. Solche Faktoren können dazu führen, dass das Kind wichtige Schritte seiner motorischen Entwicklung auslässt und die Entwicklung und Reifung des Gehirns erschwert wird.

      Sorgen die Angehörigen oder Bezugspersonen des Kindes nicht für genügend Stimulation, wird es also ohne Anregung des Tast- und des Gleichgewichtssinns sich selbst überlassen oder muss es übermäßig lange in Babystühlen, im Laufstall oder in einer Babyschale fürs Auto sitzen, anstatt seinem Bewegungsdrang auf dem Fußboden nachzugehen, wird die ordnungsgemäße Reifung des Gehirns ebenfalls behindert.

      Nachreifung des Gehirns mit rhythmischen Bewegungsübungen

      Wie ich gezeigt habe, gibt es zwischen Babys und ADHS-Kindern hinsichtlich des Verhaltens und der mangelnden Gehirnreifung viele Ähnlichkeiten. Daher drängt sich die Frage auf, ob Kindern mit ADHS oder ADS durch Nachahmung der spontanen rhythmischen Bewegungen von Babys geholfen werden kann. Ein solches Bewegungstraining gibt es in Schweden seit mehr als 25 Jahren.

      Die rhythmischen Bewegungsübungen wurden (wie bereits berichtet) von Kerstin Linde entwickelt und basieren auf den natürlichen rhythmischen Bewegungen von Babys. Es handelt sich um aktive oder passive rhythmische Ganzkörperbewegungen; sie werden im Liegen, Sitzen oder auf allen Vieren durchgeführt. Passive Bewegungen können durch rhythmisches Drücken von den Füßen gegen den Körper des auf dem Rücken liegenden Kindes oder von den Hüften aus (– das Kind liegt dann in Fötalstellung) zum Kopf hin hervorgerufen werden. Liegt das Kind (oder auch der erwachsene Klient) auf dem Bauch, kann das Gesäß rhythmisch von einer Seite zur anderen hin- und herbewegt werden. In Rückenlage können die Beine aufeinander zu gerollt werden, sodass sich die Großzehen in der Mitte treffen. [Nähere Beschreibungen finden Sie am Ende des Buches, Seite 237 ff.]

      Diese Bewegungen kann das Kind (der Klient) auch aktiv durchführen. Auf dem Rücken liegend kann es mit gebeugten Knien rhythmisch drücken oder seine Beine hin- und herrollen, sodass sich die Großzehen in der Mitte treffen. Andere aktive Bewegungen sind etwa Schaukeln auf allen Vieren oder Krabbeln. Um eine Wirkung zu erzielen, sollten die Übungen täglich 10 bis 15 Minuten lang gemacht werden

      Ob aktiv oder passiv ausgeführt – diese Bewegungen sind für jedes Kind und jeden Klienten geeignet, wie eingeschränkt sie auch sein mögen. Sie sollten idealerweise ganz exakt gemacht werden. Bei schwerbehinderten Menschen ist das natürlich nicht möglich; in solchen Fällen ist es ein langfristiges Ziel, sie zu einer immer genaueren Durchführung zu befähigen.

      Man kann leicht beobachten, dass durch diese Bewegungen mehrere Sinne stark angeregt werden. Die Kopfbewegungen stimulieren den Gleichgewichtssinn. Das rhythmische Drücken entlang der Wirbelsäule, von den Füßen oder vom Gesäß aus, stimuliert die Tiefensensibilität in vielen Gelenken und in den Beckenorganen. Die rhythmischen Bewegungen stimulieren durch die Reibung zwischen